- Beitritt
- 10.02.2000
- Beiträge
- 2.684
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Heinrich (4): Die Augen aller anderen
»Da ist noch ein Platz frei. Bitte setz dich hin«, forderte mich der alte Herr auf. Ich nickte. Es war fast still in der Klasse. Der Reißverschluss eines Mäppchens. Papierrascheln. Leises Flüstern. Ich suchte diesen freien Platz und folgte den Macken und Löchern im Boden bis zum Tisch.
»Das ist also unser neuer Mitschüler. Sag uns bitte deinen Namen.«
Die Tische standen in drei einzelnen Reihen hintereinander ausgerichtet. Der letzte in der zweiten Reihe, direkt an der hinteren Fensterfront, bot den einzigen freien Stuhl. Grüner Metallrahmen mit aufgeschraubter Sitzfläche aus Sperrholz, bemalt, zerkratzt, Löcher in der Rückenlehne.
»Heinrich Konstantin«, sagte ich beim Hinsetzen.
»Wie? Ich habe es nicht verstanden. Sprich bitte ein wenig lauter.«
»Heinrich Konstantin!«, wiederholte ich mit Nachdruck.
Ein paar Lacher, grinsende Gesichter.
»Was gibt es da zu lachen?«, fragte der Lehrer.
»Wie der redet …«, meinte ein Mädchen vorne an der Tür.
»Wie redet er denn?«
»Na, so komisch. Wie ein Bayer.«
Schallendes Gelächter. Ich wusste wie Bayern redeten. Aus dem Fernsehen.
»Ich komme aber nicht aus Bayern!«
»Na, erzähl uns, woher du kommst. Und übrigens, ich bin der Herr Bausch, dein Klassenlehrer. Zwar schon recht alt, aber immer noch gerne hier.«
Er lächelte milde. Sein Gesicht war freundlich. Sehr freundlich sogar. Gütig, wie das eines Opas.
»Ich komme aus Pforzheim. Das ist in Baden-Württemberg.«
Niemand wusste, wo Pforzheim lag. Deswegen gab es erneut großes Gelächter.
»Ist das in Deutschland?«, wollten einige wissen.
Der Junge rechts neben mir schwieg mit vor der Brust verschränkten Armen. Er lächelte nicht, lag halb unter dem Tisch, die Beine von sich gestreckt. Ohne Zweifel war er größer und breiter als ich. Unwillkürlich rückte ich meinen Stuhl etwas von ihm ab und stellte meinen Schulranzen unter den Tisch.
»Natürlich ist das in Deutschland, ihr Lieben«, erklärte Herr Bausch. »Das ist fast am Rhein. In der Nähe von Karlsruhe. Ich werde morgen eine Deutschland-Karte mitbringen, dann können wir uns das zusammen ansehen.«
Er faltete seine Hände und drehte sich um. Sofort spürte ich die Blicke aller auf mir. Aus meinem Bauch stieg eine unangenehme Hitze auf, wie Dampf in einem Teekessel. Der Wunsch, im Boden zu versinken, unsichtbar zu werden, war enorm. Stattdessen nutzte mein Nachbar den Moment, um mein Mäppchen in seine Pranken zu nehmen und unter Aufbringung offensichtlich enormer Kräfte einiges darin in mindestens zwei Teile zu brechen.
»Damit Du es weißt, der Chef hier bin ich. Alle machen, was ich sage«, flüsterte er mir zugebeugt ins Ohr. Sein Atem roch nach Leberwurstbrot. Vorsichtig legte er das Mäppchen auf den Tisch.
»Das ist wohl runtergefallen, was? Ist ja einiges drin kaputt.«
Ich nickte.
»Wenn Du mein Freund wirst, geht bestimmt nie mehr etwas kaputt.«
Ich spürte seinen Blick an meiner Schläfe und nickte erneut. Vehement meldete sich meine Blase. Fast meinte ich, auf der Stelle in die Hose pinkeln zu müssen. Sofort hob ich meine Hand und schnippte mit den Fingern. Herr Bausch drehte sich und lächelte.
»Ja, Heinrich?«
»Entschuldigung, aber ich muss mal dringend austreten. Darf ich?«
»Aber natürlich. Klaus, geh bitte mit und zeig Heinrich die Toiletten.«
Klaus? Als sich mein Nachbar erhob, krampfte sich in mir alles zusammen.
»Klar, mach ich, Herr Bausch. Komm, gehen wir.«
Wir gingen.
Mein Harndrang wich einer stetig größer werdenden Angst je näher wir der Toilette kamen, die eine Treppe tiefer in einem Zwischengang lag. Ich verschloss die Tür der kleinen Kabine und dachte krampfhaft an Flucht. Irgendeine Möglichkeit, dieser Situation, dieser Schule zu entkommen. Ich sehnte mich nach meiner Mutter, nach einer Hand auf meinem Hinterkopf, die mich beruhigen konnte, aber da war nichts. Nur die weißen Wände einer kleinen Schultoilette. Und vor der Tür ein Junge namens Klaus, der meine Angst bestimmt riechen konnte. Ich starrte in die Kloschüssel, zerrte an meinem Gürtel, aber ich musste nicht mehr pinkeln, also drückte ich aus Verlegenheit die Wasserspülung.
»Beeil dich!«, rief Klaus durch die Tür.
»Ja«, krächzte ich. In der Toilette bleiben wollte ich nicht. Kurzentschlossen öffnete ich die Tür und versuchte, mich schnell an ihm vorbeizudrücken. Er stand jedoch genau davor, frontal und breit, mit einem Grinsen. Seine Faust landete in meinem Unterbauch. Die Wucht drückte mich rückwärts in die Kabine und ich landete zwischen Kloschüssel und weißer Wand. Wie eine Welle breitete sich der Schmerz aus. Mein Frühstück kam hoch. Klaus sprang mit einem Schrei auf die Seite.
