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Heinrich (2): Alles wird gutgehen
Ich kam früh von der Schule. Ausnahmsweise mal keine Verfolger unterwegs. Oma lag auf der Couch, hatte die Augen zu. Opa war ebenso wie Mama arbeiten. In der Küche war alles sauber. Mehr als sauber. Also erledigte ich meine Hausaufgaben. Sätze schreiben. In der Schule ist es schön. Die Blumen sind nicht alle gelb. Manchmal kann es regnen. Oma kam in die Küche und sah über meine Schulter.
»Das machst du gut, Heinrich.«
»Hat meine Lehrerin auch gesagt, Oma. Aber ich brauch das nicht. Ich kann schon alles schreiben.«
»Es ist Übung. Üben ist immer gut. Wer viel übt und fleißig ist, bringt es weiter als andere«, erklärte sie.
»Dann hat Papa aber nicht viel geübt.«
Die Kopfnuss traf mich unvorbereitet. Der Stift rutschte über das Blatt. Oma zog das Heft weg und riss die Seite heraus.
»So! Noch mal von vorne anfangen«, befahl sie.
»Ja, Oma«, murmelte ich kleinlaut und setzte den Stift aufs Papier. Dann fingen die Sirenen an zu heulen. Elf Uhr. Probealarm, erklärte Opa eines Tages, erst Fliegeralarm, dann ABC-Alarm, dann Entwarnung. Oma schob mich beiseite, stürzte unter den Küchentisch und kroch zur Eckbank. Sie hielt sich die Ohren zu und öffnete den Mund. Opa sagte, ich solle sie lassen und abwarten. Das ginge vorüber.
‚Hast du keine Angst, Opa?‘, wollte ich damals wissen und wunderte mich. ‚Ich war in Russland. Da hab ich die Angst vergessen‘, erklärte er vielsagend. Ich überlegte. Vor was hatte ich Angst? Spinnen. 'Vielleicht kann ich die Spinnenangst auch mal vergessen, Opa. Was meinst du?‘ Er lachte.
Als ich den Bleistift spitzte, verstummten die Sirenen. Ich krabbelte unter den Tisch und zog Oma hervor. »Ich hab Hunger, Oma. Was gibt es heute?«
Sie blickte durch mich hindurch. Vielleicht auf die Tür hinter mir oder noch weiter weg.
»Tut mir leid, Heinrich. Ich war einfach zu müde, um zu kochen. Soll ich dir ein paar Arme Ritter machen?«
»Ist gut, Oma.«
»He, Sohn vom dreckigen Fensterputzer«, johlten alle. Wie viel waren ‚alle‘ an diesem Tag? Ich weiß es nicht. Manchmal vier, dann wieder fünf Jungs. Größer und älter. Was sonst. Mit ihren Händen an meinen Füßen, an meinem Hals, dem Schlag in den Magen. Sie drehten mich auf den Bauch. Mir wurde schlecht. Die gelbe Pisse lief den Straßenrand entlang, nahm eine verdorrte Tannennadel mit sich, Staub, den Dreck des Sommers.
»Los! Leck das auf!«, befahlen die Stimmen. Tat ich nicht. Niemals! Wo sind die Erwachsenen? Die Frauen und Männer, die Omas und Opas, die hier wohnten. Auf einem anderen Planeten? Ein Knie im Rücken, Finger um meinen Nacken. Jetzt kam der Schmerz durch.
»Trink, du Sau!«
Ich war zu schwach, meinen Kopf oben zu halten. So wanderte mein Mund in den Rinnstein. Zu Dreck und gelber Pisse. Es gab keinen Ausweg. Ich gab auf und leckte. Leckte dieses ekelhafte Zeug. Mir war es egal. Ab jetzt. Es entsetzte sie.
»Der leckt ja wirklich!«
»Boah, die Sau!«
»Dreckiger Fensterputzersohn!«
Ich spürte tief in mir das Entstehen einer ungeheuerlichen Magmakammer. Das Licht der Welt erblickte ich in diesem Augenblick ein zweites Mal. Nicht die Welt der Siku-Autos, der sonntäglichen Spaziergänge, der saftigen Kirschen auf den Bäumen meines Onkels. Ich wurde in einer Welt aus Wut wiedergeboren. Es folgte ein Tritt an meine Schläfe. Fast verschwand das Licht um mich herum. Helles Pfeifen füllte meinen Kopf. Die Stimmen entfernten sich. Lachen. Johlen.
»Was ist passiert?«, wollte sie wissen und ließ das Wasser aus dem Steingutbecken ablaufen.
