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Hirnstoffwechsel

Wortkrieger-Team
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09.12.2016
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Hirnstoffwechsel

Ich zerrte meinen Koffer aus dem Bus und sah mich nach einer Riksha um, aber es gab keine. Über der leeren Dorfstraße brütete die Mittagshitze. Während ich überlegte, wen ich nach einer Unterkunft fragen sollte, hörte ich den Bus davonrumpeln und war kurz davor, ihm hinterherzujagen. Selbst ein Stehplatz schien mir verlockender, als allein durch dieses abgelegene indische Dorf zu stolpern. Aber genau das hatte ich ja gewollt. Einen Ort, an dem ich ungestört schreiben konnte.
Ich zog den Haltegriff aus dem Koffer, rollte ihn hinter mir her die Straße hinunter und warf einen flüchtigen Blick auf das Gebirgspanorama. Das Röhren des angeschlagenen Busmotors wurde leiser.
Ein Gemischtwarenladen, eine Bäckerei, eine Werkstatt. Alle geschlossen. Keines der kommenden Häuser sah nach einem Hotel aus. Ich beschleunigte meinen Schritt. Der Typ im Reisebüro in Delhi hatte gesagt, dass es hier eine Pension gäbe. Meine Finger krallten sich fester um den Griff, bis ich schließlich stehen blieb. Der Ort war zu Ende.
Ich sah die Landstraße hinunter und zwang mich, ruhig zu atmen, als mein Blick auf ein kleines Holzschild am Straßenrand fiel. Rams Familiengästehaus, las ich. Darüber war ein Pfeil gezeichnet, der auf eine Seitenstraße zeigte. Sie schlängelte sich steil einen Berg hinauf. Irgendwo bellte ein Hund.
Während ich losmarschierte, dachte ich an die Kollegen aus der Verwaltung bei Lebensfroh-Versicherungen und versuchte, mir ihre Gesichter vorzustellen. Es gelang mir nicht. Zehn Jahre. Arbeiten. Schlafen. Arbeiten. Bis ich nicht mehr konnte. Danach hatten sie für meinen Job drei Leute eingestellt.
Ich kickte einen Kieselstein zur Seite und ging schneller. Endlich Ruhe. Endlich das tun, was ich schon immer machen wollte. Ausspannen, meditieren, schreiben.
Nach einer Weile blieb ich keuchend stehen. Der Schweiß strömte mir übers Gesicht, und das Blut rauschte in meinen Ohren. Bisher war ich nur an ein paar Bauernhäusern vorbeigekommen. Ich trank die lauwarme Wasserflasche fast leer, blinzelte in die Landschaft und ärgerte mich, dass ich keine Sonnenbrille dabeihatte. Unverschämt grün thronte der Himalaya über dem staubigen Tal. So grün, als wollte er es verspotten. Ich atmete einmal tief durch. Es roch nach Kuhfladen und Kiefernnadeln. Der Koffer nervte. Hätte ich doch lieber einen Rucksack mitnehmen sollen? Nein, irgendwie war ich aus dem Alter raus.
Das Haus tauchte direkt in der Kurve vor mir auf. Es war einstöckig und hatte eine schmutzig-weiße Fassade. Nur die Türen waren gestrichen worden, sie leuchteten blauer als der Himmel.
„Du haben große Tasche!“, rief mir eine füllige Bauersfrau mit schiefen Zähnen zu, die vor einem der beiden Erdgeschossräume auf einem Plastikstuhl saß. Ich lachte.
„Na ja, soll ja auch für ein halbes Jahr reichen“, sagte ich und fragte nach einem Zimmer.
Die Frau lächelte mich breit an, zog ihre enge Strickjacke fester um sich und erhob sich schwerfällig. Dann gab sie mir ein Zeichen, ihr die Außentreppe hinauf zu folgen, die zu einem weiteren Zimmer im ersten Stock führte. Ich stellte meinen Koffer ab und folgte ihr.
Eigentlich wäre alles voll, meinte sie. Es würden nur die unteren Räume vermietet, einer wäre besetzt, und in dem anderen hätte jemand noch Gepäck stehen, der vor einer Woche in die nächst größere Stadt verschwunden war. Sie drückte die Tür auf und winkte mich hinein. „Hier du können bleiben.“
Ich sah mich in dem Raum um. Ein Privatschlafzimmer. Über dem breiten Bett hing das gerahmte Schwarzweiß-Porträt eines jungen Mannes mit Afro und vollen Lippen, vom Sofa glotzten mich mindestens ein Dutzend Stofftiere an.
„Mein Name Vimla“, sagte die Frau. „Dein Name?“
„Alice.“
„Schöner Name. Wo du herkommen?“
„Aus Deutschland … äh … Hamburg?“
„Du verheiratet?“
„Nein.“
„Gut!“ Sie hielt den Daumen hoch. Ich lachte, handelte den Preis für das Zimmer aus und holte mein Gepäck.
„Essen extra“, sagte Vimla, als ich zurückkam. „Ich kochen. Du geben, was du wollen.“ Sie zeigte auf die Wand zum Nachbarhaus und erklärte, dass da die Familie wohne. Dann ließ sie mich allein.

Einen Moment lang blieb ich im Raum stehen und kam mir vor wie ein Einbrecher zwischen all dem fremden Kram. Mein Blick fiel auf das Porträt. Der junge Mann schaute rebellisch und gleichzeitig sanft in die Kamera. Er erinnerte mich an die Anarchisten, für die ich als Teenager geschwärmt hatte. Ich ging näher an das Bild heran. Ram stand darunter. Vor dem Fenster brummte eine Fliege. Draußen fuhren Kinder mit Holzbrettern auf Rädern die Straße hinunter.
Ich setzte mich so vorsichtig aufs Bett, als sollte niemand merken, dass ich da wäre. Die Minuten verstrichen. Dann stand ich mit einem Ruck auf, schob die Stofftiere in eine Ecke, verteilte meine Klamotten auf dem Sofa und schnappte mir Ringbuch und Stift. Über den Himalaya wollte ich schreiben, den Einfluss seiner Sagen und Mythen auf die Kultur. Material hatte ich schon genug gesammelt, aber die spezielle Atmosphäre konnte ich nur vor Ort erfahren. Ich öffnete die Tür, setzte mich auf die Schwelle und betrachtete die Berge.
Der Himalaya ist ... begann ich und kaute am Stift. Unten hockte ein junger Inder auf einer kleinen Mauer, die das erste Zimmer von der Straße trennte. Er war westlich gekleidet, mit Jeans und einem roten weiten T-Shirt. Seine helle Haut, das schulterlange Haar und die spitze Nase ließen mich vermuten, dass er Student war. Ich klopfte mit dem Stift aufs Papier. Dann starrte ich die Berge an, als würde mir jemand ein Foto vor die Nase halten, das ich unbedingt gut finden sollte.
Der Himalaya ist ... Über den Bergwipfeln zogen Wolken auf. Unten hielt ein weißer Roller und ein kleiner, gedrungener Typ in weißer Kurta und Hose stieg ab. Ich schätzte ihn etwas älter als mich, etwa Mitte vierzig. Er blickte geschäftig umher, redete mit dem jungen Mann, der reglos vor sich hinstarrte, und sah dann zu mir nach oben. Ich klopfte weiter mit dem Stift aufs Blatt und nickte ihm freundlich zu. Er nickte zurück und winkte mich mit einem glatten Lächeln hinunter.

Als ich unten ankam, lief er sofort auf mich zu. „Ram.“ Er streckte mir seine Hand entgegen.
Ich zögerte kurz, bevor ich sie ergriff. Das war Ram? Der Typ auf dem Bild?
„Alice … Du bist also der Besitzer hier?“
„Oh nein, nein. Der Besitzer ist Gott.“
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte und schielte zu dem jungen Mann hinüber. Vimla rief nach Ram. Als er Richtung Haus wieselte, blickte ich ihm nach. Von dem Mann auf dem Bild war nichts mehr übriggeblieben. Ich fragte mich, ob die Leute das auch über mich dachten, wenn sie ein altes Foto von mir sahen.
„Gehörst du zur Familie?“, fragte ich den Unbekannten auf der Mauer.
„Nein. Ich bin hier auch Gast“, sagte er, ohne mich anzusehen.
„Und wo kommst du her?“
„Delhi.“
„Oh, okay. Ich heiße Alice.“
„Vijay."
Ende der Konversation.

Bei Einbruch der Dunkelheit ging ich ins Familienhaus zum Abendessen. Der Speiseraum war ein Holzverschlag auf dem Flachdach der Küche und grenzte an eine Kammer, in der Vimla und Ram schliefen. Ich kletterte die Stiege zur Dachluke hoch und kam in einen niedrigen Raum mit einem kleinen, verrosteten Ofen in der Mitte. Auf dem Boden lagen Teppiche, an den Wänden Matratzen. Ram saß auf einer von ihnen und hielt den Blick auf einen großen Fernseher gerichtet, der am Ende des Raumes zwischen zwei Plüschgiraffen stand. Ihre Hälse reichten bis zum oberen Bildschirmrand. Vijay hing ein paar Matratzen weiter in den Kissen und betrachtete seine Fingernägel. Ich stakste auf den Platz ihm gegenüber zu, strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr und setzte mich schnell hin.
Vimlas im Nacken zusammengeknotetes Kopftuch erschien in der Dachluke. Sie trug einen großen Topf mit gerußtem Boden und drei Plastikteller, die sie kurz darauf randvoll mit Reis und Linsen füllte. Den ersten gab sie ihrem Mann, die anderen beiden Vijay und mir. Dann setzte sie sich in eine Ecke, zupfte sich die Pumphose zurecht und beobachtete mich. Ram sprach das Tischgebet.