»Boah, du Drecksau!«, schrie er. Ich sah nicht auf. Wieder kam ein Schwung. Wenn es exemplarische Momente von Einsamkeit gab, dann war dies wieder einer. Hilfe war nicht zu erwarten. Mit beiden Händen stützte ich mich auf den Fliesen ab, betrachtete die vollgereiherten Handrücken. Ich zog Luft durch die Nase, wie vor dem Ertrinken. Die Tränen kamen, ein Schluchzen, dann weinte ich. Klaus rannte hinaus. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen. Was sollte ich tun?
Es endete damit, dass mich ein älterer Schüler fand, einen Lehrer holte und ich für diesen ersten Schultag nach Hause durfte. Natürlich, sagten die Erwachsenen, erster Schultag, neue Schule, nach einem Umzug in eine fremde Umgebung, da kann einem schon mal schlecht werden. Normale Reaktion, hörte ich hier und da. Meine Mutter kochte Fencheltee, Reissuppe. Das wird schon, sagte sie, das wird schon. Ist ja alles neu. Ich nickte und ahnte, es würde wohl nicht.
»Können wir zurück?« fragte ich Mama am Abendbrottisch. »Ich will nicht hier wohnen.«
Mama setzte sich neben mich und kraulte durch meine Haare. Sie suchte nach Worten. Inzwischen kannte ich diesen Blick. Das bedeutete, ein Schicksal oder ein Gott hat die Tür der Rückkehr verschlossen. Zugemauert.
»Wir sind hier wegen Papa«, sagte sie dann. Ihre Stimme war so zerbrechlich wie trockenes Herbstlaub. »Wir beide, Heinrich, wollen hoffen, dass alles gut geht. Wir wollen alles dafür tun. Du und ich.«
»Wo ist Papa?« Die Frage traf sie. Drei Gedecke auf dem Tisch. Sein Platz war leer.
»Er ist doch jetzt Chef und alles ist neu. Da muss er viel arbeiten. Damit es uns gut geht«, antwortete sie tonlos.
»Mir geht es aber nicht gut, Mama«, erwiderte ich.
Sie schwieg, ihre Finger malten Kreise in meinen Haaren.
Am zweiten Tag stand ich früh auf und stellte mich vor den kleinen Kalender. Dienstag, 10. September 1974. Ich riss das Blatt ab und warf es in den Papierkorb. Schon war ich einen Tag weiter. Nun war es Mittwoch. Vielleicht würde es an diesem Mittwoch einfacher.
»Mama, heute ist Mittwoch«, erklärte ich ihr, am Esstisch sitzend. Sie blickte kurz auf ihren Küchenkalender.
»Wie kommst Du denn da drauf? Gestern war dein erster Schultag. Ein Montag. Also ist heute Dienstag.«
»Nein, auf meinem Kalender ist heute Mittwoch.«
Sie zog die linke Augenbraue nach oben und steckte ein Vollkornbrot in meine Brotpapiertüte.
»Iss das Brot auf. Wenn Du mehr Hunger hast, mache ich dir morgen zwei Brote.«
»Mhm.«
Sie sah mich an.
»Wenn bei mir Freitag ist, müsste auf deinem Kalender ja schon Samstag sein. Hast Du dann schulfrei?«
Ich überlegte.
»Am meinem Samstag könnte ich ja den Dienstag nachholen.«
Sie grinste.
»Aber ja, warum nicht?«
Vorsichtig schlürfte ich meinen Kakao. Mutters Hand tauchte in mein Blickfeld, legte das eingepackte Brot ab und landete auf meinem Kopf.
»Das wird schon alles gut werden. Sollst mal sehen, bald hast du Freunde, mit denen wirst du dich gut verstehen.«
Der Kakaoduft stieg in meine Nase. Was blieb anderes übrig als zu nicken? Wie sollte ich ihr von der Angst erzählen? Sie nahm mir die Tasse ab.
»Du musst gehen. Es wird Zeit.«
Ich wollte nicht gehen. Die Uhr zeigte halb acht. Mutter steckte das Brot in die Außentasche, küsste mich auf die Backe.
»Pass auf Dich auf, Heinrich.«
Meine Angst verlängerte den Weg zur Schule auf eine besondere Weise. Hinter jeder Gardine, jedem Rollladen, in jedem Auto, das an mir vorbeifuhr, vermutete ich einen Klaus. Wie viele es von ihnen noch geben mochte, vermochte ich nur zu erahnen. Aber mit Sicherheit eine Unmenge. Als ich beim kleinen Malergeschäft um die Ecke bog, stand wie aus dem Nichts hergezaubert ein Junge vor mir.
»Ich bin der Cäsar«, vermeldete er laut. »Und Du?«
»Heinrich.«
»Gehst du auch in die Hauptschule?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein. In die dritte Klasse.«
»He!«, rief er und riss die Augen auf. »Du bist aber fast so groß wie ich! Bist du auf dem Stuhl kleben geblieben?«
Ich war mir nicht sicher, was er mit „kleben geblieben“ meinte, traute mich aber nicht, es zuzugeben.
»Nein«, sagte ich entschieden.
Cäsar kniff ein Auge zu und stülpte die Lippen vor.
»Na gut. Ist ja auch egal. Gehen wir zusammen?«
Ich war froh, das zu hören. Bis zur Schule waren es etwa dreißig Minuten. Diesen Weg gemeinsam gehen, konnte nicht schaden. Doch schon nach wenigen Metern bereute ich meinen Entschluss. Cäsar ging stark nach vorne gebeugt. Nur der nächste schnelle Schritt verhinderte ein Umfallen. Und er keuchte. Ab und zu wuchs ein Speichelfaden aus seinem Mundwinkel, den er schlürfend wieder einsog.
»Wenn du mal Hilfe brauchst«, begann er unvermittelt, »dann rufst du mich. Ich hab eintausend Freunde in Bremen. Die kommen dann und wir schlagen alles zu Bruch.«
»Oh«, fiel mir dazu ein.
