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Hinterm Fenster

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24.06.2020
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Hinterm Fenster

Ich schaue aus dem Fenster und sehe Dunkelheit. Es ist Nacht, der Mond verweigert der Welt sein kaltes, beruhigendes Antlitz, und ohne ihn sind die Sterne äußerst scheu vor fremden Blicken, lassen sich nicht sehen. Die armen, denke ich, sie werden ja doch nur belächelt.
„Wer auch nicht?“, flüstert die Schreibfeder und streicht mir über die Wange. „Wer belächelt, wird belächelt, und da alle alle belächeln, werden alle von allen belächelt.“
„Das ist nicht schön, aber wahr“, sage ich und wende mich vom Fenster ab.
„Der Tote stinkt“, beschwert sich die Feder.
„Woher willst du das wissen? Du hast gar keine Nase.“
„Du aber schon. Du hast es grad geschrieben.“
„Oh.“
„Er stinkt.“
„Er liegt ja auch schon seit einer Weile dort.“ Ich nähere mich dem Toten, der tatsächlich fast schon unerträglich stinkt, und betrachte ihn. Er sitzt auf dem Boden und lehnt mit dem Rücken an der Wand. „Ein Wunder, dass noch keine Verwesung zu sehen ist.“ Ich stupse ihn mit dem Finger an, und plötzlich fällt sein linker Arm mit einem hässlichen Schmatzen von seiner Schulter ab und auf den Boden.
„Iiih!“ schreit die Feder, und kichert dabei.
Der Tote schlägt die Augen auf und starrt mich wütend an. „Was soll der Scheiß? Kannst du meine Extremitäten bitte lassen, wo sie sind?“
„Oh, das tut mir wirklich sehr leid“, stottere ich, „das war nicht meine Absicht. Ganz und gar nicht.“
„Das ist keine Entschuldigung. Jetzt bin ich um einen Arm ärmer, nur weil du es witzig fandest, mich mal anzufassen.“
„Tja, Nekrophilie ist eben eine Krankheit“, singt die Feder und schwebt auf des Toten Kopf, während ich würgen und mich schütteln muss. Hätte ich irgendetwas zu trinken im Mund gehabt, hätte ich es bestimmt ausgespuckt. Oder vielleicht auch nicht. Es hinge tatsächlich davon ab, was für ein Getränk es wäre. Wasser hätt´ ich ausgespuckt.
Der Tote schaut sehr alarmiert aus. „Bist du etwa ein Nekrophile?“
Ich muss wieder würgen. „Um Himmels Willen, nein, nein, ganz und gar nicht, nein! Um Gottes Willen, nein! Nein, wie schrecklich!“
Der Tote zieht eine Schnute, wobei sich kleine Fleischfetzen von seinem Gesicht lösen. „Ich schwanke gerade dazwischen, dich entweder wegen sexueller Belästigung oder Beleidigung anzuzeigen.“
„Warum nicht beides?“, kichert die Feder dazwischen, und ich würde sie am liebsten in der Mitte durchbrechen, aber ich halte mich zurück, denn sie ist meine letzte. Danach ist Schluss.
Der Tote scheint, sich schon umentschieden zu haben. „Ach, ich lass es lieber. Einem Toten glaubt doch eh keiner.“
„Oder zu viele“, sage ich.
„Das stimmt.“