Als ich den Teller halb geleert hatte, sah er immer noch voll aus. Ich legte den Löffel zur Seite und spähte in die Runde. Vijay und Ram schoben sich das Essen geschickt mit den Fingern in den Mund, Vimla verscheuchte eine Fliege und starrte mich nach wie vor an.
„Isst du nichts?“, fragte ich.
Sie lächelte mir zu.
„Sie isst später unten in der Küche“, sagte Ram in väterlichem Ton und wandte sich wieder dem Programm zu.
Obwohl bereits der Reis in meinem Magen aufging, beugte ich mich wieder über meinen Teller und schaufelte mir das Essen bis zum letzten Bissen rein. Wenn die arme Frau schon in die Küche verbannt wurde, sollte sie wenigstens stolz auf ihre Kochkünste sein.
Vimla griff nach dem Topf und steuerte mit leuchtenden Augen auf mich zu. Ich winkte ab.
„Du hast doch einen kräftigen Körper, warum isst du nicht“, sagte Ram.
Ich lehnte abermals ab.
„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er.
„Neununddreißig.“
„Fast vierzig, aha, aha. Du erinnerst mich an eine Tante von mir. Dasselbe Gesicht, die Haare hat sie auch immer aufgesteckt und ein bisschen fett ist sie auch.“
Ich schnappte innerlich nach Luft. Hatte ich jetzt richtig gehört? Bevor mir eine passende Antwort einfiel, stellte er schon die nächste Frage.
„Hast du Kinder?“
Ich schüttelte den Kopf. Vimla warf mir einen mitfühlenden Blick zu.
„Was? Neununddreißig und keine Kinder?“ Ram lachte. „Was machst du denn dann den ganzen Tag? Meine Tochter ist zwanzig Jahre jünger als du und im neunten Monat schwanger. Wenn die in deinem Alter ist, habe ich mindestens fünf Enkel.“
Ich zog die Mundwinkel auseinander und nickte.
„Danke fürs Essen, es war wirklich sehr gut“, sagte ich, stand etwas zögernd auf und sah zu Vijay hinüber, aber der betrachtete seine Fingernägel.

„Chai?“, rief Vimla, als ich mich am nächsten Morgen mit meinem Ringbuch in den Türrahmen hockte.
„Nein. Später“, sagte ich. Ihr Lächeln erlosch.

Drei Stunden später hatte ich fünf Sätze geschrieben, von denen ich vier wieder strich. Dann sank meine mühsam aufrecht erhaltene Laune in den Keller.
Vijay schlich unten herum, die Haare standen ihm zu Berge. Nach einer Weile hörte ich, wie er seine Zimmertür abschloss. Er hängte sich eine Stofftasche über die Schulter, sah zu mir hoch und schien tatsächlich zu lächeln.
„Ich geh runter ins Dorf. Wie sieht‘s mit Mittagessen aus?“
Ich schüttelte den Kopf.
Er sah mich forschend an. „Soll ich dir Schokolade mitbringen?“
Ich nickte.

Als Vijay eine Stunde später zurückkam, zerknüllte ich das Blatt. Er kam zu mir nach oben, gab mir ein KitKat und warf einen Blick auf mein leeres Ringbuch.
„Schreibst du?“
„Ich versuche es.“
„Manchmal klappt es einfach nicht. Egal, wie sehr man sich bemüht.“
„Hm. Stimmt. Vielleicht sollte ich einfach warten, bis mir was einfällt. Unter Druck setzen bringt eh nichts."
„Außer, du hast 'ne Deadline. Morgens tritt Narendra Modi zurück, und nachmittags musst du den Text fertig haben. Inklusive Analyse und Prognose."
Ich hob den Kopf und sah ihn an.
Er lächelte. „Standardübung bei uns an der Uni."
Wieder sah er auf mein Buch, warf mir einen aufmunternden Blick zu und sprang die Treppe hinunter, die flachen Hände in den Hosentaschen. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Mauer und begann, in seinem Schoß einen Joint zu bauen.
Ich legte das Buch weg und trat hinaus auf die Treppe. Die Sonne stand hoch, die Luft klebte. Wolken schoben sich über die Wipfel.
„Möchtest du?“ Vijay hielt den fertigen Joint hoch. Grinsend zog ich die Tür hinter mir zu und lief zu ihm hinunter. Ich hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gekifft, und nach ein paar Zügen merkte ich, wie sich meine Glieder entspannten. Es schien doch noch ein guter Tag zu werden.
„Was machst du denn, wenn dir nichts einfällt?“, fragte ich, während ich eine Regenwolke beobachtete. Sie waberte auf einen Bergwipfel zu und lullte ihn ein, bis er verschwand.
„Na ja, das hast du ja gestern gesehen“, sagte Vijay und lachte. „Aber heute geht's mir schon besser. Ich habe das hier.“ Er hielt mir den Joint hin. Ich lachte. Dann fiel mein Blick auf das Türschloss vor dem Raum neben seinem.
„Der Typ scheint immer noch nicht zurück zu sein.“
Vijay folgte meinem Blick. „Ja, der ist schon seit ‘ner Woche verschwunden. Keine Ahnung, was mit dem ist, ich kenn den auch nur flüchtig. Ich weiß nur, dass er Jack heißt, aus England kommt und vierundzwanzig ist. Genau wie ich.“
Ich nahm einen tiefen Zug.
„Soll ja helfen", sagte ich mit erstickter Stimme. Er sah mich fragend an. Ich nickte dem Joint zu, reichte ihn ihm und blies den Rauch aus.
„Kommt drauf an", sagte er und begann, von dem Roman zu erzählen, an dem er schrieb. Es ging um Reisen und Drogen. Fünf Kapitel hatte er schon geschafft, aber zufrieden war er nicht.
Ich musste innerlich grinsen und empfahl ihm ein paar Bücher zu dem Thema, die mich in seinem Alter auch begeistert hatten. Die kannte er aber schon und empfahl mir Bücher zu meinem Thema, die ich noch nicht kannte. Erst als ich Ram auf seinem Scooter die Straße hochtuckern hörte, fiel mir auf, dass es bereits später Nachmittag sein musste.
„Ist dieser Jack jetzt endlich mal aufgetaucht?“, wollte er von Vijay wissen, während er abstieg. Vijay schüttelte den Kopf. Ram rückte sich die Hose unter dem Bauch zurecht und sah mich mit festem Blick an. „Seit über einer Woche blockiert der mit seinem Gepäck das Zimmer.“ Er wies mit dem Kinn auf die verschlossene Tür.
„Ja, das habe ich schon gehört“, sagte ich. Mein Mund fühlte sich trocken an.
„Wieso hat er es nicht einfach mitgenommen, wenn er woanders hinfährt?“
Ich zuckte die Achseln. Er klappte den Sitz hoch, holte einen Jutebeutel mit Lebensmitteln aus dem Inneren seines Scooters und verschwand schimpfend im Familienhaus. Vijay malte mit einem Stöckchen kleine Kreise vor sich hin.
„Ich geh jetzt mal rein“, sagte er nach einer Weile. „Ram hat mir irgendwie die Laune verdorben. Wir sehen uns bestimmt später.“ Ohne ein weiteres Wort hüpfte er von der Mauer.

Zurück im Zimmer, legte ich mich aufs Bett. Als ich erwachte, dämmerte es. Neben mir lag das leere Ringbuch. Ich beachtete es nicht weiter, rappelte mich auf und trat vor die Tür. Es war immer noch bewölkt, aber die Treppe unter meinen Füßen war warm und trocken. Vijay und Ram saßen auf den Plastikstühlen und schauten die Straße hinunter. Als Vijay mich entdeckte, erhellte sich sein Gesicht.
„Komm runter“, rief er. „Hast du was geschafft?“
„Nein. Du?“
„Nein.“ Er stand auf und bot mir seinen Platz an.
„Nee, lass.“ Ich blieb an der letzten Stufe stehen.
„Ist schon okay. Ich wollte sowieso mal eben ins Dorf runter, um ein bisschen was einzukaufen. Brauchst du was?“
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, warum ich überhaupt heruntergekommen war.

„Ich denke, er verkauft Drogen“, begann Ram, als Vijay außer Hörweite war. „Der hängt hier schon seit Wochen rum und arbeitet nicht. Wie kann der sich das leisten?“
„Er kommt aus einer wohlhabenden Familie und studiert“, wiederholte ich, was Vijay mir am Nachmittag erzählt hatte. „Sein Vater finanziert ihm das Studium und den Unterhalt.“
„Ich sehe ihn aber nie studieren.“
„Es sind Semesterferien.“
„Na ja, was soll ich dazu sagen. Das beeindruckt auch die Mädchen nicht, wenn man nicht arbeitet. Ich hab mein Leben lang hart auf der Farm meines Vaters gearbeitet und hab immer viele Freundinnen gehabt. Auch jetzt manchmal noch. Aber leider ist schon lange keine hübsche junge Touristin mehr hier gewesen.“ Er sah mit verschleiertem Blick in die Dämmerung, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Ich trommelte mit der Faust auf das steinerne Treppengeländer und beschloss gerade, zurück ins Zimmer zu gehen, als Vimla uns zum Essen rief.

Dummerweise lief der Fernseher diesmal nicht, also starrte ich aus dem Fenster. Vijay ließ sich nicht blicken. Ram betete und wünschte mir dann einen guten Appetit.
„So schnell zu essen ist gar nicht gesund“, sagte er nach einer Weile und deutete auf meinen Reis. Ich antwortete nicht, schob kurz darauf den leeren Teller von mir und stand auf. In Indien gilt es als unhöflich, nach dem Essen nicht sofort zu gehen, also brauchte ich nicht nach einer Ausrede suchen. Ram hörte auf zu kauen, rülpste und sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an.
„Hast du deinen Körper eher von deiner Mutter oder von deinem Vater?“, begann er.
Wieder schnappte ich nach Luft.
„Dein Gesicht ist sehr weiblich, aber dein Körper ist eher wie von einem Mann.“
Ich atmete hörbar ein und wieder aus. „Ich habe keine Lust, mir ständig Kommentare über meinen Körper anzuhören“, sagte ich und ärgerte mich, dass meine Stimme dabei zitterte. Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte ich aus dem Zimmer.
Unten ertappte ich mich dabei, wie ich an mir hinabsah. Alles noch dran. Gut, ich war nicht gertenschlank, aber deshalb sah ich noch lange nicht aus wie ein Sumoringer. Ich eilte an Vijays offener Tür vorbei. Er lag im Dunkeln auf dem Bett und klimperte einen Bob Marley-Song auf der Gitarre.
„Wie war das Essen?“, rief er mir nach.
„Wie immer.“ Ich drehte mich um und knipste ein schiefes Lächeln an. „Hattest du keinen Hunger?“
„Nein, ich versuche, Ram aus dem Weg zu gehen.“
„Kann ich verstehen.“
Er stimmte einen Song von Neil Young an. „Old man look at my life, twenty four and there’s so much more.“
Ich musste grinsen und wünschte ihm eine gute Nacht. Seufzend setzte ich mich auf die oberste Treppenstufe. In den Büschen sägten die Zikaden. Ich legte den Kopf weit in den Nacken. Die Wolken hatten sich verzogen, und ein sternenklarer Himmel blickte auf mich herab.
Als ich in meinem Zimmer Licht machte, fiel mein Blick sofort auf das Porträt. Ich nahm es ab und ließ es in der Nachttischschublade verschwinden. An der Wand blieb ein heller Fleck zurück.