»Ja«, bestätigte er. »Und in Frankfurt hab ich noch mehr Kumpels. Einer schlimmer als der andere.«
Ich spürte seinen Blick auf mir, starrte aber weiter auf die Bürgersteigplatten. Jede zweite zu treffen mit meinen Schuhen, war gar nicht so einfach. Dann dachte ich plötzlich an Gajus Julius Cäsar, den hochgewachsenen Mann mit der Hakennase aus den Asterix-Heftchen.
»Warum heißt du Cäsar?«, rutschte es mir heraus.
»Ach«, er schlürfte den Speichelfaden hoch, »eigentlich heiße ich Joachim, aber Cäsar hat die ganzen Legionen. So wie ich meine Banden überall. Ich bin ihr Cäsar.«
»Hm«, machte ich, denn mehr fiel mir nicht dazu ein. Eine Ahnung kroch langsam durch meinen Kopf. Er war so was wie mein Sitznachbar „Klaus“, nur auf eine andere Art.
»Willst du mich heute Nachmittag besuchen?«, fragte er, kurz bevor wir die Schule erreichten. Ich wusste meine Antwort und ohrfeigte mich schon jetzt dafür.
»Ich muss erst Hausaufgaben machen.«
»Oh, Klasse. Das Haus neben dem Malergeschäft. Klingelste einfach bei Müller.«
Ich spürte das Bauchweh kommen und verfluchte mich.
Die Hausaufgaben erledigte ich am Esstisch. Erdkunde. Zeichnet Deutschland und seine großen Flüsse, trug uns Herr Bausch auf. Nicht schwer und ich kam schnell voran. Mama stand in der Küche, trocknete das Geschirr. Ab und zu sah sie aus dem Fenster. Sie war so weit weg. Viel weiter als die Spüle, weiter als die paar Meter in die Küche. Ich spürte deutlich, dass Mama alleine war. Es umgab sie wie eine Aura, ein Schatten auf dem Linoleumboden. Er zerrte an ihr und hielt sie immer wieder fest. Die Bewegungen ihrer Füße verlangsamten sich, das Abtrocknen wurde zäher. Dann hörte es wieder auf und sie bemerkte meine Blicke. Lächelte mich an. Ich wurde sofort traurig. Aber warum? Warum jetzt eine Träne? Dann zwei. Mama sah es nicht und ich war froh. Mama ist allein. Ich bin allein. Diese Gedanken bewegten meinen Blaustift, der dem Rhein bei Wiesbaden einen Linksknick gab. Mach schnell weiter, dachte ich und spürte plötzlich Mutters Hand auf meinem Kopf.
»Das machst du wirklich gut, Heinrich. Ich bin stolz auf dich.«
Ich schluckte den Kloß hinunter. Wünschte meine Tränen weg, die so dicht hinter den Augen standen. Ihre Finger kraulten durch meine Haare.
»Hast du noch etwas anderes auf?«, fragte sie leise.
»Rechnen. Aber das kann ich«, sagte ich und sah sie an. Ihr sommersprossiges Gesicht stand gegen das helle Fenster.
»Mama?«
»Hm?«
»Ich hab einen Jungen kennengelernt. Er heißt Joachim und ich kann ihn heute besuchen, hat er gesagt.«
Sie zog beide Augenbrauen hoch.
»Das ist doch schön. Ist er in deiner Klasse?«
»Nein. In der fünften Klasse. In der Hauptschule.«
»Aha … und wo wohnt er?«
»Vorne, neben dem Malergeschäft«, erklärte ich. »Darf ich hingehen?«
Sie nickte.
Sechs Klingeln und das Schild auf dem „Müller“ stand, war nur schwer zu entziffern. Es dauerte, bis der Türsummer ertönte und ich die Glastür aufdrücken konnte. Sie war kaputt. In tausend Teile zersprungen. Nur ein Drahtgeflecht verhinderte, dass sie sich auflöste. Es knirschte leicht beim Öffnen. Als ich in den Hausflur trat, fühlte es sich an, als wäre dies eine andere Welt. Ein Halbdunkel aus Gerüchen und Schatten. Unsichtbare Reste von dunklen Ahnungen, die immerzu Gestalt annehmen wollten. Eine kribbelnde Angst kroch aus meinen Beinen nach oben und ich ging keinen Schritt weiter. Dann öffnete sich gegenüber eine Tür. Das Licht einer Lampe fiel auf die Fliesen des Treppenhauses und ich wunderte mich, wo es doch draußen ein so heller und warmer Sommertag war.
»Komm rein«, forderte mich ein kaum erkennbares Gesicht auf. Nur die Stimme war jene von diesem Morgen. Also gab ich mir einen Ruck.
»Hallo«, sagte Joachim und schloss die Tür hinter mir. »Ich muss erst noch das Geschirr spülen«, meinte er und verschwand durch eine Glastür. Ich folgte vorsichtig. Es war die Küche und in ihr herrschte ein noch nie gesehenes Chaos. Auch hier brannte das Deckenlicht. Die Rollläden waren geschlossen. Zwei Stühle, mit Folienstücken die Risse und Löcher zugeklebt.
»Setz dich.«
Ich registrierte die Flecken auf den Stühlen. Marmelade? Ketchup? Vorsichtig setzte ich mich auf die vordere Stuhlkante, in der Hoffnung, so meine Hose sauber halten zu können. Joachim stapelte Teile des Geschirrs vom Becken auf die Ablage und ließ Wasser ein. Dann begann er zu spülen. Da es keinen Platz für das Gespülte gab, legte er ein dreckiges Handtuch auf den Tisch, zwischen Zeitungen, Eierschachteln, Gewürzstreuern und Briefen, und darauf das Geschirr. Meine Angst war verflogen. Dafür gluckerte es in meinem Magen. Da war es wieder, mein Bauchweh.
»Soll ich dir helfen?«, fragte ich vorsichtig.