Schweigen. Es ist kein unangenehmes Schweigen, kein Schweigen, in dem man vergeblich versucht, ein Gespräch zu entfachen. Kein Schweigen, in dem alle rumdrucksen und nicht wissen, was sie sagen sollen. Nein. Es ist eines dieser Schweigen, in dem jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt. Jedenfalls vermute ich das. Ich weiß ja nicht, was in den anderen vorgeht. Vielleicht haben sie ja gar keine Gedanken. Ich jedenfalls habe welche. Glaube ich. Vielleicht sind es auch gar nicht meine eigenen Gedanken. Kann auch sein. Was weiß ich schon, was ich denke?
„Wo sind wir überhaupt?“, fragt der Tote, und hebt dabei leicht den Kopf, wobei sich noch mehr Fleischfetzen lösen, dieses Mal von seinem Hals.
„Was weiß ich“, antworte ich, „irgendwo.“
Die Feder schwebt auf die Schulter des Toten und streichelt seine Wange, wovon langsam noch mehr Haut abblättert und zu Boden fällt. „Nirgendwo“, singt sie, „nirgendwo.“
„Jedenfalls nicht unter der Erde“, sage ich und schaue aus dem Fenster.
„Wieso nicht?“, fragt der Tote.
„Man kann den Himmel sehen.“
„Tatsächlich?“ Er versucht, aufzustehen, doch davon lösen sich nur seine Beine von seinem Oberkörper und rollen langsam davon. Wir schauen ihnen alle nach, wie sie rollen und rollen, bis sie von der nächsten Wand aufgehalten werden und nur noch leicht von links nach rechts wippen.
„Verdammt“, murmelt der Tote.
„Der Raum hier scheint ein wenig schief zu sein“, kichert die Feder, und schwebt von der Schulter des Toten auf die Fensterbank.
„Vielleicht solltest du dich nicht bewegen“, sage ich, „und wir sollten dich nicht berühren.“
„Damit kann ich leben“, brummt der Tote, und schließt die Augen. Dummerweise fallen ihm dabei die Lider ab, und sie bleiben offen. „Scheiße.“
„Wie war das mit dem Nicht-bewegen?“
„Ich habe das nicht als Bewegung erachtet.“
„Tja, ist es aber.“
„Hab ich jetzt auch gemerkt. Verdammt. Jetzt muss ich sehen.“
Ich schau mich im Raum um und entdecke einen Lampenschirm, der aus irgendeinem Grund in der einzigen Ecke des dreieckigen Raumes steht und Staub fängt. „Willst du einen Lampenschirm?“, frage ich.
„Einen Lampenschirm? Wozu?“
„Um ihn dir über den Kopf zu stülpen. Dann musst du nichts mehr sehen.“
„Sehe ich nicht schon lächerlich genug aus?“
Ich zucke nur die Schultern. „Macht das dann noch einen Unterschied?“
„Wohl nicht“, antwortet der Tote niedergeschlagen und lässt den Kopf sinken, wobei sein Skalp langsam nach vorne rutscht und auf den Boden klatscht. Ganz kurz herrscht Schweigen, dann starren mich die kalten Augäpfel äußerst beunruhigend an. „Setz mir den verdammten Lampenschirm auf.“
„Wird gemacht.“ Ich hebe den Lampenschirm auf, er ist schmutzig grün-schwarz, und stülpe ihn dem Toten über den Kopf.
„Danke“, dringt es dumpf durch den dicken Stoff hindurch.
„Gerne“, sage ich, und meine das auch. Ich bin erleichtert, dass ich diesen Anblick nicht mehr ertragen muss. Bald schnarcht der Tote auch, zum Glück gedämpft.
Die Feder schläft schon. Friedlich, weich, leicht wie… nun, wie eine Feder. Ich schaue aus dem Fenster und sehe nur Dunkelheit. Sonst nichts.

