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Serie Heinrich (3): Wir werden Glück haben

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10.02.2000
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Heinrich (3): Wir werden Glück haben

»Rudolf, können wir nicht nach Hause gehen?«
Mama zog mich auf die Seite. Eine Frau mit ganz dickem Bauch und Kinderwagen drückte sich an uns vorbei. Papa blieb einfach stehen. Seinen Eimer in der rechten Hand, mit dem Leder und den zwei Fensterwischern darin. Eine Zigarette im Mund. Peter Stuyvesant. Er hörte vielleicht nicht, was Mutter sagte. Der O-Bus stoppte mit singendem Motor an der Haltestelle. Ein Mann lief über die Straße und ein Taxi hupte. Der Fahrer wedelte mit den Armen.
»Heute ist Samstag«, sagte Mama, »da könnten wir doch in den Wildpark gehen.«
Papa schüttelte den Kopf.
»Ich komme bald nach. Emil hat heute Geburtstag und ich hab versprochen, dass ich vorbeikomme. Er gibt einen aus. Spätestens um fünf bin ich daheim.«
»Deinen Sohn siehst du gar nicht mehr«, warf Mama ein. Ich erkannte den Ton in ihrer Stimme. Es wird ihr letzter Satz sein. In Papas Augen blitzte es auf.
»Ich kann ihn ja mitnehmen, Hilda! Wie findest du das? Dann lernen ihn die anderen auch mal kennen.«
Der Bus setzte die Fahrt fort und die ausgestiegenen Menschen verteilten sich, gingen in den Tchibo, hinüber in den Oberpaur, kauften sich eine Zeitung am Kiosk. Von Mutter kam nichts mehr, aber sie ließ meine Hand los und Papa streckte mir seine entgegen.
»Komm, Heinrich. Jetzt lernst du mal alle kennen!«
Ich nickte und dachte an wegrennen, an ein Nein. Er griff nach meinen Fingern und mit einem Ruck ging es los. Mama lächelte mir zu und verschwand zwischen den vielen Gesichtern der Stadt. Ich spürte ein unsichtbares Gummi, das mich mit Mutters Lächeln verband, mich zurück zog. Umso stärker, je weiter wir uns entfernten. Bis ich Bauchweh bekam.
»Wir sind gleich da«, sagte Papa, bog um eine Hausecke in eine kleine Gasse mit schmalen Bürgersteigen und gepflasterter Straße. Zigarettenkippen, Papier, ein alter Schuh im Rinnstein. Er stoppte auf der Hälfte. Weiter hinten wurde die Gasse dunkler. Neben einigen Mülleimern stritten sich zwei Katzen.
»Du kannst doch schon lesen«, meinte er, »was steht da oben über der Tür?«
Ich schaute nach oben. Da hing ein dreckiger Kasten nicht mehr ganz an der Wand. Aus seiner Seite ragte ein Kabel. Im Kasten leuchteten drei Birnen, eine vierte flackerte. Es dauerte, bis ich das Wort erfassen konnte, denn es war mir gänzlich unbekannt.
»Mmm-ooo-kkaa-sch-tu-bee. Mokkastube.«
»Sehr gut«, lobte Papa mich. »Nichts wie rein.«
Er öffnete die gelbe Glastür.

~~~​

Ich betrat eine Welt aus Qualm, lauten Rufen, Lachen, Schweiß und anderen Gerüchen, von denen ich weder eine Ahnung hatte noch je haben wollte. Papa zog mich fester, denn alles in mir sträubte sich, diesen kleinen Raum zu betreten.
»Rudolf!«, schrie jemand.
»Emil, alter Haudegen! Wie isset? Hat dich deine Alte gehen lassen?!«, rief Papa zurück und war schon bei den vielen Männern, die an einem hohen Tisch standen. Wie angewachsen stand ich still. Die Tür noch offen.
»He! Kleiner! Mach die Tür zu«, forderte mich ein Mann auf, der rechts am Tisch saß. Ich tat, was er mir auftrug. »Komm her, Kleiner«, sagte er und winkte mich zu sich. Aber ich blieb stehen.
»He, Rudolf! Dein Kleiner ist aber ein Angsthase«, lachte er zu Papa gedreht. Der kam her und nahm mich auf den Arm.
»Ist schon richtig so«, erklärte Papa ihm. »Bei all den Verrückten die so rumlaufen …«
»Ja, hast ja recht, Rudolf …«
Wir gingen zu einer bunten Maschine an der Wand. Drei Schreiben drehten sich immer wieder und es piepte, blinkte und ratterte.
»Das ist ein Rotomat«, meinte Papa und setzte mich auf den Stuhl neben diesem Gerät. Er blieb davor stehen. »Weißt du, was der macht?«
»Nein. Was macht der denn?«
»Erst hol ich mal was zu trinken. Was willst du?«
»Apfelsaft?«
Er ging an diesen hohen Tisch, stellte sich zwischen die Anderen und zündete sich eine Zigarette an. Papa lachte, redete, drehte sich zu jedem, klopfte mit den Händen auf das Holz. Der Mann hinter dem Tisch füllte etwas in ein Glas und brachte es zum Tisch, an dem ich saß.
»Na, kleiner Mann? Du bist der Heinrich, was?«
Ich nickte.
»Ich bin der Dragan. Wenn du was brauchst, rufst du mich.«
Sein Gesicht war freundlich, aber ich konnte nicht lange in diese dunklen Augen blicken. Es war wie der Gang in den schwärzesten Kohlenkeller. Ich entdeckte nichts dahinter. Plötzlich musste ich pinkeln.
»Ich muss aufs Klo«, sagte ich.
Dragan zeigte mir die Toilette. Als sich die Tür hinter mir schloss, kroch ein beißender Geruch in meine Nase. Ich ging vorsichtig um die Ecke. Im Rinnstein vor mir lag ein Mann. Seine Hose war nass, ein gelber Bach floss in ein Bodenloch. Der Mann hatte gebrochen. Er sagte nichts, hatte die Augen zu. Nur der Gestank und die Stille. Panik kroch in meinen Nacken, die Haare stellten sich auf. Schnell verließ ich die Toilette und rannte zu Papa.

~~~​

Dragan zog den Mann am Kragen gepackt aus der Toilette, quer durch den Raum und legte ihn vor der Tür auf dem Bürgersteig ab. Die Männer lachten, ich saß am Tisch und lauschte dem Klicken der bunten Maschine. Ab und zu trank ich einen kleinen Schluck Apfelsaft und dachte an den Mann. Hoffentlich war er nicht tot. Papa stand am hohen Tisch, redete, lachte und trank ein Bier nach dem anderen. Als mein Glas leer war, kam er her.
»Heinrich, wir sehen mal, was der Rotomat macht.«
»Was macht er denn?«, wollte ich wissen.
Er holte eine Menge Kleingeld aus seiner Hosentasche.
»Er schluckt Geld«, sagte Papa.
»Und wohin geht das Geld?«
»Sehr gute Frage.« Mit dem Finger deutete er auf die Seite der Maschine. »Hier drin ist ein Kasten. Die Leute schmeißen Geld rein. Wieder und wieder«, erklärte er und tippte auf das Metall. Es klang dumpf. »Wenn nichts drin ist im Kasten, macht es ‚Klack!‘. Wenn der Behälter für das Geld aber voll ist, macht es ‚Klick‘. Verstehst du? Klack bedeutet leer, Klick bedeutet voll.«
Ich nickte. Klack ist leer, Klick ist voll.
»Wenn es Klick macht, dann spielen wir. Denn dann muss er eine Serie bringen.«
»Eine Serie? Was ist eine Serie?«
Sein Gesicht hellte sich auf. Offenbar freute er sich über die Frage.