»Ne, lass nur. Bin gleich fertig. Kannst ins Wohnzimmer gehen. Da haben wir ein Aquarium.«
Alles besser als hier, dachte ich und suchte das Wohnzimmer. Drei Holztüren. Alle waren mehr oder weniger kaputt. Löcher, Risse, abgeblättertes Furnier. Auf einer stand „W“, das „C“ hing nach unten. Die Klinke der Wohnzimmertür war schmierig und ich blickte entgeistert auf meine Hand. Etwas Fettiges? Der Zustand des Zimmers ließ mich den glänzenden Film auf meiner Hand vergessen. Es erinnerte mich an einen großen Abfalleimer, in dem naturgemäß alles durcheinander lag. Egal was. Zwar gab es ein großes Fenster und der Rollladen war hochgezogen, aber die dreckigen Scheiben und schmutzig-grauen Vorhänge dämpften das Tageslicht erheblich. Davor thronte das Aquarium auf einem zierlichen Couchtisch. Allerdings war das Wasser trübe und voller grünem Zeug, das aussah wie Entengrütze. Ich stellte mich vor das Glas. Es stank nach faulen Eiern. Fische gab es keine darin. Oder ich vermochte sie nicht zu entdecken in der Brühe. Hier war egal, was passierte. Also wischte ich meine Hand mehrmals an der Lehne des Sessels ab. Dann schaffte ich Platz auf der Couch und setzte mich. Joachim kam herein.
»Tolles Aquarium, oder?«
»Ja«, antwortete ich nickend, »aber ich habe keine Fische gesehen.«
»Sind alle tot. Weiß auch nicht, warum.«
Darauf wusste ich keine Antwort. Ein Aquarium ohne Fische? Zwischen all diesem Müll? Mama würde so etwas niemals zulassen.
»Wo ist deine Mama?«, rutschte mir die Frage raus und schämte mich sogleich dafür. Vielleicht war das der Grund für dieses heillose Durcheinander.
»Fort«, sagte Joachim und grub aus einer Ecke voller Zeitungen eine Spielesammlung aus.
»Ist sie arbeiten?«, hakte ich nach.
Er schob mit der Spielesammlung einen Großteil des Unrats vom Tisch.
»Mensch-ärgere-dich-nicht oder Halma?«
»Mensch-ärgere-dich-nicht«, wählte ich.
»Gut«, sagte er. »Ich nehme die roten Figuren.«
Wir spielten und vergaßen die Zeit. Joachim schob gerade seine dritte Figur ins Haus als die Wohnungstür aufging und jemand hustend in den Flur trat.
»Scheiße«, flüsterte er, hob blitzschnell das Spielbrett an, kippte alle Figuren in die Schachtel und stülpte den Deckel über. Ein Gesicht tauchte im Türrahmen auf und verschwand wieder.
»Du musst gehen«, forderte er mich auf. »Ich hab gar nicht auf die Uhr geguckt.«
»Ist das schlimm?«, fragte ich erstaunt.
Er nahm meine Hand und zog mich in den Flur. Dort wartete das Gesicht und starrte uns an. Joachim blieb abrupt stehen und ich lief auf ihn drauf. Wir schwiegen. Das Gesicht schwieg. Es war so ungewöhnlich, dass ich meinen Blick nicht abwenden konnte. So stellte ich mir tote Menschen vor. Mit eingefallenen Wangen, einem wildwachsenden Bart, schmalen Lippen, die Augen tief. Arme, Beine, Bauch, das war alles egal. Es gab nur das Gesicht. Dann lächelte es und eine Reihe kaputter, gelber Zähne zwängte sich mir auf. Ich wendete die Augen ab.
»Lass uns durch. Heinrich muss nach Hause«, sagte Joachim.
»Soso, nach Hause«, sagte das Gesicht leise. »Wenn dein Freund schon mal hier ist, wieso habt ihr dann nicht mal die Wohnung aufgeräumt? Hä?«
»Räum doch selber auf«, erwiderte Joachim. Im Halbdunkel sah ich schemenhaft eine Faust auf seiner Brust landen. Wir stürzten beide wieder ins Wohnzimmer. Joachim lag auf dem Rücken, die Augen aufgerissen. Er japste nach Luft, hechelte wie ein Hund und ich kniete daneben, ohne eine Ahnung, wie ich ihm helfen könnte. Bevor mir etwas in den Sinn kam, griff jemand meinen Oberarm, zog daran und stellte mich im Treppenhaus ab. Ich stand wieder in dieser anderen Welt der Schatten und Gerüche. Vor mir die Tür. Dahinter war Stille, für einen Moment. Dann hörte ich Joachim laut „Nein!“ rufen. Schreie folgten. Fast war es, als könnte ich die Wut dieser Schreie riechen, als nähmen sie Gestalt an, schwer und sichtbar über mir, mich niederdrückend. Ich klingelte. Ein schriller Ton. Schreie und Poltern, dann Ruhe. Erneut drückte ich den Knopf, nahm den Finger aber nicht mehr weg. Schritte näherten sich schnell. Ich ließ das Klingeln sein, rannte zur Haustür, riss sie auf und lief nach Hause.
Die Tage wehten an mir vorbei, ohne dass sie mich interessierten. An keinem einzigen Schultag schaffte ich es, das Pausenbrot zu essen, denn Klaus und zwei seiner Kumpel aus der 3b nahmen es mir jeden Morgen ab. Zwei Wochen nach Schulbeginn überraschte Mama mich nach dem Frühstück mit einer pralleren Tüte und fünfzig Pfennig.
»Ich habe gelesen, dass es einen Kiosk gibt auf dem Pausenhof. Hier …«, sie hob das Geldstück vor meine Nase. »Wenn du magst, darfst du eine Tüte Kakao kaufen. Wenn er schmeckt, können wir darüber reden, ob du das jeden Tag möchtest.«
Unsicher musterte ich die fünfzig Pfennig. Ich ahnte Unheil und steckte das Geld in die Hosentasche.
»Danke, Mama.«
Sie grinste und gab mir den Schulranzen.