**​

Ich schaue aus dem Fenster und sehe Wolken. Graue Wolken, die sich in schwindelerregenden Höhen über der Erde aufbäumend übereinander türmen, tobend miteinander balgen und ihre aufgestauten Innereien in Form von Blitzen, Regen und Hagel auf die Welt entladen. Sie sind ein stürmisches Volk, die Wolken.
Die Feder schwebt ganz kurz aus dem Fenster, und ich muss sie im letzten Moment packen und an mich ziehen, damit sie nicht vom Wind in mein Vergessen gerissen wird.
„Das ist aber mal ein ziemlich hoher Turm“, singt die Feder und tut, als ob nichts gewesen wäre.
„Wir sind in einem Turm?“, frage ich, „das wusste ich nicht.“
„Sieht jedenfalls so aus“, erklärt die Feder mir wichtigtuerisch und lässt sich sanft auf den Schreibtisch sinken, der neben dem Fenster steht. „Kein Haus ist so hoch. Wir sind ja fast auf Augenhöhe mit Wolken und Wind.“
„Das stimmt“, sage ich.
„Der Vogel, dem ich einst gehörte, hätte das Unwetter da draußen überlebt“, prahlt die Feder.
„Du aber nicht.“
„Natürlich. Ich war die Personifikation seiner selbst, und als ich ihm entrissen wurde, hat er auch nicht mehr lange gelebt. Er ist ausgestorben.“
„Du hältst dich wohl für besonders wichtig, wie?“, sage ich geringschätzig, „Wem hast du gehört? Einer Ente? Einem Huhn?“
Die Feder ist empört. „Natürlich nicht! Mir gehörte ein wunderschöner Rabe. Groß und stark war er.“
„Jetzt ist er nicht mehr.“
Hätte sie Schultern, hätte die Feder sie jetzt gezuckt. „Das ist wohl so. Ich bin noch. Und werde auch auf ewig sein.“
Ich schnaube nur. „Das sagen alle Federn.“
„Tja, ich bin nun mal nicht wie alle Federn.“
„Das sagen auch alle Federn.“
Die Feder schweigt beleidigt. Ich schweige auch, ich genieße die Stille, für die nun endlich mal wieder Platz ist. Ich schau mich in dem Raum um. Der Tote sitz noch immer an die Wand gelehnt da, mit dem Lampenschirm auf dem Kopf, und schnarcht. Der Gestank ist nicht besser geworden, aber ich habe mich daran gewöhnt. Musste ich ja auch irgendwann.
Eigentlich ist dieser Raum ja viel zu groß, um ein Raum zu sein, denke ich. Er verliert sich in der Dunkelheit, die eigentlich überall dort herrscht, wo das Licht, das durch das Fenster dringt, und das, welches die ein oder andere Lampe verbreitet, nicht hinfällt. Also fast überall. Ich war auch nie woanders in diesem Raum, muss ich sagen. Immer nur hier, am Fenster. Ich frage mich, was dort wohl alles liegt. Wie groß dieser Raum überhaupt ist.
„Das wirst du nicht mehr erfahren“, flüstert die Feder, die sich von mir unbemerkt auf meine Schulter gelegt hat.
„Glaub ich auch“, sage ich. „Viel zu groß.“
„Woher willst du das wissen? Genau dort könnte eine Wand sein, die du nur nicht siehst, weil sie im Dunkeln liegt.“
„Das stimmt. Es könnte aber auch ein ganzes All dort sein. Eine ganze Welt. Riesige Weiten, Berge, Flüsse, Täler, Wüsten, Felder, Savannen, Wälder… alles.“
„Oder nur ein riesiges Nichts. Leere und Stille.“
„Das stimmt.“
„Oder am Ende sogar ein ganzer Kosmos.“
„Wir wissen es nicht.“
„Nein, wir wissen es nicht.“
„Schade“, sage ich. „Wirklich schade.“
„Nur, wenn du dran denkst“, erwidert die Feder, und da ist was dran. „Natürlich ist da was dran“, sagt sie, und schwebt wieder davon.
„Mach den verdammten Schirm weg!“, kommt es dumpf vom Toten, und ich guck gerade noch rechtzeitig hinüber, um zu sehen, wie er sich den Schirm vom Kopf schlägt, sodass dieser auf mich zu fliegt und vor meine Füße fällt. Sein rechter Arm fällt von seinem Körper ab, der nun auch noch kopflos ist, da sich dieser dummweise noch im Lampenschirm befindet.
„Verdammt“, sagt der Lampenschirm, und ich entferne ihn, um den Kopf freizulegen, der zornig zu mir hinaufstarrt. Oder auch einfach nur so zu mir hinaufstarrt. Ohne Augenlider ist das schwer auszumachen.
„Tja, du wirst vom Unglück verfolgt“, sage ich und heb den Kopf hoch, wobei sich wieder Fleischfetzen lösen und zu Boden gleiten.
„Das sieht aber hässlich aus“, kichert die Feder.
„Halt dein Maul“, zischt der Kopf.
„Das ist wirklich nicht sehr nett“, sage ich und lege den Kopf auf der Fensterbank ab.
„Das ist es nie“, schreibt die Feder und legt sich schlafen.
Schweigen. Der Kopf starrt nach draußen und staunt. Die Wolken sind jetzt höher als der Himmel selbst, ich stelle mir vor, wie sie das Weltall erklimmen und sich als grauer Nebel um Planeten und Sterne wickeln. Was für ein absurder Gedanke.
„Das sind also Wolken“, sagt der Kopf, und würde wohl vor Freude weinen, wenn er könnte.
„Das sind Wolken“, sage ich.
Jetzt starrt der Kopf wieder mich an. „Du siehst aus wie ich“, stellt er fest.
„Das glaub ich nicht“, sage ich und schüttele den Kopf. „Ich hab doch Augenlieder.“
„Denk sie dir weg oder mir dazu.“
Ich tu´s. „Kann schon sein. Muss aber nicht. Es ist nichts unmöglich, selbst das Nichts.“
„Du siehst aus wie ich“, sagt der Kopf bestimmt.
Ich schnaube. „Vielleicht siehst du ja aus wie ich.“
„Das ist auch möglich.“
„Alles ist möglich.“
Der Kopf schweigt. Doch könnte er nicken, würde er es tun.
Ich schaue aus dem Fenster und sehe Wolken.