Vijays Tür war verschlossen, als ich am nächsten Morgen vom Außenklo zurück in mein Zimmer trottete. Vimla kam mit einem kleinen Tablett und brachte mir ein Glas Chai. Sie bemerkte meinen Blick.
„Vijay in die Stadt fahren. Geld holen“, sagte sie. „Abend zurück sein.“
Ich ging ins Zimmer und brachte tatsächlich ein paar Zeilen zustande, die nicht gleich in den Mülleimer flogen. Draußen entlud sich die Schwüle des letzten Tages mit einem heftigen Regenschauer und kroch dann langsam wieder heran. Ich grübelte über einem Satz und schnappte mir gerade mein Wörterbuch, als es klopfte.
„Ja?“
„Ram.“
Ich verdrehte die Augen, legte den Stift weg und stand auf.
„Ich hab dich heut den ganzen Tag nicht gesehen.“ Ram quetschte sich an mir vorbei und schloss die Tür. „Der Engländer war endlich da und hat sein Gepäck abgeholt. Das Zimmer ist jetzt wieder frei. Willst du umziehen?“ Er schob meine Schreibsachen zur Seite, seine Hosenbeine ein Stück hoch und setzte sich aufs Bett. Ich rührte mich nicht und merkte, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.
„Ich hab aber niemanden unten gehört“, sagte ich.
„Hab oben im Haus mit ihm geredet, und dann ist er alleine in sein Zimmer und hat gepackt.“
„Und warum war er so lange weg?“
„Ach na ja, Hippies.“ Er winkte ab. „Er hat kein Geld gekriegt. Tsss. Deshalb hing er in der Stadt fest, bis ihm jemand was geschickt hat. Was soll ich dazu sagen.“ Kopfschüttelnd sah er auf den Boden. „Ich kenne diese Leute. Alles Drogenleute. Immer dieselbe Leier, ich hör da schon gar nicht mehr hin.“ Er blickte mich an. „Warum setzt du dich nicht?“ Mit der flachen Hand klopfte er auf den Platz neben sich.
„Ich war eigentlich grad auf dem Sprung und wollte mir mal ein bisschen die Beine vertreten, jetzt, wo der Regen nachgelassen hat. Ich überleg mir das mit dem Zimmer“, sagte ich und öffnete die Tür. Er zögerte einen Moment, bevor er sich erhob. Sein Blick fiel auf den hellen Fleck an der Wand. Ich hielt kurz die Luft an und suchte nach einer Ausrede, aber er sagte nur: „Gut, du darfst gehen. Aber denk daran, dass es bald dunkel wird.“ Er streifte im Vorbeigehen meinen Arm.

Nachdem er gegangen war, durchfuhren mich nur vier Worte: Ich. Muss. Hier. Weg. Ich lief im Zimmer auf und ab. Bis ich gepackt hätte, wäre der letzte Bus weg und der nächste Taxistand zwei Stunden Fahrt entfernt. In der Stadt.

Ich lief einfach drauf los. Vor mir wand sich die Straße zum Dorf hinunter. Nach dem Regen sah sie aus wie gebohnert. Über mir hing ein weißer Himmel, graue Wolken krochen langsam die Wipfel herunter. Es wehte kein Lüftchen.
Während ich lief, hoffte ich, einen klaren Kopf zu bekommen, aber meine Gedanken schossen wie Düsenjäger durch mein Hirn, ohne, dass einer von ihnen landete. Unten an der Hauptstraße folgte ich einem Trampelpfad, der den Berg wieder hinaufführte. Ich musste nur noch diese Nacht überstehen, und dann wäre ich weg. Weit weg von diesem Ram.
Als ich nach einiger Zeit den Kopf hob, bemerkte ich, dass die Kiefern dichter geworden waren. Allmählich begann es zu dämmern. Ich blieb stehen und sah mich um. Zurücklaufen war zwecklos, der Weg war zu lang. Also beschleunigte ich meinen Schritt und marschierte weiter geradeaus. Nach einer Weile begann ich zu laufen. Bloß nicht den Kopf verlieren. Irgendwann musste doch wieder eine Straße kommen. Ich stolperte über Baumwurzeln, saute mir die Sandalen in dem schlammigen Boden ein und lief immer weiter. Die Luft wurde kühler und roch nach feuchter Erde.
Es war schon fast dunkel, da erblickte ich die Straße. Die zerzausten Kronen der Kiefern hoben sich schwarz gegen den milchigen Himmel ab. Ich blieb kurz stehen, keuchte und rannte dann bergab, immer am Waldrand entlang. In das Keuchen mischte sich Wimmern. Der Asphalt wurde undeutlicher.
Zwei Minuten später sah ich Vijays verschlossene Tür. Eine Sekunde atmete ich auf, aber dann erinnerte ich mich wieder an die Situation. Ich lief ins Zimmer und sammelte mich ein paar Minuten. Dann spülte ich die Sandalen in dem kleinen Handwaschbecken neben dem Nachttisch ab. Ich hätte ja sowieso wieder hierher zurückgemusst.

Nach einer unruhigen Nacht wurde ich von der Sonne geweckt, die durch die hellen Vorhänge schien. Während ich mir die Zähne putzte, kam mir der gestrige Abend plötzlich unwirklich vor. Das war eben eine andere Kultur, Privatsphäre gab es hier nicht. Und dass Ram meinen Arm gestreift hatte, konnte auch Zufall gewesen sein.

„Vijay ist nicht zurückgekommen“, sagte Ram beim Abendessen.
Ich schüttelte den Kopf und bedankte mich bei Vimla, die mir den Teller aufgefüllt hatte.
„Indische Jack“, sagte sie.
„Ja“, sagte Ram. „Das ist jetzt das zweite Mal innerhalb von zwei Wochen, dass jemand sein Gepäck hier abstellt und in die Stadt verschwindet. Ich habe jetzt seit fünf Jahren dieses Gästehaus, und das ist vorher noch nie passiert. Und jetzt gleich zwei Mal in zwei Wochen! Wahrscheinlich will mir das Leben eine Lektion erteilen.“ Er schob sich eine Handvoll Reis mit Linsen in den Mund, kaute und nahm dann den Faden wieder auf. „Ich hab ja auch keine Adresse und nichts von ihm. Als Inder braucht er mir seinen Ausweis nicht zeigen. Viele haben nicht mal einen. Das einzige, was ich weiß, ist, dass er Vijay heißt. Tja. Viele Leute in Indien heißen Vijay. Vijay aus Delhi. Kann man nicht viel mit anfangen.“
Eine Zeit lang sagte niemand etwas.
„Willst du nun das Zimmer?“, wollte Ram schließlich von mir wissen.
„Nein“, sagte ich. „Ich brauche ein bisschen Privatsphäre.“

Als ich im Bett lag, schien der Mond hell ins Zimmer. Die Dorfhunde bellten und heulten um die Wette. Ich drehte mich auf den Rücken und sah zu den Stofftieren hinüber.
„Wieso verschwinden hier ständig Leute in die Stadt und kommen nicht wieder?“, fragte ich. „Ist dieser Jack wirklich da gewesen und hat seine Sachen geholt? Ich hätte doch hören müssen, wenn draußen jemand gewesen wäre. Schließlich hab ich extra darauf geachtet, weil ich gehofft hab, dass Vijay wiederkommt.“
Die Stofftiere glotzten mich an.
„Jaha, das glaub ich, dass ihr euch darüber ausschweigt“, fuhr ich fort. „Schließlich werde ich den Gedanken nicht los, dass es was mit euren Besitzern zu tun hat.“
Weil sie meinem Blick sowieso standhielten, gab ich mich kurz darauf geschlagen, drehte den Kopf weg und sah in den Vollmond. Er war hell genug, um einen Blick in Jacks Zimmer werfen zu können. Ich sprang aus dem Bett und schlüpfte in Jogginghose und T-Shirt. Der Omawecker auf dem Nachttisch ging auf drei Uhr zu. Ich öffnete die Tür so leise, als würden Vimla und Ram in meinem Bett liegen. Trotzdem war ein Knarren unvermeidbar. Vor mir lag der einsame Hof. Während ich auf nackten Füßen hinunterschlich, blickte ich zum Familienhaus hoch. Stand da jemand hinter der Gardine? Nein. Ich spähte durch das vergitterte Fenster in Jacks Zimmer. Dann wich ich schnell zurück. Da saß jemand auf dem Bett. Ich trat zur Seite und presste mich mit dem Rücken an die Wand. Ein Murmeln drang zu mir heraus. Eine Frauenstimme. Sie schien irgendetwas zu beschwören. Bemerkt hatte sie mich nicht, denn sie stockte nicht eine Sekunde.
Nach einiger Zeit wagte ich es, erneut ins Zimmer zu spähen. Die Frau trug einen feierlichen mintgrünen Sari und einen gleichfarbigen Seidenschal, eine Dupatta, auf dem Kopf. Sie saß mit dem Rücken zu mir und hielt etwas in den Händen. Um sie herum lagen orangegelbe Tagetesköpfe auf dem Bett verstreut.
Gerade wollte ich noch ein bisschen näher herantreten, als der Kleiderhaufen sich raschelnd zum Fenster drehte. Ich zuckte zurück, aber die Frau hatte die Augen geschlossen, hielt das Gesicht ins Mondlicht und sprach weiter leise vor sich hin. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es Vimla war. Sie war geschminkt und ihr Gesicht schwärmerisch wie das eines jungen Mädchens. In ihrem Schoß lag das Bild von Ram.
So schnell ich konnte, schlich ich zurück ins Zimmer und riss die Nachttischschublade auf. Rams Portrait lag noch genauso da, wie ich es zurückgelassen hatte. Auch sonst war alles unverändert. Langsam setzte ich mich aufs Bett und fühlte mich so schäbig, als hätte ich Vimla dabei beobachtet, wie sie ihren Mann betrog. Mit ihm selbst.

Es war bereits Nachmittag, als ich beschloss, einen Spaziergang zu machen. Auf der letzten Treppenstufe stutzte ich. Vijays Tür war offen. Mit einem breiten Lächeln steuerte ich darauf zu.
„Hier, guck mal, ob du da irgend‘ne Adresse findest“, sagte Ram, warf mir Vijays Tagebuch zu und wühlte sich weiter durch seine Klamotten auf dem Bett.
„Ich geh doch nicht an seine Sachen“, sagte ich, blätterte aber doch kurz durch das Buch. Vijay hatte auf Englisch geschrieben. Es tauchten irgendwelche Namen auf, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ram warf mir einen fragenden Blick zu. Ich legte das Tagebuch zurück aufs Bett.
„Nein, keine Adresse“, sagte ich.