»Bin hingefallen.«
»Zeig mal deine Hände.«
Ich drehte die Handflächen nach oben. Dunkelblau angelaufene Striemen, kleinen Gräben gleich, an deren Enden steckte Split. Oma kratzte ihn mit dem Fingernagel raus. Das trieb mir die Tränen in die Augen. Aus einem Schrank holte sie ein braunes Fläschchen. Ich ahnte Unheil.
»Bitte nicht, Oma!«, flehte ich. »Es geht schon wieder.«
»Doch«, sagte sie harsch, fixierte eine Hand und kippte Jod drüber. Ich schrie auf. Schon folgte die nächste Hand. »Das muss sein. Wenn es sich entzündet, wird es viel schlimmer!«
Ich verstand es nicht. Was konnte schlimmer sein als Jod? Oder Pisse lecken?
»Jetzt ess dein Mittagessen. Dann mach deine Hausaufgaben.«
»Ja, Oma«, sagte ich und dachte darüber nach, wie ich eine Gabel oder den Stift halten sollte. Also aß ich mit den Fingern.
Samstag. Mama half Papa etwas zu putzen. Ein Büro oder so was. Sie waren einfach nicht da. Oma schickte mich nach draußen. Ich plünderte ihren Garten, zog ein paar Möhren aus der Erde, ein Kohlrabi, riss Petersilie ab und setzte mich neben die Stachelbeeren. Die Ameisen trugen emsig allerlei Fundsachen in ihren Bau. Etwas abseits kämpfte so ein Winzling mit einer Wespe. Niemand verprügelte ungestraft eine Ameise. Tat er es dennoch, fielen deren Freunde in Massen über den Störenfried her. Das gefiel mir.
Nach der ausgiebigen Mahlzeit zupfte ich noch zwei Handvoll der prächtigen Stachelbeeren und machte mich auf den Weg zu Markus. Er wohnte nur einige Minuten entfernt. Ein Klacks, wie mein Papa immer sagte. Aber dieser Klacks hatte es in sich. Mein Blick war stets wachsam. Jede Garageneinfahrt, jeder Busch im kleinen Park, überall konnten sie lauern. Die großen Jungs, denen so langweilig war, dass sie mich zu ihrem Spielzeug auserkoren. Das Glück war auf meiner Seite. Bei Markus angekommen, klingelte ich Sturm. Der Türöffner summte. Noch bevor ich im zweiten Stock ankam, hörte ich die Schreie seines Vaters. Wir würden wohl draußen spielen müssen. Vor der Wohnungstür stoppte ich und lugte durch den Spalt. Markus kleiner Bruder stand im Halbdunkel.
»Der ist auf Klo«, flüsterte er.
Ich nickte. Drinnen zerbrach Glas. Eine nicht minder laute Frauenstimme drohte, mit Kind und Kegel die Wohnung zu verlassen. Endgültig. Jemand rannte und stieß gegen etwas. Markus Bruder drückte sich an die Wand. Dunkelgrüne Tapete mit gelben Streifen. Mehr Löcher als Streifen. Dann hörte es sich an, als wäre der Teufel persönlich am Werk. Das Klatschen der Schläge versetzte mich in Panik. Markus tauchte auf und schob seinen Bruder durch die Tür.
»Wir müssen ihn mitnehmen, sonst ist er der nächste.«
Ich nickte und wir flohen in die warme Sommerluft. Hinaus ins wundervolle Licht unterm blauen Himmelszelt. Darauf hoffend, dass die großen Jungs nicht ebenfalls zum Spielplatz wollten.
»Endlich Feierabend«, seufzte sie und begrüßte uns. Opa und ich saßen vor dem Fernseher und blickten gespannt, wie Captain Kirk sich wohl aus dieser misslichen Lage befreite, in die er reingeraten war. Mamas Hand strich über meinen Kopf.
»Gehen wir nach unten, Heinrich?«
Ich wollte protestieren und lieber weiter meinen Sehnsuchtsort auf dem Bildschirm betrachten. Aber ihr Blick war leer, die Bewegungen langsam. Ihre Hand zitterte leicht. Sie sagte ‚Hilfe‘ und schwieg doch.
»Ist gut, Mama.«
Ich gab Opa einen Kuss. Er drehte sich nur halb, denn Spock tauchte auf.