»Das ist mein Sohn. Immer neugierig. Also …«, er nahm mich auf den Arm und wir stellten uns direkt vor die Scheiben. »Hier oben in den drei Löchern müssen drei gleiche Sachen kommen, ein Clown etwa. Solange sich die Scheiben drehen, kann man hier unten die Scheiben weiterdrehen. Wenn es keine drei Gleiche sind, dreht man weiter. Alles klar?«
»Ja«, sagte ich vorsichtshalber und überlegte, was das mit dem Drehen war.
»Aber der Trick ist, nicht weiterzudrehen, wenn er voll ist«, flüsterte er in mein Ohr. »Dann bringt er die Serie schneller.«
Ich ahnte, dass dies sein Geheimnis war und er es nun mit mir teilte.
»Was passiert dann?«, fragte ich. Wieder flüsterte er.
»Dann können wir unseren Pullover drunter halten und gewinnen.«
Ich machte große Augen. Gewinnen hörte sich gut an.
»Was kann man denn gewinnen?«
Er setzte mich auf den Stuhl.
»Na, Geld natürlich.«
Eine Maschine mit Geld drin. Ich dachte nach.
»Aber wie kommt das Geld da rein?«
Papa seufzte.
»Dummerchen. Wir müssen es da reinwerfen. Sonst spielt die Maschine nicht. Aber deswegen warten wir ja, bis es Klick macht, denn das ganze Geld haben die anderen da reingeworfen. Und wir holen es raus.«
Papa zwinkerte mir zu und strahlte bis über beide Ohren. Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und warf drei Groschen in den Rotomat.
»Willst du noch was trinken?«
Ich nickte.

~~~​

»Emil, du altes Arschloch», schrie jemand. Ich konnte das Rattern und Piepen nicht mehr hören. Schnell drehte ich mich um. Ein Glas klirrte, noch eins. Zwischen den Männern wurde es unruhig.
»Das sagst du nicht noch mal«, erwiderte einer. Vielleicht dieser Emil.
Ich sah Papa, der zwei Schritte zurücktrat und einem Glas auswich, das in meine Richtung flog und unter der bunten Maschine zerschellte. Schnell stand ich auf und verkroch mich zwischen Wand und Tisch.
»He! Du hättest fast meinen Sohn getroffen!«, brüllte Papa und schubste einen Mann gegen den hohen Tisch. Der holte aus und schlug zu. Aber viel zu langsam für Papa, der sich wegduckte. Dragan kam hervorgerannt und versetzte dem Mann einen kräftigen Schlag ans Kinn. Er fiel wie ein Baum zwischen Stühle und Tisch. Ein Aschenbecher rutschte runter, zwei Gläser, die Männer johlten. Dragan hob den Mann auf und setzte ihn auf einen Stuhl im Eck. Dann ging er wieder hinter den hohen Tisch. Papa kam her.
»Alles in Ordnung?«
Ich sagte nichts. Mir fiel einfach nichts ein. Sogar meine Blase hatte ich vergessen. Er zog mich hoch und wir stellten uns vor den Rotomat.
»Papa?«
»Hm?«
»Können wir nach Hause?«
Er warf drei Groschen in die Maschine.
»Klar, gleich. Wart’s ab. Bald kommt die Serie. Wir werden Glück haben, wirst schon sehen.«
Ich versuchte, das Klick zu hören, dann gingen wir nach vorne zum hohen Tisch. Er setzte mich mitten drauf, zwischen Biergläser und ganz kleinen Gläsern. Dragan kippte immer wieder etwas aus einer Flasche hinein.
»Was ist da drin«, fragte ich Papa und deutete auf ein kleines Glas.
»Schnaps«, antwortete er.
»Schmeckt das?«
»Uns schmeckt es«, rief der Mann neben uns. »Nicht wahr, Rudolf?«
»Und wie«, bestätigte Papa.
»Ich möchte mal probieren«, sagte ich. Um mich herum wurde es stiller. Die Männer sahen mich an, dann Papa.
»Alkohol ist nichts für Kinder«, erklärte Dragan mit lauter Stimme.
»Bitte! Nur einmal«, drängelte ich. »Bitte!«
Papa verzog den Mund.
»Na gut. Ein halbes Gläschen aber nur. Du musst es gleich schlucken. Verstanden?«
Ich nickte. In meinem Bauch kribbelte es plötzlich. Dragan schüttelte den Kopf, die anderen Männer starrten gebannt auf mich. Papa trank seines halb leer und reicht es mir.
»Hier. Trinken und schlucken.«
Ich nahm das Gläschen, trank, schluckte und sofort sprang mich ein Feuerdrachen an, riss an meiner Kehle, entzündete alle Flammen, die er nur finden konnte. Es schüttelte mich fast vom hohen Tisch runter. Papa fing mich auf. Ich bekam nicht mal Luft. Jeder Atemzug war wie noch ein Schluck von diesem fürchterlichen Zeug. In meinem Bauch explodierten Sonnen oder flogen ganze Bienenschwärme hin und her. Dann übergab ich mich mit enormer Gewalt. Die Männer sprangen zurück und Papa hielt mich weit von sich. Ich kotzte und zappelte in der Luft mit beiden Beinen, wusste nicht, wie mir geschah. Wollte einfach nicht mehr sein. Auf der Stelle verschwinden, laufen, weinen. Mama kam mir in den Sinn.

~~~​

Papa saß neben mir. Ich lag auf einem Holzbett. Mir kam es vor, als hätte ich geschlafen.
»Mein Bauch tut so weh«, stöhnte ich. Papa tupfte meine Stirn mit einem nassen Handtuch.
»Du hast ein paar Minuten geschlafen«, sagte er. Seine Stimme zitterte.
Die Tür ging auf und Dragan kam herein mit einem Glas Cola und zwei Schreiben Brot.
»Hier, Rudolf. Er soll Brot essen. Saugt den Alkohol auf. Dann gib ihm Cola. Beruhigt den Magen.«
Ich lauschte, was Papa und Dragan sagten, folgte dabei ihren Lippen. Sie bewegten sich nicht zu den Worten. Ich erinnerte mich an die Badewanne daheim. Kopf unter Wasser. Dunkel und langsam hörte ich Mutter sprechen. Wie das Wasser über mir, so brach die Angst herein.
»Muss ich ins Krankenhaus, Papa?«, fragte ich leise, hörte mich aber nur undeutlich sprechen. Meine Hand hob sich, die Finger griffen nach Vaters Ärmel, zogen daran.
»Was hast du gesagt, Heinrich?«
Ich schloss die Augen, weil mich etwas dazu zwang. Schlafen.

Als ich erwachte, drückte ich mich schnell hoch. Eine Hand griff unter meinen Kopf und schob einen Eimer vor mich. Ich übergab mich hinein. Es wollte gar nicht mehr enden. Dann kamen auch noch Tränen, sie tropften auf das grüne Zeug. Hustend versuchte ich etwas zu sagen, aber eine Hand streichelte meinen Nacken, meinen Rücken. Jemand sang leise ein Lied.
»Mama?«, fragte ich in den Eimer hinein und drückte ihn weg.
»Nein«, sagte die Stimme. »Ich bin Ivona. Sieh mich an.«
Mein Blick klärte sich. Sie stellte den Eimer beiseite und wischte mit einem feuchten Lappen über mein Gesicht. Ihre Augen waren grün, der Mund feuerrot, dunkle Haare. Ihr Lächeln erinnerte mich an eine freundliche Figur aus Bambi.
»Was haben sie nur mit dir gemacht, diese Idioten?«
Ich verstand, dass es keine Frage an mich war. Ihr Blick ging durch mich hindurch. Dann kehrte sie zurück und fixierte mich streng.
»Warum hast du das nur getrunken?«
Ich zuckte mit den Schultern
»Papa trinkt das auch immer. Er muss sich nicht übergeben.«
Ivona schüttelte langsam den Kopf.