Als ich später zum Abendessen ging, stand mein Teller bereits aufgefüllt auf meinem Platz, daneben ein zweiter Teller. Einen Moment lang dachte ich, dass Vijay zurückgekommen war, aber dann hörte ich Rams Stimme auf der Stiege.
„Ich habe einen Jungen!“ Ram betrat leicht schwankend den Raum und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Meine Tochter hat einen dreieinhalb Kilo schweren Jungen zur Welt gebracht. Danke, Gott!“ Er legte die Handflächen vor der Brust aneinander und sah zur Decke.
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich und hielt nach dem Rest der Familie Ausschau.
„In einigen Tagen wird ihm von unserem Dorfältesten das Horoskop erstellt“, begann Ram, schwankte noch ein bisschen mehr und ließ sich dann auf den Platz neben mir fallen. Eine Schnapsfahne schlug mir entgegen, und ich rückte ein Stück von ihm ab.
„Der hat das damals bei mir auch gemacht, und es ist alles hingekommen“, fuhr er fort. „Dass ich eine Farm erbe und viele Freundinnen hab, alles.“
Während er sich über seinen Reis hermachte, spannten sich meine Muskeln an. Im Fernsehen lief ein Zeichentrickfilm. Ich nahm meinen Teller in die Hand, drehte Ram den Rücken zu und tat so, als würde mich das Fernsehprogramm brennend interessieren. Alles ist gut. Vimla musste ganz in der Nähe sein.
Der Cartoonheld lachte ein ratterndes Lachen. Ich begann, schneller zu essen. Unten in der Küche war es still.
„Wo ist denn Vimla?“, fragte ich nach einer Weile.
„Die ist noch mit meinem Enkel ...“ Er schluckte und wischte sich wieder ein paar Tränen aus den Augen, „ ... auf der Farm und kommt später mit meiner Tochter und meinem Schwiegersohn zurück.“
Ich hörte auf zu kauen. „Und warum bist du hier?“
„Damit du nicht so alleine bist. “
Mein Herz klopfte schneller. Der Held lachte erneut. Ich glotzte in seine Augen, die als immer größer werdende Spiralen auf die Kamera zu kreisten. Alles ist ganz harmlos. Bitte lass alles ganz harmlos sein.
„Und wir uns mal ungestört unterhalten können. So wie du dich mit Vijay unterhältst.“ Rams Stimme war auf einmal viel sanfter.
„Wie meinst du das, wie ich mich mit Vijay unterhalte?“
Statt einer Antwort spürte ich, wie er näherkam. Dann seinen Atem an meiner Schläfe. Ich zog die Schultern hoch, als könnte ich mich dadurch in Luft auflösen. Er murmelte irgendetwas Unverständliches und rückte noch näher. Ich wollte ihn zur Seite boxen, aber ich rührte mich nicht. Erst als er mich an die Wand drängte und seine Lippen an meinem Hals schlabberten, fing ich an zu zappeln. Der Teller fiel auf den Boden. Ich versuchte, um mich zu schlagen, aber Ram kniete sich auf meine Oberschenkel und drückte mich mit ausgebreiteten Armen an die Wand. Ich presste alle Kraft aus mir heraus, aber sie reichte nicht. Er packte mich noch fester und versuchte, mich zu küssen, aber ich drehte den Kopf weg und kniff die Augen zusammen, bis ich Sterne sah.
„Hör auf, oder ich knall dir eine“, hörte ich seine Stimme wie aus weiter Ferne. „Wenn du nichts machst, ist es ganz schnell vorbei.“ Er zerrte an meinem Hosenbund.
Ich gab nach wie eine leere Hülle. Ich war das nicht. Das geschah einer anderen.
Im selben Augenblick hielt er inne und lockerte seinen Griff. Dann ließ er mich los. Ich riss die Augen auf.
Ram glättete sich die Haare und schaltete auf ein anderes Programm um. Draußen hörte ich einen Wagen vorfahren. Eine Autotür wurde zugeschlagen, und kurz darauf kam jemand zügig die Stiege herauf. Ehe ich richtig begriff, was passiert war, stand Vimla im Zimmer. Ohne ein Wort sammelte sie das Essen vom Boden und legte es zurück auf den Teller. Sie gab mir zu verstehen, dass sie mir neuen Reis mit Linsen bringen wollte. Ich schüttelte den Kopf, sprang auf und lief nach unten.

Der Tag war gerade angebrochen, da war ich bereits abfahrbereit, schloss den Koffer und wollte meine Bauchtasche umbinden, als ich draußen Schritte hörte.
„Alice?“ Rams Stimme war gedämpft.
Ich wollte brüllen, dass er abhauen solle, aber ich presste die Lippen zusammen.
„Alice, bitte. Mach auf. Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war. Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken, wegen der Geburt von meinem Enkel. Es wird nicht wieder vorkommen.“
Ich biss mir die Unterlippe blutig.
„Alice. Bitte. Lass uns reden. Ich möchte, dass du dich hier wohl fühlst. Wir brauchen das Geld jetzt noch mehr als vorher. “
„Hau ab!“ Meine Stimme kippte. Ich zitterte am ganzen Körper.
Es war eine Weile still, dann entfernten sich seine Schritte. Er ließ seinen Scooter an. Ich stand mitten im Zimmer. Erst als nichts mehr zu hören war, legte ich die Miete auf den Nachttisch, ging langsam zum Fenster und lugte hinaus. Er war tatsächlich weg.
Meine Beine bebten so sehr, dass ich Mühe hatte, den Berg hinunterzulaufen. Im Haltestellenhäuschen setzte ich mich auf eine Bank. Außer mir wartete niemand.

Nach etwa einer Stunde fing es an zu regnen. Mir fiel auf, dass es hier keinen Fahrplan gab. Ich scharrte mit der Spitze meiner Sandale im Sand. Endlich sah ich einen alten Farmer mit Pudelmütze die Straße überqueren. Ich lief in den Regen hinaus, rief nach ihm und deutete auf die Bushaltestelle.
„Kein Bus seit zwei Tagen“, sagte er. Als ich wissen wollte, warum, bekam ich keine Antwort. Ich setzte mich wieder hin und überlegte, wie ich sonst in die Stadt kommen sollte. Der Bus war das einzige Transportmittel in diesem Kaff.
Der Regen ließ etwas nach, aber ich wartete, bis er ganz aufhörte. Dann machte ich mich wieder an den Aufstieg. Außer Rams Haus gab es keine Gästehäuser. Ich marschierte zurück ins Zimmer, setzte mich aufs Bett und wartete auf eine Eingebung.

Erst als ich Ram draußen schimpfen hörte, bemerkte ich, dass es dunkel geworden war. Ich konnte nichts verstehen, weil er Hindi sprach. Kurz darauf klappten Autotüren, und ein Wagen fuhr weg. Ich spitzte die Ohren. Jemand kam die Treppe hoch. Sofort raste mein Herz wie ein Technobeat.
„Alice?“, hörte ich von draußen. Das war nicht Rams Stimme. „Alice, ich bin es. Vijay.“
Ich sprang auf und hechtete zur Tür. „Vijay! Wo warst du denn so lange?“ Eine Sekunde zuckten unsere Oberkörper nach vorne.
„Magst du rauskommen? Oder willst du weiter im dunklen Zimmer sitzen.“
Ich schlüpfte in meine FlipFlops und setzte mich neben ihn auf die Treppe. Er erzählte, dass er in der Stadt einen Freund getroffen hätte. Sie wären mit dem Motorrad in einen Touristenort gefahren, der eine weitere Stunde entfernt lag. Als sie sich am nächsten Abend auf den Rückweg machen wollten, ging das Motorrad kaputt, und sie mussten einen Tag in der Werkstatt verbringen. Glücklicherweise hätte sein Freund ihn dann zurückgefahren, weil ja grad keine Busse fuhren.
„Wie lange denn noch?“, wollte ich wissen.
„Keine Ahnung, ich hab nur gehört, dass es irgendeinen Streik gibt. Kann also noch eine Weile dauern. Ist alles in Ordnung mit dir? Deine Arme sind ja voller blauer Flecken.“
Ich holte einmal tief Luft. Dann quollen die ganzen letzten Tage aus mir heraus. Als ich geendet hatte, sprang Vijay auf.
„Dieses Arschloch!“, rief er. „Ich hab schon sowas geahnt!“ Er rannte in den Hof hinunter und lief vor der Treppe auf und ab. „Dem reiß ich den Arsch auf, wenn er wieder da ist.“
„Wenn er wieder da ist?“
„Ja, der ist weg.“
„Echt? Wohin ist er denn? In die Stadt?“
„Nee, er hat mir erst ‘ne Moralpredigt gehalten und ist dann mit Tochter, Schwiegersohn und Baby auf die Farm gefahren. Nur noch Vimla ist da. Die anderen kommen erst übermorgen wieder.“
„Gut! Sehr gut! Bis übermorgen fällt mir vielleicht ‘ne Lösung ein.“
„Bis übermorgen? Nee, so lange warte ich nicht!“ Vijay lief auf die Straße. „Ich werd jetzt zu dieser Scheißfarm gehen und dem den Arsch aufreißen. Wenn er glaubt, dass ...“
„Komm, lass“, sagte ich und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Wir werden hier schön die Füße stillhalten, bis wir hier weg sind. Ich will nicht noch mehr Ärger, wir müssen jetzt diplomatisch bleiben.“
„Ich könnte meinen Freund anrufen, ob er uns mit dem Motorrad abholen kommt.“
„Aber wir können nicht zu Dritt mit dem ganzen Gepäck auf dem Motorrad fahren.“
„Kein Problem.“ Er ging ins Zimmer, um zu telefonieren. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er wieder herauskam.
„Und? Hast du ihn erreicht?“
„Mein Telefon ist weg.“
„Was?“
„Ja. Ich kann es nirgends finden.“
„Hast du es vielleicht auf der Reise verloren?“
„Nein, ich hab es gar nicht dabei gehabt. Eigentlich wollte ich ja abends wieder hier sein.“
Ich erzählte ihm, dass Ram in seinen Sachen gewühlt hatte, aber verschwieg meinen Blick in sein Tagebuch. Vijay schien gar nicht zuzuhören.
„Dreißig Hochzeitsfotos von meiner Schwester. Alles weg“, sagte er. „Offenbar verschwinden hier nicht nur Leute, sondern auch Dinge.“ Er sah an mir vorbei und schwieg einen Augenblick. „Na ja, das ist schon okay“, sagte er dann. „Ich hab nichts dagegen, wenn Leute klauen.“
„Du hast nichts dagegen, wenn Leute klauen?“
„Wenn sie arm sind, nicht.“
„ … “
„Na dann lass uns morgen trampen.“ Vijay grinste. „Anders kommen wir hier nicht weg.“