**​

Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Tore von Himmel und Hölle. Beide sind geschlossen, beider Eintritt bleibt mir verwehrt. Sie sehen ziemlich gleich aus, keine besonderen Verzierungen, keine hochleckenden Flammen umgeben das eine, keine singenden Engel fliegen vor dem anderen umher. Sie sind beide schlicht, aus Holz oder Stein oder Stahl, und ragen in die Höhe. Denn groß sind sie, das muss man ihnen lassen. Sehr groß. Riesig. Doch das ist auch schon das einzig bemerkenswerte an ihnen.
„Wir sind näher am Boden als vorher“, sage ich, „der Turm wird kleiner.“
„Ja“, stimmt mir der Kopf, an dem nun wirklich kein Fetzen Fleisch mehr hängt, mit klappernden Zähnen zu. „Irgendwann sind wir ganz unten angelangt.“
„Ist das nicht immer so?“
„Das ist immer so.“
Schweigen. Die Feder ist schon lange in der Mitte zerbrochen und liegt nun neben dem Kopf auf der Fensterbank. Sie sollte wohl doch nicht sein.
Der Kopf schaut immer noch aus dem Fenster, starrt mit seinen leeren Augenhöhlen irgendetwas an, was ich nicht sehen kann. Ich mach es ihm gleich.
„Warten ist nicht einfach, wie?“, sage ich.
„Das ist es nie“, klappert der Kopf zurück, und ich greife unwillkürlich zu dem Zettel, auf den die Feder genau das gleiche geschrieben hat. Das ist es nie.
Wieder Schweigen. Das ist zwar schön, aber manchmal auch zu viel. Jetzt ist manchmal. „Glaubst du, die Tore stehen noch lange?“, frage ich.
„Keine Ahnung. Die stehen doch nie sehr lange.“
„Das stimmt. Vielleicht wird’s ja dieses Mal länger sein.“
„Glaub ich nicht“, sagt der Kopf.
Schweigen.
Licht. Irgendwo zwischen den beiden Toren blitzt es grell und weiß auf, und ich muss kurz die Augen schließen. Ich öffne sie wieder, und die Tore zerbröckeln und fallen wie in Zeitlupe geräuschlos zur Erde, wirbeln Tonnen an Staub auf und sind plötzlich nicht mehr da.
„Der Turm senkt sich wieder schneller“, sage ich, „es wird nicht mehr lange dauern.“ Ich schau zum Kopf, doch an seiner Stelle liegt nun nur noch ein Häufchen Staub. „Oh.“
Der Turm wird jetzt immer schneller, und ich schaue immer angestrengter aus dem Fenster. Und plötzlich ist da nur noch grelles, weißes Licht, und danach nur noch Dunkelheit.
Jetzt werde ich es nicht mehr merken, wenn ich endlich den Boden erreiche.

 

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