»Sag mal, hat sich dieser Junge nicht mehr gemeldet, bei dem du neulich warst?«, fragte sie unerwartet. Ich wurde rot.
»Ich glaube, er ist krank«, log ich.
Sie musterte mich.
»Du kannst doch einfach mal klingeln. Wenn er krank ist, würde er sich vielleicht über Besuch freuen?«
»Mach ich, Mama.«
Sie nickte und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Pass auf dich auf, Heinrich.«
Ich machte mich auf den Weg. Mit dem Zuschlagen der Haustüre setzte das Bauchweh ein.
Sie warteten schon. Vor dem Schulgelände, neben den Bushäuschen. Klaus und seine zwei Kumpel. Es war Ritual. Wenige Schritte vor den Dreien holte ich die Tüte aus dem Schulranzen und gab sie Klaus. Dafür traten sie auf die Seite. Es war ein Geschäft. Keine Haue für ein Brot.
»He!«, rief Klaus und wog die Tüte in der Hand. »Warum ist das so schwer?« Er griff mir in den Nacken und zog mich zurück.
»Sind zwei Brote drin«, erklärte ich.
»Zwei Brote?« Er ließ mich los. »Woah! Super! Mit Schinken!«, brüllte Klaus und zog beide Brote heraus. Er gab mir die Tüte zurück und sie teilten sich ihre Beute auf. Ich schlich mich davon.
In der großen Pause trat Dirk an mich heran. Ein stiller Junge, der vorne vor dem Lehrerpult saß und kaum mehr als „Guten Tag“ sagte. Herr Bausch musste ihn schon mehrmals direkt ansprechen, wenn er wollte, dass er ein wenig zum Unterricht beitrug. Und das, was er dann sagte, war meist falsch. Klaus meinte, Dirk sei vor einem Jahr von einer anderen Schule gekommen und müsste eigentlich in der vierten Klasse sein. Ich glaube, niemand achtete auf Dirk, so klein und dünn wie er war. Er hatte immer die gleichen Kleider an. Braune Cordhose und orange-gelb geringelter Nicky-Pullover.
»He! Hallo Heinrich«, nuschelte er in mein Ohr. »Wo gehst du hin?«
»Zum Kiosk.«
Er schaute überrascht.
»Echt? Darf ich mit?«
Was sollte ich sagen? Ich wollte lieber alleine gehen. Aber Mama sagt immer, dass jeder Mensch wertvoll ist und ein Freund werden kann.
»Ja. Geh ruhig mit. Ich will mir einen Kakao kaufen.«
»Hast du Geld?«
Ich nickte.
»Fünfzig Pfennig. Hat mir meine Mama heute Morgen zum ersten Mal gegeben.«
»Toll«, meinte er.
Ich kaufte eine Dreiecktüte Kakao, schüttelte und stach den Strohhalm hinein. Als ich ihn zum Mund führte, entdeckte ich Dirks stieren Blick, der an der Kakaotüte klebte und der Bewegung folgte. Ich stoppte.
»Hast du Durst?«, fragte ich ihn.
Dirk nickte. »Und Hunger«, schob er hinterher. »Hast du ein Brot?«
Ich gab ihm den Kakao.
»Hier, trink. Ich schenk ihn dir.«
Seine Augen begannen zu leuchten und er nahm mir vorsichtig die Tüte ab, als wäre sie eine Packung frischer Hühnereier. Das Ende des Strohhalms verschwand in seinem Mund. Er zog, ließ Luft hinein, zog und nach kurzer Zeit war die Tüte leer. Achtlos warf er sie auf den Boden. Ich hob sie wieder auf und steckte sie in die Mülltonne.
»Warum hebst du die wieder auf?«, wunderte er sich.
»Weil meine Mama das gesagt hat.«
»Was? Dass man Müll wieder aufhebt?«
Er lachte.
»Sie sagt, dass wir verantwortlich sind für unsere Welt.«
Dirk rieb sich den Bauch.
»Hm, da muss ich drüber nachdenken«, meinte er. »Aber sag mal, hast du jetzt ein Brot für mich?«
Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihm, warum nicht. Er schwieg und sah mich lange an. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte und blieb einfach vor ihm stehen. Bis die Pausenglocke schrillte. Er packte mich am Arm und zog mich ins Gebäude.
»Danke für den Kakao«, sagte er.
Am nächsten Morgen folgte ich wieder dem Ritual, holte die Tüte aus dem Ranzen und als Klaus zugreifen wollte, erschienen zwei große Jungs hinter dem rechten Bushäuschen und kamen schnurstracks auf uns zu. Einer der beiden zog etwas aus der Tasche. Mit einer schnellen Bewegung drückte er auf einen Knopf und aus diesem Etwas schnellte eine Klinge hervor. Der andere stellte sich neben mich. Er legte seine Hand auf meine Schulter.
»Der hier«, begann er und nickte mir zu, »steht unter unserem persönlichen Schutz. Ab jetzt besorgt ihr euch die Brote von jemand anderem. Klar?«
Ich zitterte. Klaus und seine beiden Kumpels nicht minder. Sie nickten.
»Noch einziges Mal, und wir schneiden euch die Finger ab«, sagte der Große neben mir. Sein Freund wendete die Klinge und ließ sie über die Fingerkuppen wandern. Ich war beeindruckt und machte mir doch fast in die Hose. Klaus nickte immer noch. Meine zwei Beschützer knufften ihn und seine Kumpel kräftig, dann verschwanden sie so schnell, wie sie gekommen waren. Zurück blieben wir vier und starrten uns an. Ich steckte die Tüte ein und ging an ihnen vorbei zum Schulhof, wo ich auf Dirk traf. Er grinste mich an. Die Hände in den Hosentaschen, wippte er vor und zurück.
»Na? Hast du die Hausaufgaben gemacht?«
Ich nickte. »Du nicht?«
»Nein. Keine Ahnung, wie das geht.«
Ich öffnete den Schulranzen und nahm die Tüte heraus.