Am nächsten Tag regnete es so heftig, dass es unmöglich war, sich an die Straße zu stellen. Wir verschoben unsere Abreise, hingen auf Vijays Bett herum, kifften und dachten uns bizarre Geschichten über die Familie aus. Gegen Abend ließ der Regen etwas nach. Wir teilten uns eine alte Zeitung, hielten sie über unsere Köpfe und liefen zum Familienhaus. Vor der Tür zögerte ich.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Vijay. „Das Auto ist immer noch weg, der ist nicht da. Und falls doch, werd ich dir nicht von der Seite weichen.“

Beim Essen lauschte ich auf jedes Geräusch. Erst als ich merkte, dass Vijay sich wie zu Hause fühlte, löste sich meine Anspannung allmählich auf. Er hielt einen kurzen Plausch mit Vimla, schnappte sich die Fernbedienung und zappte durch das Fernsehprogramm. Bei einem amerikanischen Serienkanal blieb er hängen. Ich legte mich hin und stopfte mir eines der Rollkissen unter den Kopf, die überall herumlagen. Vijay legte sich auf die Matratze an der Wand gegenüber und baute einen Joint.
„Wollen wir heute mal ein bisschen fernsehen?“, fragte er, als die Serie zu Ende war.
„Warum nicht.“
Es hatte aufgehört zu regnen. Vimla stand auf und meinte, dass sie jetzt ins Bett ginge, wir könnten aber ruhig noch weiter fernsehen. Vijay schaltete auf den Cartoon-Sender um. Es lief die gleiche Serie wie am Vortag.
Ich merkte, dass ich unruhig wurde und wäre gerne gegangen, aber ich traute mich nicht alleine runter. Eine Zigarette noch.
„Ich glaube, ich will jetzt ins Bett“, sagte ich fünf Minuten später und raffte mich auf. „Das Programm ist nichts für mich.“
„Aber wir können doch umschalten. Wir finden schon irgendwas, das wir beide sehen wollen.“
Ich plumpste in die Kissen zurück. Madonna erschien auf dem Bildschirm.
„Wow, die hat echt noch ‘ne super Figur für ihr Alter“, sagte Vijay.
Während ich Madonna in schwarzer, enger Lederkluft und ohne ein Gramm Fett durch das Programm tanzen sah, konnte ich nur langsam nicken. Dann kam ein Video mit Paul McCartney, und ich war froh, dass das Thema damit beendet war. Draußen setzte wieder der Regen ein.
„Eigentlich könnten wir heute auch hier schlafen, ist doch ganz gemütlich“, sagte Vijay nach einer Weile.
„Dann müssen wir aber noch runter, um Decken zu holen, und dann wieder rauf. Ich weiß nicht, ob ich das packe.“
„Ich geh schon. Und auf dem Weg kann ich ja mal gucken, ob ich in der Küche noch was zu essen finde. Irgendwie hab ich schon wieder Hunger.“ Er hüpfte die Stiege hinunter.
Ich hievte mich auf die Seite, betrachtete die Dachluke wie ein großes schwarzes Loch und ärgerte mich, nicht mitgegangen zu sein. Außerdem fühlte ich mich nicht wohl dabei, nachts noch ein Picknick zu veranstalten.
Wieder raffte ich mich auf. Allerdings schien mir der Weg doch ein bisschen weit. Ich kämpfte noch mit mir, da kam Vijay mit den Decken zurück.
„Ich hab nichts zu essen gefunden“, sagte er, warf mir eine karierte Wolldecke zu und legte sich wieder auf seinen Platz.
Nach einer Weile schielte ich zu ihm hinüber. Er verfolgte weiter das Programm. Ich stellte mir vor, wie ich aufstehe, ihn bitte, ein Stück zu rücken und mich neben ihn lege. Langsam kam der Gedanke in meinem Bauch an und drohte, immer weiter hinabzugleiten. Stopp! Ich war nichts weiter als eine ältere Schwester für ihn, und so sollte es auch bleiben. Schwester? Nee, Moment mal. Ich konnte ja schon seine Mutter sein. Nee, das ging gar nicht. Weg mit dem Gedanken. Schließlich war ich keine Madonna. Eher eine Miss Marple mit meiner Herumschnüffelei.
Wieder sah ich zu ihm hinüber. Alles unverändert. Ich schloss die Augen.
„Hier, kennst du das?“, hörte ich Vijays Stimme.
„Was?“ Ich hob den Kopf.
„Dieses Video. Kennst du das?“
„Nein“, sagte ich, ohne darauf zu achten, was da eigentlich lief.
„Ich kann auch umschalten.“
„Nee, ist schon gut.“ Ich blinzelte auf den Fernseher. Der Regen trommelte immer heftiger auf das Dach. Über mir tanzte ein Mückenschwarm.
„Wieso kommen die immer zu mir“, sagte ich und fuchtelte mit den Armen.
„Weil sie dich mögen.“
„Oder weil ich direkt unter der Lampe liege.“ Ich schaute zu der Glühbirne, die an einem langen Kabel über meinem Kopf baumelte. „Wo geht denn hier das Licht aus?“
Wir standen auf und liefen durchs Zimmer, fanden aber keinen Lichtschalter. Schließlich begegneten wir uns vor dem Fernseher. Gemeinsam standen wir vor den Plüschgiraffen.
„Hier muss der irgendwo sein“, sagte Vijay und trat etwas näher an den Fernseher heran.
Ich entdeckte den Schalter über der Fußleiste, knipste das Licht aus und eilte auf meinen Platz zurück. Nicht, dass der noch dachte, ich wolle was von ihm.
Mit Schlafen war es jetzt endgültig vorbei. Vijay lachte über einen Bollywood-Film und versuchte zu übersetzen, aber ich hörte nicht hin.
„Das regnet hier rein“, sagte er, setzte sich auf, schloss das kleine Fenster über seiner Matratze und schaute über das Dach auf die Straße. „Das sieht total schön aus, wie das regnet. Komm mal her, guck dir das mal an.“
Ich rappelte mich hoch, schlenderte betont langsam zu ihm hinüber und hockte mich neben ihn. Draußen ging ein Platzregen auf die Straße herab. Oben am Ende war ein kleines Licht zu sehen. Vijay langte nach der Fernbedienung und machte den Fernseher aus.
„Was denkst du?“, fragte er nach einer Weile.
„Ich weiß nicht. Und du?“
„Nichts. Außer, dass du schön aussiehst, wie du da sitzt und in den Regen rausguckst.“
Wir rückten näher zusammen, und er legte sanft die Hand auf meinen Rücken. Nach einer Weile begann er kaum spürbar, mich zu streicheln. Ich lehnte mich an ihn, und wir sahen wieder in den Regen. Mein letzter Gedanke war, dass er hoffentlich gut küssen könne.
Er konnte. Es dauerte nicht lange, und wir lagen knutschend auf der Matratze. Dann auf dem Teppich. Und wieder auf der Matratze. Mein Körper rannte mir davon.

Als wir nackt waren, fiel die Dämmerung durchs Fenster. Mein Hirn meldete sich zurück. Ich schob ihn ein Stück von mir weg.
„Was?“, fragte er.
„Wir sollten runtergehen.“
„Warum?“ Er kam wieder näher.
„Weil die Familie hier jeden Augenblick aufkreuzen könnte“, sagte ich und schob ihn abermals weg.
„Na und?“
„Na und?“
„Könnte doch ganz lustig werden.“
Ehe ich antworten konnte, küsste er mich. Ich ließ mich kurz hinabgleiten und machte dann die Augen auf. Draußen hatte es zu regnen aufgehört und wurde immer heller.
„Lass uns runtergehen“, sagte ich. „Ich hab immer das Gefühl, die Familie steht hier jeden Moment im Zimmer.“
„Okay, lass uns runtergehen.“
Wir suchten unsere Klamotten zusammen und wickelten uns in die Wolldecken. Vijay spähte durch die Dachluke. Niemand zu sehen. Kichernd schlichen wir nach unten.
Vijays Zimmer war ein graues Betonloch, aber mit einer Kerze fiel das nicht weiter auf. Kaum war sie angezündet, landeten wir auf dem wackeligen Holzbett. Bald waren wir wieder nackt und rollten über die dünne Matratze. Erst als Vijay mich losließ, öffnete ich die Augen und sah, dass er sich ein Kondom überstreifte. Er zwinkerte mir zu und glitt langsam in mich hinein. Ich stöhnte laut auf. Dann rammelte er los, als hätte ich eine Stoppuhr in der Hand.
Ich war schlagartig nüchtern und wollte mich gerade beschweren, da war es schon wieder vorbei. Schweigend lagen wir nebeneinander. Vijay baute einen Joint.
„War es schön für dich?“, fragte er.
Ich biss die Zähne zusammen. Bisher hatte ich geglaubt, dass Männer sowas nur in schlechten Filmen fragten.
„Ja“, sagte ich. Und das stimmte ja eigentlich auch. Was waren schon zehn Sekunden gegen einen ganzen Abend?
Von draußen drang Vimlas schrille Stimme zu uns herein. Vijay rollte mit den Augen.
„Diese Familiengästehäuser nerven mich so“, begann er. „Ständig muss man am Familienleben teilnehmen, als wäre man deren Sohn oder Tochter. Was wir hier treiben, ist eigentlich Inzucht.“
Rams Schatten huschte auf dem schmuddeligen Vorhang vor dem Fenster vorbei. Vijay nahm meine Hand und drückte sie. Im selben Moment fing das Baby an zu schreien. Ich schreckte hoch.
„Siehst du, das meine ich“, sagte Vijay. „Man hat keine Privatsphäre.“