»Dein Papa ist ein erwachsener Mann. Der kennt den Schnaps. Für dich ist das Gift«, sagte sie eindringlich und packte meine Oberarme. »Verstehst du?«
Das Wort Gift stach mitten in meinen Kopf. Gift. Musste ich jetzt sterben?
»Muss ich sterben?«
Sie blickte überrascht, dann zog sie mich an sich und drückte fest zu.
»Nein, mein Kleiner. Du hast ja alles ausgespuckt. Aber mach das nie wieder!«
Sie roch wie Mamas frisch gewaschene Wäsche. Ihre Wange war weich und warm. Ich mochte sie und schlang die Arme um Ivona.
»Wo ist Papa?«, fragte ich leise.
»Komm.«

~~~​

Papa sang ein Lied. Zusammen mit allen anderen. Der Raum war voller Qualm. Ich bekam kaum Luft und es erinnerte mich an neblige Tage, wenn draußen die Blätter gelb wurden. Ivona setzte mich neben den Rotomat. Die Scheiben drehten sich unentwegt, machten eine Pause, fingen von vorne an.
»Möchtest du mal was einwerfen?«, fragte sie mich und zog ein paar Groschen aus der Tasche. Ich nickte. Sie hob mich hoch.
»Alle?«, wollte ich wissen.
Ivona nickte.
»Mach ruhig. Wir werden Glück haben, so süß, wie du bist«, grinste sie.
Also warf ich alle Groschen hinein. Die letzte Münze fiel in den Schlitz und ich konnte gleich danach das Klick hören. Mein Herz begann zu rasen. Wir beobachteten zusammen die Scheiben, die umlaufenden Lichter. Ivona gab mir einen Kuss auf die Backe und drückte mich fest an sich. Dann stoppte ein Clown, der zweite und ich vergaß das Geschrei und den Gesang hinter mir, vergaß meinen schmerzenden Bauch. Da gab es nur noch die Scheibe. Sie blieb stehen. Der dritte Clown. Alles blinkte. Die Maschine dudelte ein Lied, Ivona jauchzte. Dann klackerte es auf Höhe meiner Knie. Unmengen von Kleingeld landeten von irgendwoher in der Schale, dann quoll sie über und die Groschen, Fünfziger und Markstücke fielen auf den Boden. Ivona fing an, sich mit mir im Kreis zu drehen. Sie sang ein Lied, das ich nicht verstand. Ich sah Papa kommen. Er schwankte und schob Stühle weg, die gar nicht im Weg standen.
»Heinrich!«, schrie er. »Das ist mein Sohn!«
Er riss mich von Ivona weg zu sich. Sein Atem stank wie das grüne Zeug im Eimer und mir wurde wieder ein bisschen schlecht. Schnell entwand ich mich seinem Griff und landete auf dem Boden, unter meinen Schuhen die Münzen. Ivona kniete sich und legte alle sorgfältig auf ein Taschentuch.
»Heinrich! Wir haben gewonnen!«, rief Papa und setzte sich neben uns auf den Boden, den Kopf an die Wand gelehnt.
»Aber Papa, das war Ivonas Geld«, erwiderte ich.
»Ivonas Geld?«, stutzte er.
»Ivona hat mir die Groschen gegeben und dann hat es Klick gemacht«, erklärte ich ihm, stolz, das alles begriffen zu haben wie ein Erwachsener.
»Na dann …«
Er schwieg und schaute auf irgendeinen Punkt vor sich. Ivona hob mich hoch. Wir holten alle Münzen aus der Schale und legten sie auf den Tisch.
»Immer einen Groschen für dich, einen für mich. Einverstanden?«, fragte sie.
Ich nickte.

So machten wir es mit den Fünfzigern und den Markstücken. Ich konnte schon bis zehn Mark zählen. Ivona sagte, ich solle einfach noch mal zehn Mark zählen, solange, bis alles weg sei. Dragan stellte eine Tasse Fencheltee auf den Tisch und ich zählte wie selbstvergessen all die Münzen. Papa schnarchte mit offenem Mund. Ein kleiner Speichelfaden verfing sich im Bart. Dann schrieb Ivona die Zahl auf einen Zettel. Wir besaßen beide 36 Mark und 70 Pfennig. Mein Gesicht glühte. Mama würde stolz sein auf mich. Mit der Hand streichelte ich über Papas Haare.
»Papa?«
Er hörte nichts. Dragan kam zu uns und hob ihn hoch, als wäre er ein Bleistift. Über die Schulter gelegt, trug er ihn vor die Tür und Ivona schob mich hinterher.
»Dragan hat ein Taxi gerufen«, sagte sie. »Das bringt euch nach Hause.«
Der Fahrer drückte Papa durch die Tür auf die Rückbank. Wie ein nasser Lumpen fiel er um und war nicht wach zu kriegen.
»Du darfst nicht vorne sitzen«, sagte der Taxifahrer, »aber geht nicht anders. Wenn ich sage ‚runter‘, dann kriechst du vom Sitz da unten rein.« Er deutete auf den Boden vor dem Sitz. Ich nickte. Ivona gab mir einen langen Kuss auf die Wange, schlug die Tür zu und wir machten uns auf den Weg. Jetzt erst sah ich, dass es schon völlig dunkel war. Mama wird schimpfen, dachte ich und hielt das Taschentuch mit dem Geld fest an mich gepresst. Ich vergaß Mama, die Mokkastube, den Qualm, den Schnaps, denn ich hatte gewonnen und war glücklich.

 

Hallo @Morphin,

ich stelle immer wieder fest: du bist ein guter Erzähler von Alltagsgeschichten.
Und ich mag dir gerne zuhören bzw. es lesen.

Mir gefällt, dass du fast schon schnörkellos einfach die Kamera draufhältst und man mitgucken kann.

Trotzdem hab ich hie und da noch ein paar Veränderungsvorschläge zu unterbreiten:


»Wir sind gleich da«, sagte Papa, bog um e
Genau ab hier würde ich die Geschichte beginnen lassen. Klar, du möchtest unbedingt, dass da noch vorher die Mutter mit ihm Spiel ist. Aber ich finde, das verwirrt nur, denn ganz offensichtlich begeht sie einen großen Fehler, Heinrich mit dem Vater mitgehen zu lassen. Es ist schon wüst genug, was dem Kind widerfährt mit dem Vater, das muss für diese Geschichte reichen und tut es auch.
Zudem empfinde ich den Anfang, also alles, was du vor "Wir sind gleich da" geschrieben hast, etwas zähflüssig. Da fehlt mir eindeutig der von dir gewohnte Erzählton. Also ein Grund mehr, hier zu beginnen und das Davor wegzulassen.
»Was macht er denn?«, wollte ich wissen.
Würde ich weglassen.
Papa zwinkerte mir zu und strahlte bis über beide Ohren. Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und warf drei Groschen in den Rotomat.
»Willst du noch was trinken?«
Hier fehlt mir noch ein Hinweis auf den Klick. Der Vater hat ja gerade darauf deutlich hingewiesen. Sicherlich hat Heinrich ganz akribisch zugehört und darauf geachtet. Oder aber, der Vater hat so unvermittelt die Groschen in den Rotomat geworfen, dass Heinrich gar nicht die Gelegenheit hatte, das Geräusch zu ermitteln.

entzündete alle Flammen die er nur finden konnte.
Ich würde vor "die" ein Komma setzen
dann zog sie mich an sich und drückte fest zu.
Nee, also festzudrücken macht man nur, wenn man jemanden würgt. Wie wäre es einfach nur mit "... und drückte mich"?
Er nahm mich Ivona ab.
Grammatikalisch richtig, klingt aber so unmeldodisch. Vielleicht "Er zog mich auf seine Arme, an seine Brust..."