»Möchtest du ein Brot?«, fragte ich und holte eine Schinken-Käse-Stulle raus. Seine Augen leuchteten.
»Boah! Danke!« Er biss herzhaft hinein, als läge seine letzte Mahlzeit drei Tage zurück.
»Ich kann dir bei deinen Hausaufgaben helfen«, schlug ich ihm vor.
Dirk hörte abrupt mit dem Kauen auf und schluckte schnell.
»Wirklich?«
»Ja. Du kommst jeden Tag nach der Schule zu mir. Ich muss aber meine Mama fragen.«
Dirk lächelte. Es klingelte und wir gingen in die Klasse.
Mutter sagte Ja und ich nahm Dirk am nächsten Tag nach dem Unterricht mit.
»Musst du nicht deiner Mama sagen, wo du bist?«, fragte ich überrascht. »Meine Mama wäre ziemlich wütend, wenn ich einfach so mit zu dir ginge, ohne was zu sagen«, erklärte ich ihm. Dirk hob einen Stein auf und warf ihn gegen ein Verkehrsschild. Ich war entsetzt.
»Meine Mama besucht heute den ganzen Tag meine Brüder«, erwiderte er.
Ich fühlte mich in unserer neuen Umgebung wie auf einem anderen Planeten. Die Menschen sagten andauernd Sätze, die ich nicht einordnen konnte, so weit außerhalb meiner Erfahrung fand deren Leben offenbar statt. »Ach so.« Mehr fiel mir nicht ein. Zu meiner Überraschung und Dirks Freude, tischte Mama uns Pfannkuchen auf mit Schinken, Marmelade, Zucker und Zimt. Während Dirk die Pfannkuchen wie Obelix die gallischen Wildschweine verschlang, sahen Mama und ich uns immer wieder an. Ihr Blick ebenso verwundert wie meiner.
»Du kannst aber essen«, sagte sie amüsiert.
Dirk war nicht sehr schüchtern und redete eine Menge, egal ob der Mund leer oder zum Bersten voll war.
»Das schmeckt ja auch so gut.«
»Weiß deine Mama, dass du bei uns bist?«, fragte Mutter.
»Nein, aber sie besucht Dirks Brüder«, antwortete ich für ihn. Dirk nickte und legte den fünften oder sechsten Pfannkuchen auf seinen Teller.
»Oh, du hast mehrere Geschwister?«, hakte Mama nach.
»Fünf Brüder und drei Schwestern«, bestätigte er.
»Bestimmt alle älter und schon ausgezogen, wenn deine Mama sie besucht.«
Mutter interessierte sich immer für die Menschen, was sie taten, wie es ihnen ging.
»Zwei Brüder wohnen bei meinem Alten und drei in Ossendorf im Jugendknast«, sagte Dirk trocken und streute Zucker auf den Pfannkuchen. Mutter drückte ihren Rücken durch, hob den Kopf und sah mich an. Ich hörte staunend zu. Bei „zwei Brüder wohnen bei meinem Alten“ dachte ich an die Jungs neben der Bushaltestelle.
»Im Jugendknast … das heißt, sie haben etwas verbrochen. Und deine Schwestern?«
»Ähm, die eine verkauft ihren Hintern, sagt mein Alter, und die beiden anderen sind schon verheiratet.«
Dirk rollte den Pfannkuchen und steckte so viel in den Mund, wie nur irgend möglich. Mutter atmete hörbar ein. Für einen langen Moment verschloss sie die Augen, streckte sich und goss dann ihre Kaffeetasse voll.
»Dirk, wenn du satt bist, wasch bitte deine Hände. Dann könnt ihr Hausaufgaben machen. Wenn ihr mit denen fertig seid, möchte ich mal drüber schauen. Danach habe ich noch einen kleinen Nachtisch für euch.«
Dirk grinste. In diesem Moment erkannte ich, dass sein Grinsen ein ganz anderes war als das der meisten Menschen. Dirk grinste, wie er redete. Er sagte, wie es ist. Ohne eine Geschichte drumherum. Ehrlich und frei heraus.
Als ich abräumte, half Dirk mit, ohne dass ich ihn darum bat. Er wusch die Hände im Spülbecken, trocknete sie ab und Mama bedankte sich bei ihm dafür. Sie drehte sich um, räumte die Reste in den Kühlschrank und Dirk starrte sie mit großen Augen an, als käme der Weihnachtsmann aus dem Kamin. Ich saß am Esstisch, Rechenbuch vor mir, das Deutschheft, öffnete den Pelikan und freute mich. Mama war ein helles Licht in diesem dunklen Leben.
Zwei Wochen sah ich Joachim nicht. Weder auf dem Schulweg noch irgendwo in der Schule. Klaus verhielt sich still und redete kein Sterbenswörtchen mit mir. Dirk war in diesen zwei Wochen jeden Nachmittag bei uns. Erstaunt stellte ich fest, dass er sich im Unterricht ab und zu meldete. An einem Dienstag sagte Dirk, er müsse mit seiner Mutter zum Arzt und könne nicht mitkommen. So entschloss ich mich auf dem Heimweg, bei Joachim zu klingeln. Das Gesicht öffnete die kaputte Haustür. Bevor ich in die Verlegenheit kam, etwas zu sagen, fuhr er mich an.
»Was willst du?!«
»Ich …«
»Joachim ist nicht da«, raunzte er.
In diese Augen zu sehen war mir unmöglich. Dunkle Höhlen. Schatten ihrer selbst. Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Klingeln.
»Er wollte mich mal besuchen«, log ich. »Wann kann er denn kommen?«
»Er ist im Krankenhaus.«
Jetzt sah ich doch zu ihm auf. So muss ein sehr kranker Mensch aussehen, dachte ich.
»Sind Sie sein Papa?«
Das Gesicht schwieg. Als hätte ich ihn überrascht mit dieser Frage. Dann fing er sich. Seine Unterarme waren bedeckt mit blauen Striemen, wie Adern, die alle Arbeit eingestellt hatten.