Nachdem das Baby verstummt war, wurde es ruhig vor dem Fenster. Wir warteten eine Weile, bis wir sicher waren, dass die Familie ins Haus gegangen war. Dann nahm Vijay den letzten Zug vom Joint und lief zum Klo. Ich wickelte mich in die Wolldecke, setzte mich auf und spielte ein bisschen mit seinem Kissen herum. Es war mit kleinen Blümchen bestickt, und ich fand, dass es sehr niedlich aussah.
Vijay kam ins Zimmer zurück. Ich sah zu ihm hoch. Irgendwie sah er plötzlich wie Ram aus. Ehe ich genauer hinsehen konnte, war er schon wieder verschwunden.
Kurz darauf erschien Vijay. Diesmal war es wirklich Vijay.
„Ich glaube, ich hab zu viel geraucht“, sagte ich. „Ram war hier eben im Zimmer, und ich weiß nicht mehr, ob das wirklich so war, oder ob ich mir das nur eingebildet habe.“
„Ich hab ihn eben draußen getroffen.“
„Ja, aber … Findest du das nicht komisch, dass der einfach hier ins Zimmer kommt?“
„Wie – hat er nicht mal geklopft, oder was?“
„Nein. Der kam hier einfach rein, hat geguckt und ist wieder rausgegangen. Glücklicherweise hatte ich ‘ne Wolldecke um.“
„Der Typ hat wirklich ‘ne Vollmeise.“
„Ich mag jetzt gar nicht aufs Klo gehen.“
„Kannst aber gehen, der ist eben ins Haus hochgegangen.“

Auf dem Rückweg merkte ich, wie müde ich war und freute mich darauf, in Vijays Arm einzuschlafen. Aber auf dem Bett war kein Platz mehr für mich. Da stand Vijays schwarze Reisetasche, die mit aufgerissenem Schlund schon die Hälfte seiner Sachen verschluckt hatte. Ich blinzelte ein paarmal, um mich zu vergewissern, dass ich mir nicht wieder irgendetwas einbildete.
„Was ist denn jetzt los?“
„Ich hau ab“, sagte Vijay und ließ eine Jeans in der Tasche verschwinden.
„Wieso das denn?“
„Ram hat mich rausgeschmissen.“
„Was?“
„Ja. Er kam eben rein und hat mich gefragt, ob wir hier letzte Nacht Sex hatten.“
„ …“
„Und ich hab ihm gesagt, das ginge ihn nichts an. Da ist der völlig ausgetickt und meinte, dass das hier ein Familienhaus wäre, und ich wäre doch Inder, ich wüsste doch, dass man sowas nicht macht. Da hab ich ihm gesagt, dass er doch auch Inder wäre. Also wüsste er ja wohl auch, dass man niemals so intime Fragen stellt. Da hat er mich rausgeschmissen.“
Ich schob ein paar T-Shirts zur Seite und setzte mich aufs Bett. „Das glaub ich ja jetzt nicht.“
Vijay packte weiter seine Sachen.
„Ich komme mit!“, rief ich. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen!“
Er sah mich eine Weile an. „Gut, dann geh ich jetzt mal rauf und zahl schon mal das Essen“, sagte er. „Dann tramp ich in die Stadt, weil ich Geld abheben muss, sonst kann ich das Zimmer nicht bezahlen.“
„Ich komm mit“, sagte ich abermals. „Ich muss auch Geld holen, außerdem habe ich keinen Bock, hier auf Ram zu treffen.“

Auf der Straße kam ich kaum vorwärts. Meine Beine schienen wie Sirup einen Moment am Boden festzukleben, bevor ich den nächsten Schritt tun konnte. Vijay ging ein ganzes Stück vor mir, aber das störte mich nicht. Schließlich blieb er stehen und wartete. Er sah ungeduldig aus.
„Ram hat mir viel zu viel berechnet, obwohl ich nur dreimal hier gegessen hab“, sagte er, als ich ihn erreichte.
„Wieso berechnet? Ich denke, man kann hier geben, was man will.“
„Ich offenbar nicht. Komm, wir nehmen die Abkürzung.“ Er rannte einen Schotterweg hinunter, der direkt auf die Hauptstraße führte. Ich kam kaum hinterher.
Als ich die Straße erreichte, sah ich schon von Weitem Leute im Haltestellenhäuschen. Trotzdem fanden wir noch einen Sitzplatz. Vijay holte einen Roman von Jack Kerouac aus seiner Umhängetasche und vertiefte sich darin.
„Ich bin stinksauer“, sagte er. „Ich muss mich jetzt erstmal runterbringen.“
Ich glotzte in die Gegend. Mir gegenüber saß ein blondes Touristenpärchen mit Fotoapparat um den Hals und lächelte mir freundlich zu. Daneben eine tibetische Familie in traditioneller Kleidung, sonst waren nur Männer anwesend.
„Wieso kommt denn der Scheißbus jetzt nicht“, sagte Vijay nach einer Weile. „Stehen die hier alle nur zum Spaß rum, oder was.“
Ich stand auf, um mir ein bisschen die Füße zu vertreten, und zündete mir gerade eine Zigarette an, als ich Ram auf seinem Scooter den Berg herunterfahren sah. Er kam auf die Bushaltestelle zugerast und hielt direkt davor.
„Wieso hast du deine Sachen nicht mitgenommen!“, fuhr er Vijay an.
Alle Umstehenden drehten die Köpfe zu Vijay und warteten auf eine Erklärung. Er blickte von seinem Buch auf. „Ich muss doch sowieso noch mal hierher zurück, um zu bezahlen.“
Ram sprang von seinem Scooter und wollte auf Vijay zu rennen, aber ein paar Männer hielten ihn zurück.
„Wann kommst du wieder!“, rief er und versuchte, sich durch die Arme der Männer zu rangeln.
„Spätestens heute Nachmittag.“
„Na hoffentlich!“ Er sagte etwas zu den Männern. Sie ließen ihn los, und er stieg wieder auf den Scooter, ließ ihn aufheulen und verschwand den Berg hinauf.
„Der spinnt doch“, sagte Vijay. Die Haltestelle füllte sich immer mehr. Als niemand mehr hineinpasste, kam der Bus.

Die nächsten zwei Stunden stand ich in einem Karussel und sah die Landschaft an mir vorbeifliegen. Immer wieder fiel ich gegen irgendwelche Leute, bis endlich die kleine Stadt vor uns auftauchte.
Kurz darauf standen wir an der Straße. Um uns herum wirbelten Leute. Rikshas knatterten vorbei und machten so einen Lärm, dass ich mir die Ohren zuhielt.
„Da vorne ist ein Bankautomat“, sagte Vijay, der stocknüchtern zu sein schien. Er lief schon wieder vor. Bis ich hinterhergeschlurft war, kam er schon wieder aus dem Automatenhäuschen. Allmählich begann mich seine übertriebene Zielstrebigkeit zu nerven.
„Meine Karte funktioniert nicht“, rief Vijay mir zu.
„Was?“
„Ja, komm rein und guck.“ Er drückte mir die Karte in die Hand. „Hier. Steck rein.“
Ich steckte die Karte in den Schlitz. Kartenfehler leuchtete auf dem Bildschirm auf.
Nun wurde auch ich nüchtern. In meinem Kopf ratterte es. Was sollte ich denn machen, wenn er mich nach Geld fragte? Woher konnte ich wissen, dass das kein Trick war?
„Vor zwei Tagen ging sie noch“, sagte Vijay. „Wahrscheinlich ist der Automat kaputt. Was ist heute für ein Tag?“
Ich überlegte kurz. „Sonntag.“
„Hm. Dann hat auch kein Schalter auf.“ Sein Blick wanderte durch die Fußgängerzone. „Aber bestimmt ein Reisebüro, das sonntags fleißig Tickets verkauft. Da gibt’s auf alle Fälle ein Kartengerät. Komm, wir gucken mal.“
Wir bogen in eine Straße ein und kamen in ein Labyrinth aus Seitengassen, in denen es nach Curry roch. In den Erdgeschossen der heruntergekommenen Hotels und Mietshäuser waren Garküchen und Läden. Im ersten Reisebüro warteten zu viele Kunden, das zweite war geschlossen. Erst das dritte war vollkommen leer. Ein freundlicher Herr mit feistem Gesicht und Schnauzbart händigte uns problemlos unsere Scheine aus, stellte sich als Mohammed vor und erzählte, dass er auch ein Hotel hätte, etwas außerhalb der Stadt. Er gab uns seine Karte, und wir versprachen, später bei ihm vorbeizuschauen.
„Ich wusste doch, dass es am Automaten liegt“, sagte Vijay. „Komm, wir nehmen uns jetzt ein Taxi. Wenn das wieder so lange dauert, bis der Bus kommt, verpassen wir den letzten Bus zurück hierher. Mach dir keine Sorgen um das Geld, ich zahl, okay?“
„Aber das ist doch auch irgendwie blöd.“
„Aber mit dem Bus schaffen wir das nicht mehr, und ich hab keine Lust, hier noch ewig durch die Gegend zu gondeln.“
„Okay, dann lass uns ein Taxi nehmen, aber ich zahle die Hälfte.“
„Wenn du unbedingt willst.“
Während wir ins Taxi stiegen, bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn verdächtigt hatte, mir auf der Tasche zu hängen.
„Jetzt mach dir doch nicht immer so viele Gedanken“, sagte er. „Das gleicht sich schon irgendwie wieder aus.“
Den Rest der Fahrt sahen wir schweigend aus dem Fenster. Als der Taxifahrer das Dorf erreichte, wurde mir eng um die Brust. Kurz darauf tauchte das Gästehaus vor uns auf.