Papas Kopf lag auf dem Stuhl.
Zu ungenau. Normalerweise legt man seinen Kopf ja etwas höher ab. Wie muss ich mir das also vorstellen? Befand sich der Vater so seitlich weggekippt mit dem Kopf auf einer Stuhlfläche? Oder hing er über die Rückenlehne?
Ich hatte Glück.
Nein, genau diesen Satz würde ich völlig streichen. Heinrich hatte ja kein Glück. Vorher erfährt man ja schon, dass er glaubt, seine Mutter würde sich über seinen Gewinn freuen.


Ich hatte übrigens damit gerechnet, dass der Vater noch enttäuschter wegen des Gewinns, den er nicht gemacht hat, ist und vielleicht irgend etwas Ungerechtes zum Sohn sagt. Ich hatte auch damit gerechnet, dass der Sohn am Ende die Taxenfahrt bezahlen muss, so dass von seinem Gewinn dann nur noch ein Bruchteil übrig bleibt.
So eine letzte Szene am Schluss, wonach der Taxifahrer den Vater wecken muss, von ihm Geld verlangt und der unwirsch vielleicht lallt, dass er ja das Taxi gar nicht bestellt hat oder so und dann auch nicht zahlen muss. Der Sohn ist ganz stolz, dass er eigenes Geld hat und sagt es dem Taxifahrer und bezahlt dann wie ein Großer. Der Vater bekommt das entweder nicht mit oder aber beschimpft den Sohn vielleicht noch dafür, weil er so dämlich ist, seinen Gewinn zu verschenken oder so.
Ich finde, diese Wendung könnte man dem Vater durchaus zutrauen.
Du schreibst ja keine Autobiografie, sondern dies ist eine Geschichte.

Fröhlichen Sonntag
und liebe Grüße

lakita

 

Moin @lakita,

um ehrlich zu sein: es ist Autobiographie. Aber natürlich auch Geschichte. Ich würde also lügen, wäre es anders gewesen. Und jetzt erst mal ein sonntägliches Dankeschön fürs Lesen und Kommentieren.

Ich erinnere mich, dass ich sehr sehr oft in dieser Mokkastube war, in der Hafnergasse. Ich habe sogar noch einige Namen derjenigen im Kopf, die ebenfalls dort täglich auftankten. Was das mit dem Glück angeht am Schluss des Textes, ja, da werde ich es noch präzisieren. Glück ist zu wenig bzw. etwas anderes als das, was ich fühlte und dachte.

Mit dem "fest drücken" von Kindern ... ich kenne das von meiner Tante. Sie drückte so fest zu, dass ich kaum Luft bekam. Eine Unart, ein Impuls, der sich oft bei Erwachsenen findet. Hab ich auch bei meinen Kindern beobachtet, wenn irgendjemand sie zu stark drückte und ich dann sagte: "He! Ist kein Brotteig, nur ein Kind." Viele Erwachsene merken gar nicht, dass Kinder das nicht mögen.

Der Anfang des Textes ist - ebenso wie der Rest und wie schon erwähnt - ebenso tatsächlich geschehen, ist aber hier für mich der Teil, der sich mit der Serie verbindet, die es ja jetzt ist - und aus der dann mal ein Ganzes entsteht. Klar, Regel Kurzgeschichte: direkter Einstieg. Das werde ich aber ignorieren - wie so vieles - denn es trägt zum Gesamtbild bei, dem Beziehungskomplex Vater-Mutter-Sohn, der sich über alle Teile entfalten wird.

Die Taxifahrt zahlte ming Mutter, wie so oft. Aber da dieses Ende meist gleich aussieht bei vielen Szenen, kommt das in einer anderen Geschichte, die dann mehr von einer Taxifahrt beinhaltet.

So, paar Stellen geändert, das Glück weg und geschrieben, was ich war: glücklich.

Sonnigen Sonntach (so wie hier) und Grüße
Morphin

 

Lieber @Morphin,

dass dies eine Autobiographie ist, ist eigentlich ein unfaires Totschlagsargument, weil damit sämtliche Vorschläge, Verbesserungsvorschläge, Änderungswünsche in Bezug auf den Sachverhalt obsolet sind. Ich kann das natürlich gut verstehen, wenn autobiographisch, dann eben nicht frei literarisch, beides geht eher selten, weil das Leben Sachverhalte schreibt, die es nur dann in die Literatur schaffen, wenn sie aus Sicht des Lesers glaubwürdig erscheinen. Das ist einer der großen Unterschiede finde ich, neben sicherlich noch so ein bis zwei mehr.
Bisher war auf dieser Seite Autobiographisches als reine Form nicht vorgesehen und genau an der Diskrepanz zwischen meinem Feedback und deiner Erwiderung darauf, können wir ersehen, weshalb das auch bisher gut war.
Eben, weil dann ein großes Stück an Textarbeit überflüssig ist bzw. wäre.
Wie wäre es denn, wenn eine Extraabteilung Autobiographie und Biographie eingerichtet wird.
Sie hätte den Vorteil, dass Kritiker sich die Mühe sparen können, zu Sachverhaltsdingen Bemerkungen zu machen, Textarbeit an sich wäre ja nach wie vor möglich, halt nur eingeschränkt und andererseits finde ich auch, macht das Wissen um das Autobiographische auch einen gewissen zusätzlichen Reiz aus. Jedenfalls dürfte es wohl jedem Leser von Biographien etc. so ergehen, dass ein Stückchen weit die Spannung dieser Schilderungen auch dadurch entsteht, dass man vorher weiß: es ist wirklich so passiert.

Ich kann nur nochmals betonen, dass ich dich für einen guten Erzähler halte und ich auch sehr gerne deine Texte lese.
Es würde mich echt traurig machen, wenn du hier deine Autobiographischen nicht veröffentlichen dürftest. Aber fairerweise müsste dann eine Regelung geschaffen werden, die es mir und all den anderen Kritikern ermöglicht, zu wissen, dass gewisse Kritikbestandteile nicht erforderlich sind. Man "arbeitet" sodann nicht umsonst, wenn es um Sachverhaltsfragen geht,
und auf der anderen Seite wäre es dann nur gerecht, wenn auch andere User Autobiographien und Biographien posten dürften. Tut mir leid, wenn ich da Konsequenz fordere, die eventuell dir nicht gefallen könnte.

Aber ich möchte unbedingt noch einen Punkt, trotz allem inhaltlich zu deinem Text anmerken, auch wenn ich nun weiß, dass du ihn nicht ändern wirst.
Ich halte den Heinrich am Ende der Geschichte nicht! für glücklich, insoweit hast du mich missverstanden. Ich schlug dir vor, es ganz zu streichen.
Worin sollte denn sein Glück bestehen? Darin, eine für ihn hohe Summe Geld in Händen zu halten? Aus meiner Lesersicht ist das Kind immer noch eines, das hochgradig schlecht behandelt worden ist. Es war, auch wenn es anfänglich sich vielleicht so anfühlte, keine besondere Auszeichnung, mit dem Vater in so eine Kneipe zu gehen. Der Vater hat sich nicht so gebährdet, wie es anfänglich sich in der Geschichte ankündigte, dass er so stolz auf seinen Sohn war, dass er ihn deswegen mit in die Gesellschaft seiner Freunde nehmen wollte. Ganz im Gegenteil, in dem Moment, wo der Sohn sich nicht so perfekt klug verhält, wie es sich der Vater wünscht, wird er einfach in die Unbeachtetheit geschickt. Das ist neben Schlägen so ziemlich die fieseste Art, jemandem weh zu tun. Ihn einfach nicht mehr zu beachten. Aus meiner Sicht wird Heinrich hin und her geschoben und hatte allenfalls Glück, auf diese in sich sehr warmherzige Frau zu treffen.