»Der Stiefbruder. Warum?«
»Kann ich ihn besuchen im Krankenhaus?«
Das Gesicht hustete ein Lachen. Einige Tropfen Spucke landeten auf meiner Stirn und ich wollte nur noch weg von hier.
»Wenn du willst. Im Antonius-Krankenhaus«, sprachs und schlug die Tür zu. Mir fiel ein großer Stein vom Herzen. Ich rannte nach Hause und war froh, doch nicht gelogen zu haben, als ich Mutter sagte, Joachim sei krank.
»Mama?«
»Ja?«
»Weißt du, wo das Antonio-Krankenhaus ist?«
»Nein, aber ich schau schnell im Telefonbuch.«
Sie holte das dicke Kölner Telefonbuch, setzte sich zu mir an den Esstisch, blätterte und schrieb schließlich die Adresse auf einen Zettel.
»Was ist denn in diesem Krankenhaus?«
»Joachim ist dort. Den ich mal besucht habe.«
»Oh.« Sie machte große Augen und fuhr sich über die Stirn. »Ich ahne, was du möchtest. Ihn besuchen.«
»Ja, das würde ich gerne.«
Mutter nickte.
»Also gut. Ich spüle und du machst deine Hausaufgaben. Dann werden wir zusammen hingehen.«
Ich lächelte und setzte mich an die Deutsch-Hausaufgabe. Schreibt alle eure Lieblingsmärchen auf und wen ihr darin mögt und nicht mögt, sagte Herr Bausch. Ich mochte keine Märchen, rätselte, was ich schreiben sollte und dachte an Joachim.
Mutter kaufte eine Flasche Orangensaft und einen Asterix. Das tat sie immer. Wenn wir jemanden besuchten, kaufte sie eine Kleinigkeit. Meist Blumen oder ein paar Pralinen. Die Menschen mögen Aufmerksamkeiten, erklärte sie mir. Mit dem Fahrstuhl fuhren wir in den dritten Stock und suchten Joachims Zimmer, aber es war leer. Mutter fragte die Stationsschwester und die führte uns zu einem Raum mit einer Glaswand in dem Joachim neben einer Frau saß, die allerhand Papiere vor sich auf dem Tisch hatte.
»Sie müssen warten«, bat die Schwester uns.
Mutter nickte und wir setzten uns gegenüber der Glaswand auf die Stühle.
»Die Frau dort sieht sehr offiziell aus«, flüsterte Mama. »Viele Papiere, Formulare, fein angezogen, Ledertasche. Ich glaube, das ist nichts Gutes.«
»Was ist „offiziell“, Mama?«
Mit ihrem Arm um meiner Schulter zog sie mich zu sich und beugte den Kopf.
»Schau mal, Joachims ganzer Arm ist im Gips und seine Haare sind komisch geschnitten. Wie bei einer Operation«, erklärte sie. Ich versuchte all das zu sehen und einen Sinn darin zu erkennen. »Offiziell heißt, dass der Mensch zum Beispiel von einem Amt kommt. Einem Rathaus oder einer Krankenkasse …«
»Oder von einer Schule?«, warf ich ein.
»… oder von einer Schule. Genau.«
Nach ein paar Minuten räumte die Frau ihre Papiere zusammen, steckte alles in die Ledertasche, stand auf und tätschelte Joachims gesunde Schulter. Dann ging sie zur Tür, öffnete und blieb stehen. Ihr Blick entdeckte uns. Es war genau zu sehen, dass sie Mama und mich mit ihm in Verbindung brachte. Sie trat heraus, schloss die Tür und setzte sich neben Mama.
»Gehören Sie zu Joachim Müller?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Nicht direkt. Mein Sohn war einmal bei ihm zuhause und hat wohl erfahren, dass er im Krankenhaus ist. Wir sind hier, um ihn zu besuchen«, erwiderte Mama.
Die offizielle Frau tat gar nichts. Weder nicken noch sonst wie reagieren. Joachim saß regungslos auf dem Stuhl und starrte aus dem Fenster.
»Was ist passiert?«, unterbrach Mutter die Stille. Die Frau senkte den Blick, streckte die Finger beider Hände und ballte dann Fäuste. Ihr Kopf hob sich.
»Wann hat ihr Sohn Joachim besucht?«
Mutter überlegte, blickte mich abwesend an.
»Vor zwei Wochen, denke ich. Oder, Heinrich?«
Ich nickte, hätte aber auch freiwillig einen Handstand gemacht, nur um abhauen zu können. Die nächste Frage richtete sie direkt an mich.
»Also kurz nach Schulbeginn … vor zwei Wochen … Heinrich, heißt du, hab ich das richtig verstanden?«
Meine Blase meldete sich abrupt. Mir wurde übel. Ich nickte leicht.
»Ist dir da was aufgefallen?«, bohrte sie unwissentlich tief in mein Gewissen. Mein Zögern fiel auf. Mamas Hand landete auf meinem Kopf.
»Wenn du etwas gesehen hast, sag es einfach, Heinrich. Niemand tut dir etwas und für Joachim ist es vielleicht wichtig.«
Mein Herz klopfte wie Mutter ihren Spätzleteig.
»Sein Stiefbruder …«
»Ja?« War das Mutters Stimme? Ich wusste es nicht genau.
»Er hat ihn verprügelt. Durch die Tür hab ich es gehört. Dann hab ich geklingelt, weil ich wollte, dass es aufhört, aber es hat dann nicht aufgehört und Joachim hat geschrien, aber dann hat es doch aufgehört, weil ich hab noch mal geklingelt …«
Mutter zog mich auf ihren Schoss und drückte mich an sich.
»Pst … ist alles gut.«
Ich fing an zu heulen. Es war wie ein Krampf.
Die Frau hatte Mutter etwas zugeflüstert, sich bedankt und verabschiedet. Wir gingen zu Joachim ins Zimmer. Mama setzte sich neben ihn, zog mich auf den Schoss. Aus ihrer Tasche nahm sie den Orangensaft und das Asterix-Heftchen.