Ich stopfte meine Sachen in den Koffer und war fast fertig, als Vimla erschien. Sie trug den gleichen Sari wie in der Nacht, als ich sie in Jacks Zimmer gesehen hatte.
„Du gehen?“, fragte sie.
„Ja, ich gehe mit ihm.“
Sie setzte sich zu den Stofftieren und sah mich ernst an. „Warum?“
Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich mich mit Vijay solidarisieren wollte, aber das verstand sie nicht. Wahrscheinlich hatte ich es auch nicht besonders gut erklärt.
„Du müssen nicht gehen“, sagte sie. „Ram sagen, du auch gehen?“
„Nein.“ Ich hielt im Packen inne und sah sie an. Sie hatte Tränen in den Augen.
„Du? Er?“, flüsterte sie und deutete in Vijays Richtung.
Ich zögerte kurz und nickte dann.
„Letzte Nacht?“
Ich nickte wieder.
„Uiiii!“ Sie schüttelte ihre Hand, als ob sie sich verbrannt hätte. Dann versuchte sie mir zu erklären, dass wir uns nicht hätten erwischen lassen dürfen. Ihr Schwiegersohn wäre uns auf die Schliche gekommen. Er hatte gesehen, dass meine Tür abgeschlossen war und Ram sofort informiert.
Ich packte weiter. Sie beugte sich zu mir herüber, zwinkerte mir verschwörerisch zu und flüsterte, dass ihr Ram auch bald wieder jung und schön wäre, sie arbeite daran. Ich wandte den Kopf ab, damit sie nicht sah, wie ich rot wurde. Hastig sammelte ich mein restliches Zeug zusammen.
„Bitte nicht gehen“, sagte Vimla.
„Doch, ich gehe.“ Ich bemühte mich, hart zu bleiben und gab ihr noch ein fettes Trinkgeld. Dann stürzte sie weinend aus dem Zimmer. Ich schluckte und hievte den Koffer die Treppe hinunter. Vijay lehnte am Taxi.
„Kommst du“, sagte er mit ausdrucksloser Miene. Ich verstaute mein Gepäck im Kofferraum und kontrollierte noch mal meine Geldtasche. Pass, Ticket, Kreditkarte, alles da. Während wir aus der Einfahrt fuhren, drehte ich mich noch mal um und sah Rams Familiengästehaus in der Kurve verschwinden, als hätte es nie existiert.
„Die tun ja wirklich so, als ob du ihre Tochter wärst, und ich hab dich jetzt entführt“, sagte Vijay und grinste. „Aber – mir gefällt die Rolle.“
„Ich wollte schon immer mal wissen, wie das ist, eine entführte Prinzessin zu sein“, sagte ich.
Wir lachten. Langsam verließen wir das Dorf und fuhren über die Serpentinen. Mir wurde ein bisschen schwindelig. Ich kurbelte das Fenster herunter und steckte den Kopf hinaus. Von den Abgasen wurde mir schlecht. Ich hielt mir den Ärmel meines Sweatshirts über Mund und Nase und versuchte, mich auf die Landschaft zu konzentrieren.
„Meinst du, wir sollten uns zusammen ein Zimmer nehmen oder lieber getrennt?“, wollte Vijay nach einer Weile von mir wissen.
„Ich bin noch nicht dazu gekommen, darüber nachzudenken“, würgte ich hinter meinem Ärmel hervor.
„Ich denke, wir sollten getrennte Zimmer nehmen“, fuhr er fort. „Wir sollten realistisch bleiben.“
„Wie du willst“, sagte ich.

Das Hotel war simpel, dreistöckig und hatte einen Gemeinschaftsbalkon vor den Türen. Mohammed kam uns schon am Eingang entgegen und bedauerte, dass nur noch ein Doppelzimmer frei wäre. Wir sahen uns an und grinsten.
„Na, das ist dann wohl Schicksal“, sagte Vijay.
Als ich hinter ihm die Treppe in den dritten Stock hinauftrabte, war ich so müde, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Außerdem war mir immer noch schwindelig.
„Ich muss sofort ins Bett“, sagte ich.
Er warf mir einen leicht enttäuschten Blick zu, aber riss sich gleich wieder zusammen.
„Okay, Prinzessin, dann bringe ich Euch in Euer Gemach. Ich hoffe, Eure Hoheit haben nichts dagegen, wenn ich mir noch ein wenig die Beine vertrete?“
„Wir wünschen zu ruhen, mein Herr. Ihr könnt derweil tun, wonach Euch dünkt.“

Das Zimmer war ein bisschen schäbig, aber gemütlich. Durch die rubinroten Vorhänge fiel das Licht der Abendsonne. Ich warf mich sofort auf das Riesenbett und schlüpfte, so wie ich war, unter die Decke.
„Schlaf gut, meine Schöne“, flüsterte Vijay und strich mir übers Haar. „Ich geh noch mal los und guck, ob ich ein paar Bekannte treffe. Und wenn ich wiederkomme, weck ich dich auf, da kannst du dich drauf verlassen.“ Er schloss leise die Tür.

Als ich erwachte, war es draußen hell. Der Platz neben mir war leer. Ich setzte mich auf und sah mich im Zimmer um. Vijays Reisetasche stand neben dem abgeschabten Holztischchen, daneben mein Koffer. Auf dem Nachttisch entdeckte ich einen Zettel.
Wünsche wohl geruht zu haben, Prinzessin. Frühstück ist unterwegs.
Ich sank in die Kissen zurück. Bei dem Gedanken an Bananenpfannkuchen und frisch duftenden Kaffee knurrte mein Magen. Ich streckte mich wohlig, setzte mich auf und stopfte mir das Kopfkissen in den Rücken. Dann legte ich die Hände flach auf die Bettdecke und wartete auf mein Frühstückstablett. Draußen schien die Sonne, die Vögel zwitscherten und ein leichter Wind ließ die Vorhänge ins Zimmer wehen wie in einem Hollywoodfilm.

Zwei Stunden später knurrte mein Magen so laut, dass ich es kaum noch aushielt. Ich schlug die Decke zurück, lief zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Die Straße war voller kleiner Läden mit Hippieklamotten vor den Türen, Fressständen und Gästehäusern, die Sonne und Mond hießen. Händler mit gescheiteltem Haar riefen ihre Waren aus, und Touristen mit Decken um die Schultern schlurften über den Basar, als kämen sie gerade vom Woodstock-Festival.
Nicht, dass der wieder spontan irgendwo hingefahren war. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, riss die Vorhänge wieder zu, zerrte ein paar frische Klamotten aus dem Koffer und stampfte unter die Dusche.
Als ich mich abtrocknete, hörte ich Schritte auf dem Gang. Ich hielt inne und lauschte. Mein Herz begann zu hämmern. Die Schritte wurden leiser und am Ende des Ganges wurde eine Tür aufgeschlossen. Ich rubbelte mich trocken, zog mich an und verließ das Zimmer, um irgendwo etwas zu essen.

Auf dem Basar wich ich Ochsenkarren, Fahrrädern und Menschen aus. Ein paarmal zuckte ich zusammen, weil ich glaubte, Vijay gesehen zu haben. Aber es war dann doch jemand anders gewesen. Schließlich ließ ich mich auf der Dachterrasse eines Restaurants nieder, bestellte Frühstück, sah auf die Straße hinunter und zuckte ab und zu zusammen.

Das Zimmer war unverändert. Mein Blick fiel auf Vijays Reisetasche, und ich atmete auf, ging wieder zum Fenster, zog die Vorhänge auf und schaute hinaus. Ein gleichbleibender Menschenstrom lief den Basar auf und ab. Irgendwann versank die Sonne hinter den Bergen, und kurz darauf gingen überall die Lichter an. Die Straße füllte sich noch mehr, bis die Lichter schließlich ausgingen und nur noch ein paar vereinzelte Gestalten herumschlenderten. Der Stein, der sich den ganzen Tag zu meinem Magen hinabgerollt hatte, blieb zentnerschwer in der Magengrube liegen. Irgendetwas musste passiert sein.
Ich lief zu Vijays Reisetasche, fand aber nur ein paar alte T-Shirts und Hosen. Während ich mich zum Boden der Tasche vorkämpfte, kam ich mir plötzlich wie Ram vor und wollte schon aufgeben, als ich einen harten Gegenstand im Innenfutter ertastete. Er war in ein Loch im Futter gerutscht und klemmte zwischen Boden und Seitenwand. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn zu fassen bekam. Als es schließlich so weit war, stutzte ich. Vijays Telefon. Der Akku war leer, aber in der Vordertasche fand ich ein Ladekabel. Ich stöpselte es ein und wartete.

Erst spät in der Nacht döste ich kurz weg, schreckte aber bald darauf wieder hoch. Ich schnappte mir das Telefon und ging Vijays Adressliste durch. Ratlos sah ich auf das Display. Dann schob ich es zurück auf den Nachttisch, legte mich wieder hin und starrte in die Dunkelheit.

Morgens hörte ich das Scheppern der schweren Metall-Jalousien, die die Verkäufer vor ihren Läden hochzogen. Mein Kopf fühlte sich schwer an, die Muskeln schmerzten. Ich quälte mich zur Rezeption, um Mohammed zu fragen, ob er Vijay gesehen habe. Aber hinter dem Tresen saß nur ein hagerer Typ mittleren Alters und schlief.
Auf der Straße nahm ich eine Riksha, fuhr in die Stadt und lief durch die Seitengässchen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich vor dem Haus mit dem Reisebüro stand. Mehrmals lief ich auf und ab und suchte nach dem Schild. Es gab eine Garküche, einen Schmuckladen und einen Lebensmittelladen mit Gewürzsäcken vor der Tür. Nur das Reisebüro konnte ich nicht finden. Ich sah mich um. Gegenüber war eine Wäscherei, daran konnte ich mich erinnern, also war ich richtig. Ich guckte noch etwas genauer, und dann sah ich es. Der Laden war geschlossen. Das Schild war weg.

Als ich zurück zum Hotel lief, war ich mehrmals kurz davor, stehen zu bleiben und meinen Magen zu entleeren, aber meine Beine liefen immer schneller. Es war bereits Mittag, als ich die Treppe hinaufstürmte und die Zimmertür aufriss. Im Raum war es stickig, sonst hatte sich nichts verändert. Niemand hatte angerufen. Ich schluckte den Kloß im Hals hinunter und lief zur Rezeption.
„Ist Mohammed da?“, rief ich dem schlafenden Typen zu. Er plierte mich unter schweren Lidern an und schüttelte den Kopf.
„Wo kann ich ihn denn finden?“
„Ich kenne keinen Mohammed“, murmelte er und schloss wieder die Augen.
Am liebsten hätte ich ihn von seinem Stuhl gerissen und geschüttelt, aber ich sagte betont freundlich: „Ich meine den Hotelmanager, der uns das Zimmer vermittelt hat.“
„Hier gibt es keinen Mohammed. Der Hotelmanager heißt Sunny und ist ein Sikh.“
Unter mir begann sich der Boden zu drehen. „Vijay?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Hör mal, du musst mir helfen“, sagte ich. „Mein Freund ist verschwunden. Und ein gewisser Mohammed hat uns hier ein Zimmer vermietet.“
Er öffnete die Augen und überlegte eine Weile. Dann blätterte er abwesend im Gästebuch vor und zurück. Ich zwang mich, langsam von zehn abwärts zu zählen. Als ich bei vier angekommen war, zeigte er mir den Eintrag von unserer Ankunft. Von Mohammed wusste er nach wie vor nichts. Nur, dass da ein Mann gewesen wäre, der zwei Einzelzimmer buchen wollte, aber nur ein Doppelzimmer bekommen hätte. Das Doppelzimmer für Vijay und mich.