Die war sein Glück im Unglück. Wird dann daraus automatisch Glück so unterm Strich?
Wenn du und davon gehe ich aus, nach wie vor der Ansicht bist, dass am Ende der Geschichte das Kind Glück empfunden hatte, dann müsstest du es dem Leser mit ein paar Worten mitteilen, woraus der Junge dieses Empfinden schöpft.
Vielleicht bin ich ja einfach nur vernagelt und jeder andere Leser, empfindet mit Heinrich, dass der Junge am Ende Glück hatte, dann bin ich gerne bereit, zu akzeptieren, dass es auch ein Stück weit meine individuelle eigengeprägte Einschätzung ist. Aber das ist bisher ja noch nicht geschehen.

Lieben Gruß

lakita

 

Vielleicht bin ich ja einfach nur vernagelt und jeder andere Leser, empfindet mit Heinrich, dass der Junge am Ende Glück hatte
Ich hoffe, du hast gesehen, dass ich es von Glück auf glücklich geändert habe, was ein erheblicher Unterschied ist.
Ich vergaß Mama, die Mokkastube, den Qualm, den Schnaps, denn ich hatte gewonnen und war glücklich.
Er presst die Kohle an seine Brust und genau das ist es, was ihn glücklich macht. Er hat noch nicht mal weiter gedacht, an so was wie "Mama freut sich" oder "kann mir was kaufen". Es ist ganz banales und simples Ausschütten von Endorphinen, das auch nicht lange hält. Aber es genügte in diesem Moment, um den Rest vergessen zu machen.

Nehmen wir mal an, es wäre nicht autobiographisch und ich schriebe den kurzen Moment von Glücklichsein am Ende. Zwei Kommentatoren lesen das. Einer sagt: Nicht glaubhaft. Der zweite: kann ich mir vorstellen. Wie entscheidet sich der Autor? Bei all den Geschichten, die ich in den letzten 57 Jahren erlebt habe, und immer wieder erzählt, hörte ich hinterher oft, dass dies nicht sein kann, nicht glaubhaft. Auf was beruht das nicht Glaubhafte?

ist eigentlich ein unfaires Totschlagsargument, weil damit sämtliche Vorschläge, Verbesserungsvorschläge, Änderungswünsche in Bezug auf den Sachverhalt obsolet sind
Aus meiner Sicht überhaupt nicht. Wir hatten schon autobiographische Texte hier - oder haben. Da hab ich mich auch mit den Autor:innen per PN auseinandergesetzt. Dabei ging es eher darum, gewisse Sachen hervorzuheben oder ganz Unwichtiges wegzulassen. Aber nicht, weil es nicht glaubhaft war, sondern weil es für den Text nicht erforderlich war. Autobiographisches unterscheidet sich durch nichts von fiktiven Texten - zumal fiktive Texte auch nur aus dem beobachteten Leben entstehen. Und wenn der Stil scheiße ist, dann kann man da genug dran arbeiten, verdichten und Possessivpronomen rausschmeißen, trotz allem ist es autobiographisch. Was für ein Spektrum die Gefühlslagen von Kindern und Jugendlichen bieten, habe ich bei den straffälligen Jugendlichen oft gesehen und da gab es Momente, die waren hier in Maikammer beim Erzählen für manche kaum glaubhaft.

Es würde mich echt traurig machen, wenn du hier deine Autobiographischen nicht veröffentlichen dürftest. Aber fairerweise müsste dann eine Regelung geschaffen werden, die es mir und all den anderen Kritikern ermöglicht, zu wissen, dass gewisse Kritikbestandteile nicht erforderlich sind. Man "arbeitet" sodann nicht umsonst, wenn es um Sachverhaltsfragen geht, und auf der anderen Seite wäre es dann nur gerecht, wenn auch andere User Autobiographien und Biographien posten dürften. Tut mir leid, wenn ich da Konsequenz fordere, die eventuell dir nicht gefallen könnte.
Das ist okay, kann aber - weil ich selbst Mod bin - nichts dazu sagen, denn ich kann nicht gleichzeitig Richter und Henker sein. Gewaltenteilung. Ich habe das zur Diskussion eingereicht, und was dabei rauskommt, ist okay für mich, egal was es ist.

So, jetzt muss ich mal was essen.

Griasle
Morphin

 

@Morphin,

jo, hatte mitbekommen, dass du daraus "glücklich" gemacht hattest. Und ich habe dir auch erklärt, dass ich Probleme damit habe, ihn als glücklichen Jungen zu sehen , trotz des Gewinnes. Und dass jeder Kritiker im schlimmsten Falle etwas anderes geändert haben möchte, so dass am Ende der Text nicht mehr vom Autor stammt, wenn er all dies täte, verstehe ich nur zu gut. Ich diktiere dir ja auch nichts, sondern stelle im speziellen Fall nur Fragen, die zu einer Veränderung des Textes führen könnten, aber das ist kein Automatismus.
Und vielleicht hast du mich da missverstanden in Bezug auf Biographisches und Autobiograhisches: je nach Schreibqualität ist da durchaus noch jede Menge Textarbeit leistbar, gar keine Frage. Aber in allen sachverhaltlichen Belangen eben nicht.
Während ich bei jeder Geschichte mich immer neben allen stilistischen Dingen frage, ob es ein runder Plot ist, ob das Erzählte eine innere Logik hat, ich das alles nachvollziehen kann, ich einen Spannungsbogen finde und so weiter, fällt das alles bei den Biographien und erst recht Autobiographien flach.
Das stellt für mich absolut kein Problem dar, wenn ich es vorher weiss.

Lieben Gruss und guten Appetit

lakita

 

Mahlzeit,

Während ich bei jeder Geschichte mich immer neben allen stilistischen Dingen frage, ob es ein runder Plot ist, ob das Erzählte eine innere Logik hat, ich das alles nachvollziehen kann, ich einen Spannungsbogen finde und so weiter, fällt das alles bei den Biographien und erst recht Autobiographien flach.
Das sehe ich nicht so. Letztens hat jemand eine Geschichte gepostet über einen Fliegerangriff und ich habe herausgepickt, was daran nicht stimmte aufgrund verifizierbarer Sachlogik und Fakten. Dahingegen war deine Bombergeschichte logisch und faktisch verifizierbar. Beide aber waren rund, was Emotionen anging. Deine ausgereifter, die andere hatte noch Potential.

Bei Autobiographien vergleiche ich mit dem, was ich "erlebt" habe. Wenn mir jemand erzählt hätte, in einem Schlachthof gäbe es Menschen, die mit Rinderaugen jonglieren, hätte ich Zweifel gehabt. Dann arbeitete ich im Schlachthof und bin diesem Menschen begegnet. Wenn mir jemand erzählt hätte, ein Kind hängt an seinem Verprügler, hätte ich Zweifel gehabt. Dann bin ich diesem Kind begegnet. Die niedergeschrieben Sätze bekommen also ihre Logik erst dann, wenn der Leser adäquate Erfahrungen gemacht hat. Ein Punkt in der Literatur - für mich jedenfalls - ist, dass sie mir Welten näherbringt, die ich nicht kenne. Viel bei Bukowski bspw. ist autobiographisch und liegt durchaus außerhalb mancher Erfahrungswelten, etwa sein Postjob. Als ich aber dann 5 Jahre bei der Bundespost war, schien mir das wie ein Spiegel seines Romans. Ich konnte also tatsächlich verifizieren, was da ablief. Die innere Logik des Erzählten war auf einmal Tatsache.