»Hallo, Joachim«, sagte sie leise. »Du kennst mich nicht. Ich bin Heinrichs Mama. Er hat mir erzählt, du bist im Krankenhaus. Da dachten wir, es kann ja nicht schaden, mal vorbeizukommen. Wir haben dir etwas mitgebracht. Damit du schneller gesund wirst.«
Joachim drehte den Kopf und sah uns an. Auf seiner Stirn zog sich eine genähte Narbe Richtung Scheitel. Die Haare waren links und rechts abrasiert. Unwillkürlich hob Mama die Hand und wollte sie auf Joachims Arm legen. Er zog ihn zurück. Ich wollte etwas sagen, dies und das reden. Dann fielen mir all die Freunde in Bremen und Frankfurt ein, einer schlimmer als der andere. Sie lösten sich in Luft auf. Es gab nur Joachim.
»Die Frau hat gesagt, du musst noch mindestens zwei Wochen hier bleiben. Dann ist dein Arm wieder verheilt. Was meinst du, sollen wir dich besuchen kommen? Vielleicht alle zwei Tage?«
Ich staunte über Mutters Vorschlag. Zwei Wochen, alle zwei Tage … sieben Besuche. Und was würde passieren, wenn Joachims Stiefbruder ebenfalls auf die Idee käme? Joachim nickte. Dann stand er auf und ging raus. Mutters Hand lag auf dem Tisch, mit der anderen drückte sie mich. Sie zitterte leicht. Etwas tropfte in meinen Nacken. Ein dicker Kloß wuchs in meinem Hals.
Als wir nach Hause kamen, fühlte sich die Wohnung kälter an. Mutter schwieg. Sagte nichts im Bus, nichts auf dem Weg von der Haltestelle hierher. Schloss die Tür auf und zog ihre Strickweste aus.
»Wasch dir bitte die Hände, Heinrich.«
Ich nickte, wusch meine Hände und setzte mich an den Esstisch. Geschirr klapperte in der Küche. Sie kam mit Brettchen, Besteck, einem Glas Gurken, holte Schwarzbrot und Käse, ein kleines Stück Fleischwurst. Sie tat all das schweigend. Ich spürte ihre Abwesenheit, als sei sie ein Geist. Wie sollte ich sie erreichen?
»Was wird mit Joachim passieren, Mama?«, durchbrach ich die Stille. Sie atmete tief ein und aus, stützte sich auf die Stuhllehne.
»Das war eine Frau vom Jugendamt, Heinrich. Wenn die Eltern nicht mehr für die Kinder sorgen können, dann muss das Jugendamt etwas tun. Das ist bei Joachim wohl der Fall. Er muss in ein Jugendheim.«
»Ist das schlimm?«
»Das … das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß es nicht. Ich hoffe …« Sie schluckte hörbar. »Ich hoffe, dass alles gut wird.«
Jugendheim. Weit weg von Mama. Mich fröstelte. Was ist, wenn Papa nicht mehr kommt?, fragte ich mich. Und Mama krank würde. Dann käme ich auch in ein Jugendheim.
»Wann kommt Papa?«, fragte ich schnell.
»Er ist in Aachen. Die Reinigung kann die ganze Nacht dauern, hat er gesagt.«
Mama setzte sich mir gegenüber, die Hände so weit ausgestreckt, dass ich meine unter ihre schieben konnte. Sie waren warm und weich.
»Warum muss Papa so viel arbeiten?«
»Damit es uns gut geht. Denk an das Zimmer bei Oma in Pforzheim. Wie eng das für uns drei war.«
Ich nickte. Aber an dem, was sie sagte, stimmte etwas nicht. Ich überlegte lange. Ihre Finger kraulten meine Handrücken. Was ich sagen wollte, ließ meinen Magen krampfen. Durfte ich das? Es war Mama …
»Mama?«
»Hm?«
»Manchmal höre ich dich weinen. Wenn ich im Zimmer bin. Bist du traurig wegen mir?«
Sie starrte mich entgeistert an. Zog ihre Hände weg, stand auf, verschwand im Schlafzimmer und machte die Tür zu. Ich starrte auf Käse, Gurken, Brot, meine Hände, die nun kühler wurden. Die Stille in der Wohnung war gewaltig.
Mama brachte mich eine Woche lang zur Schule. Ich wollte nicht mehr gehen. Das Bett war meine Insel, die Decke über dem Kopf. Den Wecker ignorierte ich. Sie kam immer mehrmals ins Zimmer, kraulte mich, sagte, dass das Leben mehr Zeit braucht, um richtig zu laufen. Versprach mir Pfannkuchen zum Frühstück. Sie wusch mich, zog mich an. Dann gingen wir los. Außerhalb der Sichtweite des Busbahnhofs blieb sie stehen und gab mir einen Kuss.
»Die anderen werden vielleicht lachen, wenn sie mich an deiner Hand sehen«, erklärte sie.
Ich nickte. Es war Freitag, Herr Bausch stellte sich mit gütigem Lächeln vor die Klasse.
»Liebe Kinder, leider muss ich euch sagen, dass Dirk nicht mehr kommt. Er, äh …« Herr Bausch räusperte sich und zeichnete mit den Händen Kreise in die Luft. »Er ist zu seinem Vater gezogen. Seine Mutter ist offenbar sehr krank.« Andauernd mit dem Kopf nickend, den Mund zusammengepresst, musterte er uns. »Das ist sehr traurig und wir wünschen Dirk alles Gute«, schob er nach.
»Den wollte hier sowieso keiner«, rief Klaus laut.
Ich schob meinen Stuhl zurück, stand auf und schlug Klaus mit allem, was ich an Kraft aufbieten konnte, die Faust an die Schläfe. Er kippte vom Stuhl und blieb reglos liegen. Langsam setzte ich mich wieder und blickte der Reihe nach in die Augen aller anderen.