»Ade, Opa. Bis morgen.«
»Ade, Heinrich. Gute Nacht.«
Wir gingen in den Keller. Einliegerwohnung. Küche, Schlafzimmer, Wohnzimmer in einem Raum. Gemütlich eng. Mama stellte Schwarzbrot auf den Tisch, ein paar Scheiben Käse, Gewürzgurken. Schweigend verstrich sie die Butter, stoppte und schaute mich an. Dann machte sie weiter. Schweigen senkte sich wie ein dunkler Theatervorhang auf uns herab. Die Luft wurde knapp. Ich dachte so viel. Konnte so wenig sagen.
»Kommt Papa nicht?«, platzte ich heraus.
Mama holte mit der Gabel eine Käsescheibe und legte sie vorsichtig auf das Brot.
»Mama?«
»Doch, doch«, nickte sie. »Bald … später.«
»Wo ist er denn? Noch arbeiten?«
Ich wusste, dass Mama nie log. Für sie waren Lügen das Allerschlimmste, das Menschen sich antun konnten. Ihr Blick veränderte sich. Das Leben kehrte zurück, als wir uns in die Augen sahen.
»Er ist trinken mit seinen Kumpels.«
Ich nickte und war froh, Mama zu haben. Sie war meine Insel im weiten Ozean.
»Mama? Darf ich was fragen?«
»Natürlich. Alles.«
Mein Mut verschwand. Kehrte zurück. Eine Gewürzgurke hin und her drehend, versuchte ich krampfhaft an Markus zu denken.
»Können wir Markus helfen?«
»Was ist mit Markus?«
Nun war es raus. Obwohl ich Markus versprochen hatte, nie etwas zu irgendjemandem zu sagen. Ich fing an zu weinen und erzählte. Gar nicht mehr aufhören konnte ich. Mama stand auf und setzte sich neben mich. Den ganzen Tag säße der Papa von Markus daheim, berichtete ich. Er schickte alle in den Keller zum Bier holen und Markus Mutter mit einem Schlag auf den Boden. Manchmal schaffte sie es nicht von der Küche ins Bad, kam nur bis in den dunklen Flur und setzte sich zum Weinen auf den Hocker. Wir kauften für sie ein. Der kleine Bruder, Robert, schlich lautlos durch die Wohnung, von einem dunklen Eck ins nächste. Wir müssen Markus helfen, sagte ich mit heiserer Stimme. Mama drückte mich.
»Wir werden es versuchen, Heinrich.«
»Wir zeigen an, dass da jemand schlägt. Also muss auch jemand kommen«, widersprach ich dem, was der Polizist von sich gab. Er lächelte gütig, dann schob er uns zur Tür hinaus. »Und jetzt?«, fragte ich zweifelnd; ich war mir unklar, ob Erwachsene wussten, was sie redeten und taten.
»Wir gehen zu Markus' Mama«, sagte sie mit fester Stimme. Mir rutschte das Herz in die Hose. Das Versprechen gebrochen und nun wird alles rauskommen. Schon wieder schlich sich das Bauchweh an mich heran. Sie trug mir auf, herauszufinden, ob Markus' Mama an irgendeinem Tag in der Woche etwas unternahm. Das war nicht schwer. Einmal im Monat ging sie samstags zum Friseur. Dahin nahm sie Markus und Robert mit, spendierte ein Eis oder fuhr in den Wildpark. Mama sagte: Finde heraus, wann dieser Samstag ist, indem du fragst, ob du mitgehen kannst. Dieser Samstag kam, und ich durfte mit.
An diesem Tag wartete Mama im Park, folgte uns, und als wir die Wildschweine fütterten, Markus‘ Mutter auf der Bank saß und rauchte, setzte sich Mama neben sie. Wir drei drehten uns um, die grunzenden Schweine im Rücken. Sie drückten ihre Steckdosennasen gegen unsere T-Shirts. Ich blickte auf den Boden. Wollte gar nicht wissen, was Markus jetzt dachte. Aber es gab keinen Ärger, keine Wut. Mama sprach unentwegt, umarmte Markus‘ Mutter und die begann zu weinen. Ich sah kurz zu den Schweinen und staunte. Warum starren die uns alle an?
»Hose runter«, befahl der Größte.
Ich schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall. Sie fackelten nicht lange, hielten mir den Mund zu, zogen meine Hose und Unterhose runter und drückten mich bäuchlings auf den Boden. Es wurde ruhig. Sie flüsterten. Kicherten. Ich dachte selten an Gott. Aber jetzt passierte es. Oma beteuerte, schwor, dass es ihn gab, betete neben mir am Bett, wenn das Fieber mich schüttelte. Er hatte wohl gerade auf der anderen Seite der Welt zu tun als jemand ein raues, hartes Etwas in meinen Hintern schob. Ich presste einen Schrei in die Hand vor meinem Mund und klemmte die Backen so fest zusammen, wie ich nur konnte. Aber es tat um so mehr weh. Dann kam vielleicht doch Gott, denn eine samtene Nacht legte sich über mich.