Dass ein Drücken von bisschen Geld an die eigene Brust in so einem Moment ein glückliches oder zufriedenes Gefühl erzeugen kann, in einem Fünfjährigen, ist nichts Seltenes, was die innere Mechanik angeht. Als mein Opa Johannes auf langen Sapziergängen seine Russlandgeschichten erzählte, die durchaus blutrünstig waren und ich nachts davon mies träumte, er auf den Holzbänken im Wald weinte und ich nicht wusste, was ich tun sollte, aber ein Schmetterling auf meiner Hand landete, dann war ich kurz glücklich und alles andere weit weg. Bis der Falter wieder abzog.

Griasle
Morphin

 

Liebe Lakita,

wir haben im Moderatoren-Team diskutiert:

Es würde mich echt traurig machen, wenn du hier deine Autobiographischen nicht veröffentlichen dürftest. Aber fairerweise müsste dann eine Regelung geschaffen werden, die es mir und all den anderen Kritikern ermöglicht, zu wissen, dass gewisse Kritikbestandteile nicht erforderlich sind. Man "arbeitet" sodann nicht umsonst, wenn es um Sachverhaltsfragen geht,
und auf der anderen Seite wäre es dann nur gerecht, wenn auch andere User Autobiographien und Biographien posten dürften. Tut mir leid, wenn ich da Konsequenz fordere, die eventuell dir nicht gefallen könnte.

Autobiografische Kurzgeschichten (oder auch Romane) sind nicht untersagt und werden wie andere Kurzgeschichten auch, hier gepostet und als diese diskutiert. Natürlich sollte ein Autor sich vor dem Posten überlegen, ob er einen persönlichen Text öffentlich diskutiert wissen will oder nicht. Hierzu auch: Ratschläge zur Textveröffentlichung

Auch Morphin hat schon durchklingen lassen, dass Kritik an autobiografischen Texten nicht per se „unnütz“ ist. Auch sehen wir nicht, dass gewisse Kritikbestandteile nicht erforderlich wären. Gerade bei autobiografischen Texten kann das Feedback, dass ein Plot nicht funktioniert, sehr wertvoll sein. Richtig ist natürlich, dass dann erst einmal oft das Argument kommt, dass es eben so passiert sei. Aber nicht selten zeigt sich dann in der Diskussion, dass nicht die „Tatsache“ an sich das Problem ist, sondern die Art und Weise der Darstellung, die sie unglaubwürdig erscheinen lässt.

Daher steht es auch jedem Autor, jeder Autorin frei, zu offenbaren, ob ein Text autobiografisch ist oder nicht. Im Ergebnis behandeln wir hier alle Geschichten gleich.

Nicht erlaubt sind nur Tagebucheinträge und dergleichen. Ein Text, der den Anforderungen einer KG entspricht, darf aber ohne Hinweis in dieser Rubrik gepostet werden.

Ich hoffe, ich habe etwas Klarheit in das Thema bringen können.

Liebe Grüße
Mae

 

Danke @Meady,

ich war ehrlich bisher der Auffassung, dass autobiographische und biographische Texte nicht zugelassen werden.
Das hab ich dann wohl all die Jahre missverstanden. Man lernt nie aus. Danke für deine/eure rasche Antwort.
Gut fände ich aber trotzdem, wenn ein User, der derartige Texte hier reinstellt, dass vorher! kenntlich macht, damit man weiss, dass an sachverhaltlichen Dingen nichts geändert werden wird. Und damit meine ich den Sachverhalt in seinem Kern und nicht seine Verpackung.

 

Hallo Morphin,

wieder eine berührende Geschichte, gut geschrieben, sie erinnert mich vom Aufbau und auch von der Aussage her an die Geschichte, "Zurück in die Stille". Die fand ich aber noch stärker verdichtet und auch überraschender. Hier hingegen erleben wir noch mehr von der Welt des Vaters.

»Rudolf, können wir nicht nach Hause gehen?«
»Heute ist Samstag«, sagte Mama, »da könnten wir doch in den Wildpark gehen.«
Ich finde den Anfang ein bisschen ruckelig. Vielleicht auch zu schnell.
»Deinen Sohn siehst du gar nicht mehr«, warf Mama ein. Ich erkannte den Ton in ihrer Stimme. Es wird ihr letzter Satz sein. In Papas Augen blitzte es auf.
»Ich kann ihn ja mitnehmen, Hilda! Wie findest du das? Dann lernen ihn die anderen auch mal kennen.«
Der Bus setzte die Fahrt fort und die ausgestiegenen Menschen verteilten sich, gingen in den Tchibo, hinüber in den Oberpaur, kauften sich eine Zeitung am Kiosk. Von Mutter kam nichts mehr, aber sie ließ meine Hand los und Papa streckte mir seine entgegen.
Also irgendwie sehr schnell abgehandelt, dass sie nichts mehr sagen wird. Ihre Sätze wirken auch so wie aufgesagt, so als ob sie gar nicht damit rechnet, dass sie irgendeine Wirkung haben werden. Und sein "Wie findest du das?" habe ich zunächst als Drohung aufgefasst, nach dem Motto, wenn du hier weiter rummeckerst, nehme ich dir das Kind weg.
Ganz gruselig, dass die Mutter das Kind einfach mit diesem Mann gehen lässt. Oder ist sie einfach froh, den Jungen los zu sein? Das sind so Fragen, die sich mir stellen, denn ich würde noch Ermahnungen erwarten, zumindest.

Er griff nach meinen Fingern und mit einem Ruck ging es los. Mama lächelte mir zu und verschwand zwischen den vielen Gesichtern der Stadt. Ich spürte ein unsichtbares Gummi, das mich mit Mutters Lächeln verband, mich zurück zog. Umso stärker, je weiter wir uns entfernten. Bis ich Bauchweh bekam.
Wie dieses Kind weitergereicht wird, im Grunde ein Verrat. Die pure körperliche Abhängigkeit von der mütterlichen Nähe finde ich schön gezeigt. Es gibt ja tatsächlich diesen Begriff der "Gummibandbeziehung" zwischen Mutter und Kind.
»Mmm-ooo-kkaa-sch-tu-bee. Mokkastube
Also er ist so knapp sechs, vielleicht noch fünf, wahrscheinlich ein früh lesendes Kerlchen. ;)
Ich betrat eine Welt aus Qualm, lauten Rufen, Lachen, Schweiß und anderen Gerüchen, von denen ich weder eine Ahnung hatte noch je haben wollte.
hier höre ich sehr den Erwachsenen, während du an anderer Stelle mehr die Kinderperspektive einnimmst. Dass er nicht freiwillig da ist, ist ja eigentlich klar.

»Ist schon richtig so«, erklärte Papa ihm. »Bei all den Verrückten die so rumlaufen …«
Tja, er ist wohl leider einer davon.
»Das ist ein Rotomat«, meinte Papa und setzte mich auf den Stuhl neben diesem Gerät. Er blieb davor stehen. »Weißt du, was der macht?«
"Rotomat" habe ich noch nie gehört. Ich kenne nur "Automat".
Eine Maschine mit Geld drin. Ich dachte nach.
»Aber wie kommt das Geld da rein?«
Papa seufzte.
»Dummerchen. Wir müssen es da reinwerfen.
Der Vater wird hier ziemlich vorgeführt, denn das Kind stellt die richtigen Fragen und wer das wahre Dummerchen ist, wird so deutlich.
»Alkohol ist nichts für Kinder«, erklärte Dragan mit lauter Stimme.
Der Dragan mit den schrecklichen Augen macht ja dann noch eine ganz gute Figur.

»Heinrich!«, schrie er. »Das ist mein Sohn!«
Er riss mich von Ivona weg zu sich. Sein Atem stank wie das grüne Zeug im Eimer und mir wurde wieder ein bisschen schlecht.
Er hat ihn vorher wieder im Stich gelassen. Es ist wie in der anderen Geschichte. Er bringt ihn in Gefahr und vertuscht das Ganze dann.