So erwachte ich. Auf dem Bauch. Alleine in diesem Haselnussbusch. Jede kleinste Bewegung versetzte mir einen schmerzenden Stich am Hintern. Ich begriff, dass dort noch etwas steckte. Langsam tastete ich die Stelle ab. Ein Zweig. Mir wurde so schlecht, dass ich mich erbrach und vielleicht war dies auch mein Glück, denn jedes Mal, wenn es mir hochkam, konnte ich den Zweig ein Stück herausziehen. Als ich ihn draußen hatte, wunderte ich mich, wie dünn er war. Wie mein kleiner Finger. Der Schmerz fiel mir ein und dass ich etwas viel Größeres vermutete. Sitzen ging nicht. Es blutete ein bisschen. Ich bekam Panik, zog mir die Hosen hoch und stolperte nach Hause.
Daheim setzte ich mich auf die Toilette, sagte immer wieder laut ‚Aua‘ und drückte ausgiebig auf die Klosettspülung. Oma kam herein.
»Oma, das hat so weh getan. Der war ganz hart«, log ich.
»Wie lange warst du schon nicht mehr auf Klo?«
»Ich weiß nicht.«
Meine Wangen glühten.
»Du hast Verstopfung. Ich geb dir Milchzucker.«
»Ich glaube, es blutet ein bisschen«, sagte ich leise.
»Zeig.«
Oma bog mich nach vorne und drückte meinen Hintern in alle Richtungen.
»Ja. Ein bisschen. Wasch dir den Po in der Wanne mit warmem Wasser. Dann mach ich dir Hametum-Salbe drauf.«
Ich nickte und fühlte eine tiefe Wut aufsteigen. In meinem Kopf gab es das Bild dieses Vulkans. Mama hatte von ihm erzählt. Vesuv, hieß er. Und er hatte auf einen Schlag eine ganze Stadt ausgelöscht. Ich wollte dieser Vesuv sein.
»Gehen wir zusammen nach Hause?«, fragte ich ihn nach der Schule, obwohl sein Weg ein anderer war. Er nickte. Fünfzehn Minuten Schweigen. Die Sonne verdampfte den Regen der Nacht. Die Pfützen trockneten langsam und die Vögel badeten ausgiebig darin. Markus sagte nichts. Wir erreichten die Kreuzung. Er musste nach links, ich nach rechts. Dann hörte ich deutlich schnelle Schritte, Johlen, Schreie.
»He! Dreckiger Fensterputzer!« Dieses Mal waren es sechs.
»Lauf!«, rief ich und schubste Markus weg. Aber er blieb einfach stehen und starrte den Berg hinauf, der heranrückenden Meute entgegen. Meine Beine wollten fliehen. Aber ich blieb stehen.
»Markus …«, dann waren sie heran, umkreisten uns wie die Geier, zogen ihre Gürtel aus den Hosen. Je zwei hielten uns fest. Mit den Gürteln peitschten sie uns. Die Schnallen zogen Striemen auf unseren Gesichtern. Wir pressten Augen und Lippen zu. Es brannte wie verrückt. Ich roch Blut. Dann ein ‚Achtung!‘ und die Tortur stoppte. Sie ließen von uns ab, schubsten uns zu Boden. Von der Seite sah ich laut fluchend Oma kommen. Sie rannte. So gut es eben ging in ihrem Alter und mit den steifen Schuhen. Die sechs Jungs ließen sich nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Oma wurde umkreist, rennend.
»Alte Schachtel!«, riefen sie. »Komm doch!«
Wir standen auf und ich fühlte den Vulkan, die aufsteigende Magma. Wenn sie noch im Vulkan ist, heißt sie Magma, sagte Mama, denn dann weiß keiner von ihr. Sie ist unsichtbar. Erst wenn sie hervorbricht, wird es Lava. Meine Wut war unbeschreiblich. Ungeheuerlich. Ich bekam Angst vor mir selbst und stürmte in die Runde der Sechs. Entgegen ihrer Laufrichtung. Der Aufprall warf einen um. Gegen den nächsten sprang ich und schlug ihm mit all der ausbrechenden Lava die Brille auf dem Gesicht entzwei. Splitter drückten sich in meine Hand und seine Haut, in Wange, Stirn, Nase. Er schrie und fiel auf die Knie. Ich vergaß mich. Vier blieben übrig. Starrten. Standen wie angewurzelt. Mein Schuh landete im Magen eines weiteren.
»Heinrich!«
Oma zog mich am Kragen zurück. Ich tobte. Markus Blick traf mich. Er rannte auf mich zu und umarmte Oma und mich. Seine Tränen liefen über mein Gesicht. All die Lava war verdampft. In meiner Hand steckten zwei Scherben. Das Blut tropfte auf die Straße. Niemand sagte etwas.
»Tut es noch weh?«
Es tat verflixt weh. Ich schüttelte den Kopf.
»Tut nicht weh«, sagte ich.
»Richtig so«, freute sich Papa.
Mama zog mich ins Bad und rieb die Wunden mit einer Salbe ein.
»Heinrich …« Sie setzte sich auf den Toilettendeckel und stellte mich vor sich. »Ich möchte das nicht noch mal erleben. Ich habe Angst um dich. Verstehst du das?«
Nein. Aber ich nickte.
»Du bist erst acht Jahre, aber schon ziemlich kräftig. So stark …«, sie kniff in meinen Oberarm, »du kannst ganz leicht jemandem sehr weh tun.«
»Sie haben mir weh getan. Und Markus …« Oma fiel mir ein. »Und sie haben Oma ausgelacht!«
»Ja«, nickte Mama, »das haben sie und bestimmt ist da noch viel mehr passiert, von dem ich nichts weiß. Oder?«
Ich wurde rot. Ihr Blick war Antwort genug.
»Beim nächsten Mal kommst du gleich zu mir. Und ich werde mit dir zu den Eltern der anderen Kinder gehen.«
»Mama …«, ich dachte an Markus. »Markus und Robert sind aber wieder daheim. Da sind wir auch hingegangen und jetzt ist es viel schlimmer als vorher.«
Sie senkte den Kopf, vielleicht sah sie meine dreckigen Socken ... oder sie wusste keine Antwort. Mein Herz pochte heftig. Als sie mich wieder anblickte, waren eine Menge Tränen in ihren Augen und rollten über die Sommersprossen in ihrem Gesicht.
»Ich weiß, Heinrich. Ich weiß.«
Sie presste mich an sich. Wir hielten uns fest.
»Hallo! Toll! Können wir spielen?«
Sie sagten nichts. Beide zusammen waren noch nie zu Besuch gekommen, und Markus nur ein paar Mal, weil sein Vater ihn nicht zu anderen Leuten lassen wollte. Als ich darüber nachdachte, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Mama kam die Treppe hoch.
»Was ist? Wer ist es denn?«
Sie entdeckte die beiden und lächelte.
»Das ist aber schön. Kommt mit. Ich mache euch einen Kakao.«
Sie drehte und ging runter. Markus und Robert folgten schweigend. Ein dicker Kloß wuchs in meinem Hals. Als wir am Tisch saßen, musterte Mama unsere Gesichter. Die Tassen blieben unberührt. Kleine Pulverinseln drehten sich auf der Milch.
»Was ist los, Markus? Du kannst alles erzählen, das weißt du.«
»Wir ziehen weg«, sagte er unvermittelt. Mitten hinein in mein Herz. Ich erstarrte. Mama ließ sich nichts anmerken. Ihr Lächeln war wie eine Sonne über kaltem Nebel.
»In eine andere Stadt?«, hakte sie nach.
Markus nickte.
»Nach Bochum, sagt Papa. Dort gibt es Arbeit. Dann wird alles besser.«
»Und wann zieht ihr um?« Mama war unermüdlich. Ich wollte das gar nicht wissen und trank einen Schluck Kakao.
»Am ersten Ferientag«, sagte Markus.
»Wo ist Bochum?«, fragte Robert.
»Das ist im Ruhrgebiet. Man muss etwa vier Stunden mit dem Auto fahren«, wusste Mama. Ich stand auf und ging raus in den Garten, setzte mich auf die Wiese und zerdrückte Gänseblümchen. Ich fühlte die Wut kommen. Warum? Ich wusste es nicht. Mama kam, Markus und Robert an der Hand. Sie setzten sich mir gegenüber. Nichts geschah. Die Sonne wanderte langsam um das Haus. Der Schatten erreichte uns. Einen nach dem anderen. Ich wünschte mir, der Boden möge sich unter mir auftun. Vielleicht gab es dort unten eine andere Welt. Aber Mama zog uns alle an sich heran, umarmte uns wie eine Schlingpflanze den Jägerzaun meines Onkels. Jeder bekam einen Kuss auf die Stirn.
»Alles wird gutgehen«, flüsterte sie.