Ich vergaß Mama, die Mokkastube, den Qualm, den Schnaps, denn ich hatte gewonnen und war glücklich.
Das ist natürlich fatal, wenn sich nach so einem traumatischen Abend, das Gefühl von Wärme und Glück an das gewonnene Geld bindet.

Wieder eine traurige Geschichte, die ich aber gerne gelesen habe.

Liebe Grüße von Chutney

 

Oh Mann (hat mein letzter Kommentar auch so angefangen?), hätte ich doch nicht den Kommentarbereich im Anschluss gelesen. Der hat mich aus dieser wunderbaren Stimmung in die Beschäftigung mit Forumsfragen katapultiert. Schnell zurück ... so.
Ja, was soll ich sagen, ich war wieder sehr gerne dabei. Das ist einfach berührend und diesmal ein ganz anderer Teil der Gefühls-Klaviatur :) Ich hab so viel rauszitiert, dass ich das jetzt erstmal durchgehe.

»Deinen Sohn siehst du gar nicht mehr«, warf Mama ein. Ich erkannte den Ton in ihrer Stimme. Es wird ihr letzter Satz sein. In Papas Augen blitzte es auf.

Der markierte Satz ist mir aufgefallen. Das klang fast wie die Ankündigung, dass das das letzte wäre, das sie sagt, also das allerletzte. Oder dass Rudolf (seine Augen blitzen auf) getriggert ist und übergriffig wird "Es wird ihr letzter Satz sein [bevor er sie angeht].

»Mmm-ooo-kkaa-sch-tu-bee. Mokkastube.«

schön :)

»Das ist ein Rotomat«, meinte Papa und setzte mich auf den Stuhl neben diesem Gerät. Er blieb davor stehen. »Weißt du, was der macht?«
»Nein. Was macht der denn?«
»Erst hol ich mal was zu trinken. Was willst du?«
»Apfelsaft?«

Oh Mann, ich habe Heinrich wirklich ins Herz geschlossen. Und dann "Apfelsaft". Ich glaube, ich habe da gerade irgendwie auch Flashbacks an ähnliche Kneipen-Eindrücke. Das ist wirklich eine süße Passage.

»Ich bin der Dragan. Wenn du was brauchst, rufst du mich.«

Auch irgendwie süß. Tut mir leid, aber es ist dieses Wort, das da meine Empfindung auf den Punkt bringt :)

Ab und zu trank ich einen kleinen Schluck Apfelsaft

:gelb:

und dachte an den Mann. Hoffentlich war er nicht tot.

Das ist wirklich ein Goldjunge

»Heinrich, wir sehen mal, was der Rotomat macht.«
»Was macht er denn?«, wollte ich wissen.

heheh

»Er schluckt Geld«, sagte Papa.
»Und wohin geht das Geld?«

:lol: Diese Dialoge über den Rotomaten sind einfach herrlich.

»Hier drin ist ein Kasten. Die Leute schmeißen Geld rein. Wieder und wieder«
»Aber wie kommt das Geld da rein?«
Papa seufzte.
»Dummerchen. Wir müssen es da reinwerfen. Sonst spielt die Maschine nicht.

Ist doch logisch, Sohn! Musste echt laut auflachen.

Ich ahnte, dass dies sein Geheimnis war und er es nun mit mir teilte.

Vielleicht streichen? Es funktioniert, finde ich, auch ohne und es wirkt für den kleinen Heinrich schon sehr reflektiert.

»He! Du hättest fast meinen Sohn getroffen!«, brüllte Papa und schubste einen Mann gegen den hohen Tisch. Der holte aus und schlug zu. Aber viel zu langsam für Papa, der sich wegduckte. Dragan kam hervorgerannt und versetzte dem Mann einen kräftigen Schlag ans Kinn. Er fiel wie ein Baum zwischen Stühle und Tisch. Ein Aschenbecher rutschte runter, zwei Gläser, die Männer johlten. Dragan hob den Mann auf und setzte ihn auf einen Stuhl im Eck. Dann ging er wieder hinter den hohen Tisch. Papa kam her.

Geil. So eine feine Kneipen-Prügelszene. Gibts sowas heute noch?

In meinem Bauch explodierten Sonnen

Finde ich zu poetisch. Dass Sonnen explodieren können, was sie ja wirklich können, dürfte auch nicht in seinem Erfahrungshorizont sein, oder?

»Nein, mein Kleiner. Du hast ja alles ausgespuckt. Aber mach das nie wieder!«
Sie roch wie Mamas frisch gewaschene Wäsche. Ihre Wange war weich und warm. Ich mochte sie und schlang die Arme um Ivona.

oh Mann (im wahrsten Sinne), diese Ivona steht hier für mich auch dafür, wie hier die Frauen, die einzigen sind, die noch ein bisschen Verstand haben und dem Kindeswohl gegenüber nicht völlig fahrlässig eingestellt sind. Ich meine, es hat Heinrich nicht umgebracht. Es hat ihn auch mit Eindrücken gefüttert. Aber er wird hier mit all dem auch mehr oder weniger alleingelassen. Wird überfordert, finde ich. Dann säuft der Vater da und vermittelt seinem Sohn Glücksspielsucht. Das ist halt schon krass. Einerseits sieht man auch das Milieu. Das ist sein Abschalten, sich mit den Freunden einen Saufen in so einer verruchten Kneipe. Der Sohn ist aber auch schon Opfer dessen.

Wenn ich sage ‚runter‘, dann kriechst du vom Sitz da unten rein.«

Das weckt auch Erinnerungen.

Ich vergaß Mama, die Mokkastube, den Qualm, den Schnaps, denn ich hatte gewonnen und war glücklich.

Oh Mann, dieser Junge. Den trübt kein Wässerchen.

um ehrlich zu sein: es ist Autobiographie.

hahahah. Hier muss ich auch nochmal lachen, weil du das so direkt rausschreibst.
Ich finde Lakitas Hinweis aber durchaus spannend. Ich meine, ich lese das auch einfach gerne und sage dir, so wie hier, was ich daran mag und so weiter oder wo ich etwas kleines ändern würde. Aber vielleicht gibt es ja etwas, dass du dir von den Lesenden und Kommentierenden dieser Serie erhoffst. Gibt es?

Wie auch immer. Danke für den Ausflug in die Kneipe mit Heinrich!

 

Guten Morgen @Chutney und @Carlo Zwei,

ich danke euch beiden fürs Lesen und Kommentieren. Was ich jetzt gesehen habe, nach den Kommentaren hier und bei den anderen Teilen: es funktioniert wohl eher als Ganzes. Und deswegen baue ich im Moment alle Teile als Ganzes zusammen. Aber unter einem ganz anderen Vorzeichen bzw. Rahmen. Da drauf bin ich aber erst letzte Nacht gekommen, DURCH die Kommentare. Wie funktioniert es so, dass der Abstand gewahrt bleibt, man nicht einen 700-Seiten-Roman mit allen Details bekommt und doch auch zwischendrin einen Einstieg findet? Eine Nacht lang grübeln. Ich hoffe mal, ich habe die Lösung gefunden.

Aber das für mich Wichtigste hat Carlo formuliert:

Aber vielleicht gibt es ja etwas, dass du dir von den Lesenden und Kommentierenden dieser Serie erhoffst. Gibt es?
Zunächst: erhoffen, erwarten, einen Anspruch haben ... ist tatsächlich nicht meine Welt. Viele Jahre, Jahrzehnte, habe ich mich gefragt, warum ich mich schon als Kind unter Frauen wohler fühlte als unter Männern. Und vergessen wir das mit Sex und dem Kram. Ich rede von einfach frei heraus reden können, Vertrauen haben und Vertrauen bekommen, ja, das Gefühl von Freiheit im Denken und dem Aussprechen von Emotionen, ohne Häme zu kassieren, ohne stummes saufen, akzeptiert zu werden usw. Ich spreche von Freundschaft.

Natürlich gibt es sowohl unter Männern als auch Frauen Ausnahmen, also das jeweilige Gegenteil. Wie sollte ich das testen? Mit 16, 25, 30, 40 oder heute? Aber eigentlich war es ganz einfach. Egal wo ich jobbte, lernte, arbeitete, egal, wo ich später als Selbständiger Aufträge erledigte, Kunden/Kundinnen oder an der VHS oder der IHK dozierte (Zuhörerinnen oder Zuhörer), es war immer dasselbe: Frauen waren ernsthafter, bessere Zuhörer, planvoller, bessere Mütter, zuverlässiger, bessere Schülerinnen usw. usf.

Das bestätigte die Frauen in meiner Kindheit.

Aus diesem Grund ist meine Antwort auf Carlo, dass diese und andere Texte dazu beitragen mögen, den Frauen endlich den ihnen zustehenden Teil der Welt zu geben und darüber hinaus - aus meiner Sicht - noch etwas mehr. Oder anders gesagt: für die Männer wird es Zeit, sich zurückzuziehen und mal ein paar Jahrzehnte in sich zu gehen.

Das ist für mich mein Resümee aus 57 Jahren.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Morphin
Während ich deine Geschichten lese, geschieht etwas mit mir, sie berühren mich.
Ich kann sie verstehen und es bleibt etwas zurück, ein Gedanke, eine Erfahrung.


Papa blieb einfach stehen.
So typisch.
Ich komme bald nach. Emil hat heute Geburtstag und ich hab versprochen, dass ich vorbeikomme. Er gibt einen aus. Spätestens um fünf bin ich daheim.«
Immer diese falschen Versprechungen.
Ich betrat eine Welt aus Qualm, lauten Rufen, Lachen, Schweiß und anderen Gerüchen, von denen ich weder eine Ahnung hatte noch je haben wollte
Fühle mich in meine Kindheit versetzt.
Es war wie der Gang in den schwärzesten Kohlenkeller. Ich entdeckte nichts dahinter
Kann ich mir nicht vorstellen, dass ein fünfjähriger das so sieht.
Du hättest fast meinen Sohn getroffen!«, brüllte Papa und schubste einen Mann gegen den hohen Tisch. Der holte aus und schlug zu. Aber viel zu langsam für Papa, der sich wegduckte. Dragan kam hervorgerannt und versetzte dem Mann einen kräftigen Schlag ans Kinn. Er fiel wie ein Baum zwischen Stühle und Tisch. Ein Aschenbecher rutschte runter, zwei Gläser, die Männer johlten. Dragan hob den Mann auf und setzte ihn auf einen Stuhl im Eck. Dann ging er wieder hinter den hohen Tisch. Papa kam her.
»Alles in Ordnung?«
Ich sagte nichts. Mir fiel einfach nichts ein. Sogar meine Blase hatte ich vergessen.
Ich habe das auch schon einmal mitgemacht und mich wundert es, dass du nichts über die Angst schreibst. Ich erinnere mich, wie ich geschrien habe vor Angst um mein Vater.
Hier. Trinken und schlucken.«
Ich nahm das Gläschen, trank, schluckte und sofort sprang mich ein Feuerdrachen an, riss an meiner Kehle, entzündete alle Flammen, die er nur finden konnte. Es schüttelte mich fast vom hohen Tisch runter. Papa fing mich auf. Ich bekam nicht mal Luft. Jeder Atemzug war wie noch ein Schluck von diesem fürchterlichen Zeug. In meinem Bauch explodierten Sonnen oder flogen ganze Bienenschwärme hin und her. Dann übergab ich mich mit enormer Gewalt. Die Männer sprangen zurück und Papa hielt mich weit von sich. Ich kotzte und zappelte in der Luft mit beiden Beinen, wusste nicht, wie mir geschah. Wollte einfach nicht mehr sein. Auf der Stelle verschwinden, laufen, weinen. Mama kam mir in den Sinn.
Unglaublich
»Nein, mein Kleiner. Du hast ja alles ausgespuckt. Aber mach das nie wieder!«
Sie roch wie Mamas frisch gewaschene Wäsche. Ihre Wange war weich und warm. Ich mochte sie und schlang die Arme um Ivona.
»Wo ist Papa?«, fragte ich leise.
»Komm.«
Ja, die Frauen.
Ich vergaß Mama, die Mokkastube, den Qualm, den Schnaps, denn ich hatte gewonnen und war glücklich.
So kann auch ein erster Schritt in die Spielsucht aussehen.
Frauen waren ernsthafter, bessere Zuhörer, planvoller, bessere Mütter, zuverlässiger, bessere Schülerinnen usw. usf.

Das bestätigte die Frauen in meiner Kindheit.

Hier gebe ich dir voll und ganz recht.
Eine Erfahrung, die ich mit Dir teilen möchte: Als mein Vater tot war, hatte er in jeder Wirtschaft Schulden. Eine der Wirtschaften wurde von zwei Schwestern geführt. Meine Mutter musste jeden Monat fünf DM der Schulden zurückzahlen. Penibel wurden sie auf einer Seite aufgeführt und meine Mutter bekam immer eine Unterschrift. Das ging über ein Jahr so. Die Zweite wurde von einem Ehepaar geführt. Hier musste meine Mutter nur einen Teil zurückzahlen.
In der dritten Wirtschaft gab es einen Wirt, er verlangte von meiner Mutter nichts zurück. Er hatte Mitleid mit der Witwe und ihren vier kleinen Kindern.

Danke für Deine Geschichten
Ich wünsche dir und deiner Familie ein schönes Osterfest
Liebe Grüße CoK

 

Guten Morgen @CoK,

karfreitägliche Grüße. Hier bimmeln und bammeln die Glocken sich warm. Wenn man direkt neben einer katholischen Kirche wohnt, kommt man kaum zu Wort. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Die Schulden, oh ja, die kenne ich noch zur Genüge. Ich war meist bei meiner Oma, was das Essen anging, denn es kam immer wieder vor, dass wir nichts hatten. Oder dass Mamas beste Freundin Brot, Butter und Gemüse brachte, um etwas im Haus zu haben. Ab und zu aß ich auch bei Onkel und Tante (ungern), aber der Zweck heiligte da die Mittel. Jedenfalls ist mir die Bedeutung von "nichts haben" vollumfänglich bewusst.

Als mein Vater starb, haben Mama und ich sechs Jahre gebraucht, um alle Schulden zu zahlen und neu anfangen zu können. Allerdings, und da bin ich froh, hat mein Vater nie einen Unterschied gemacht zwischen Menschen. Für ihn waren alle gleich. Egal welcher Religion, Hautfarbe, Herkunft. Das war schon ein herausragendes Merkmal, hat aber etliche Feindschaften nach sich gezogen.

Ich sehe, du hast auch noch viel Stoff für Geschichten. Man darf gespannt sein.

Ich habe das auch schon einmal mitgemacht und mich wundert es, dass du nichts über die Angst schreibst. Ich erinnere mich, wie ich geschrien habe vor Angst um mein Vater.
Du hättest dich gewundert, wie still ich sein konnte. Es gab nur eine Sache, die mich zum Schreien brachte: Spinnen.

Ja, das Ostern ist wohl ein wenig anders. Muttern hat abgelehnt, dass jemand kommt, solange sie nicht geimpft ist. Und in BaWü scheint das wohl länger zu dauern. Bleibt nur das Telefon.

Dir auch ein paar Frühlingstage.

Grüße
Morphin

 

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