Zurück im Zimmer setzte ich mich aufs Bett und starrte auf den Fußboden. Wo auch immer Vijay war, ich konnte nicht Ewigkeiten warten, bis er vielleicht wieder auftauchte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, zur Polizei zu gehen, aber ich hatte nicht mal ein Foto von ihm. Ich beschloss, ein Ticket nach Ladakh zu kaufen. Das ist der höchste Punkt im Himalaya. Da hatte ich garantiert meine Ruhe. Vijays Gepäck würde ich an der Rezeption abgeben.
Als ich meine Sachen gepackt hatte und ins Bad ging, um mein Duschgel zu holen, hörte ich Musik aus dem Zimmer. Einen herzzerreißenden Bollywood-Song. Ich lief zum Bett. Auf dem Nachttisch zuckte Vijays Telefon. Ich zögerte eine Sekunde, dann griff ich danach. Meine Handfläche war so nass, dass es mir fast aus der Hand gerutscht wäre.
„Vijay?“, meldete sich eine gehetzte Männerstimme, bevor ich etwas sagen konnte. „Mann, endlich erreich ich dich. Wenn du stehst, setz dich hin, ich muss dir was Wichtiges sagen.“
„Hier ist nicht Vijay“, sagte ich. „Wer spricht denn da?“
Ein paar Sekunden war es still.
„Ist Vijay nicht da?“, fragte die Stimme.
„Nein.“
„Wo ist er denn?“
Ich schwieg.
„Scheiße!“, tönte es aus der Leitung. „Sag Vijay, dass ich angerufen habe.“
„Wer bist du denn?“
„Ich bin Jack.“
Jetzt war ich an der Reihe, einige Sekunden zu zögern.
„Der Jack aus Rams Familiengästehaus?“, fragte ich dann.
„Ja. Wieso? Wer bist du denn?“
„Ich bin Alice, eine Freundin von Vijay. Ich war da auch Gast.“
„Ich versuch schon seit Tagen, Vijay zu erreichen. Es ist echt dringend. Er soll mich sofort anrufen, wenn er wieder da ist.“
„Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, ob er wiederkommt“, sagte ich. „Er ist schon seit gestern Morgen weg. Nur seine Sachen sind noch da. Und das Telefon. Und das sollte eigentlich auch weg sein.“
„Seid ihr noch bei Ram?“
„Nein, wir sind irgendwo in der Nähe der Stadt, oder besser gesagt, ich. Wo er ist, ist mir selbst ein Rätsel. Was ist denn passiert?“
Jack stieß die Luft aus. „Wir waren vor zwei Wochen zusammen in der Stadt, weil wir Kohle brauchten“, begann er in aufgesetzt lässigem Ton. „Abends war ich da auf ‘ner Party, weil ich ‘nen Gig hatte, wo ich fett Kohle machen konnte. Vijay sollte da auch spielen, aber er hat sich scheiße gefühlt und ist noch am gleichen Abend abgehauen. Hat er Schwein gehabt, weil, die Wichser haben nicht gezahlt. Ich bin dann am nächsten Tag noch mal zum Automaten, weil ich Cash brauchte. Aber ich hab nix gekriegt und wollte dann in das Reisebüro, in dem wir am Vortag waren, aber ...“
„Ihr habt Geld im Reisebüro abgehoben?“ Ein Ziehen jagte durch meine Magengrube. „Bei Mohammed?“
„Genau. Aber das Ding war zu, und ich hab auch sonst nirgendwo was gekriegt.“
Ich bekam Ohrensausen.
„Ich hab dann meine Bank in England antelefoniert, und die haben mir gesagt, dass meine ganze Kohle weg ist. Viertausend Pfund, Alter.“ Er redete noch weiter, aber seine Stimme rauschte nur noch durch mich hindurch. Ich sprang auf, klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und riss meine Geldtasche auf. Alles noch da.
„Wir haben ‘ne richtig coole Zeit gehabt bei Ram“, hörte ich Jack wie durch Watte. „Wir sind gleiches Alter, und wir haben viel gequatscht. Über die Musikschule, wo Vijay studiert und so. Er wollte, dass ich ...“
Ich hörte nicht mehr hin. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, nach einem Auszahlungsbeleg zu fragen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Hatten unsere Mütter uns nicht immer vor Männern gewarnt, die uns Schokolade anboten?
Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Um nicht durchzudrehen, prägte ich mir jeden Gegenstand im Zimmer genau ein.
„Jack“, unterbrach ich ihn schließlich. „Warum genau rufst du eigentlich an?“
„Na, das hab ich doch gesagt. Um Vijay zu sagen, dass er seine Kreditkarte checken soll. Bei der Bank hat er nix gekriegt, aber im Reisebüro hat er auch kräftig abgehoben. Die Bullen haben gemeint, der Wichser vom Reisebüro ist ein Betrüger, also ist Vijays Kohle auch weg.“
Vor meinem inneren Auge blitzte ein Bericht über Betrugsmaschen im Urlaub auf, den ich mal im Fernsehen gesehen hatte. Ich musste plötzlich lachen.
„Was?“, rief Jack. „Wieso lachst du denn jetzt? Drehst du jetzt irgendwie durch, oder so?“
„Hast du einen Beleg gekriegt?“
„Eben nicht! Alles war so hektisch irgendwie, und wir waren auch schon ziemlich dicht. Vijay hatte ein fettes Piece dabei, damit die Mucke besser reingeht und ...“
„Vijay steckt da mit drin“, sagte ich. „Wir waren vorgestern in dem gleichen Reisebüro. Das hatte nämlich plötzlich wieder auf. Und weißt du auch, warum? Weil die die Bullen mit deinem Geld geschmiert haben.“ Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.
„Bist du noch da?“, fragte ich dann.
„Scheiße“, sagte er. Dann stieß er wüste Beschimpfungen gegen Vijay aus.

Zwanzig Minuten später stand ich am Bankautomaten, steckte mit zitternden Fingern die Karte in den Schlitz und vertippte mich bei der Geheimzahl. Zweiter Versuch. Die Buchstaben verschwammen. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen und tippte erneut: Auszahlung. Kreditkarte. Betrag: 10.000 Rupien, etwa hundertdreißig Euro. Das Tageslimit. Der Automat ratterte. Ich atmete auf und fixierte das Geldfach.
Willkommen bei der Staatsbank, erschien auf dem Bildschirm. Bitte geben Sie Ihre Karte ein. Zeitgleich schob sich die Karte aus dem Schlitz. Noch mal. Es lag bestimmt am Automaten. Wieder ratterte es. Die Karte kam heraus. Das Fach öffnete sich, und da lag mein Geld. Ich stieß einen kurzen Schrei aus und stopfte es in die Bauchtasche. Die Erleichterung rauschte wie eine Sturzflut durch mich hindurch. Vor dem Häuschen hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Mit einem breiten Grinsen riss ich die Tür auf und stieß mit einem alten Mann zusammen, der sich wortlos an mir vorbeidrückte. Draußen sah ich mich nach einem Telefonladen um, aus dem ich günstig meine Bank in Hamburg anrufen konnte. Am Ende der Fußgängerzone entdeckte ich ein Schild und marschierte los.
„Hallo?", hörte ich eine männliche Stimme hinter mir. Aber das war hier den ganzen Tag zu hören. Irgendwer wollte immer was. Ich eilte auf den Laden zu.
„Junge Frau?" Jemand zog mich am Ärmel. Ich fuhr herum. Vor mir stand der alte Mann aus der Schlange.
„Sie haben Ihre Karte steckenlassen." Er hielt mir meine Visakarte hin. Ich sah ihn an. Sein hageres Gesicht schien nur aus Falten zu bestehen, aber die Augen waren groß und klar.
Zögernd nahm ich die Karte. „Danke ... Ich ... Was kann ich ..."
Er winkte ab und verschwand in der Menschenmenge. Kurz darauf sah ich ihn in eine Gasse gegenüber einbiegen. Ich blieb noch eine Weile stehen, als wäre klar, dass er gleich wiederkäme. An der Gassenecke kicherten Schulmädchen in grauen Faltenröcken und großen Schleifen in den streng geflochtenen Zöpfen. Ein Junge eilte barfuß vorüber, in der Hand einen Halter mit Teegläsern. Von irgendwoher erklang eine Flöte. Langsam setzte ich mich in Bewegung und drehte mich noch ein paarmal um.

Am Telefon sagte mir die Bankangestellte, dass meine Karte auf ein Tageslimit beschränkt wäre, das hätte ich doch selbst unterschrieben. Es fehlten fünfhundert Euro. Mehr konnten die Betrüger nicht abheben. Ich schluckte und wusste nicht, ob aus Frust oder Freude.

Der Busbahnhof lag etwas außerhalb. Ich zog den Koffer die Landstraße hinunter, strich mir eine Strähne aus der klebrigen Stirn und dachte an den alten Mann. Aus den Büschen erhob sich der Gesang der Grillen, in der untergehenden Sonne tanzten Mücken. Ich blieb stehen und sah zu den Bergen hinauf. Seichte Wolkenschwaden umschmeichelten die Wipfel wie rosa Gespenster. Einen Moment lang schloss ich die Augen, breitete die Arme aus und spürte, wie mein Brustkorb sich dehnte.
Neben mir hielt ein Taxi. Ich lächelte den Fahrer an und schüttelte den Kopf. Während er davonfuhr, sah ich noch einmal zu den Wipfeln hinauf. Irgendwo da oben würde ich in zwei Tagen sein und könnte endlich das tun, was ich schon immer machen wollte. Ausspannen, meditieren, schreiben. Die Wolken verdichteten sich und nahmen eine dunklere Farbe an. In der Ferne hörte ich den Bus hupen.

 

Hallo Chai!

Für mich ist das eine sehr runde Geschichte, bei der du sehr vieles richtig machst - und für mein Geschmack eigentlich nirgends daneben greifst. Das Szenische gefällt mir sehr gut, auch deine Figuren, was sie tun, wie du eine Haltung zu ihnen aufbaust und das dann doch immer wieder drehst, auch zum Schluss vor allem, bei Vijay. Ich hab dir das alles abgekauft und fühle mich sehr gut unterhalten und empfand keinerlei Längen oder Logikfehler o.ä. beim Lesen. Wirklich toll.

Die Missbrauchsszene fand ich krass, obwohl ich eigentlich schon "Härteres" gelesen habe - aber gerade durch ihre Authentizität und wie du die Szene zuvor in der ganzen Story aufbaust, hat mich das wirklich sehr erwischt und ich konnte die Ausweglosigkeit, das Ausgeliefertsein und die Panik nachempfinden. Finde ich lobenswert, wie du ohne großen Effekt das in einer Schlichtheit eigentlich passieren lässt, die sehr alltäglich und deswegen auch authentisch wirkt - ich empfand das schon als Schlag in die Magengrube. Aber das ist sehr gut für die Geschichte.

Unverschämt grün thronte der Himalaya über dem staubigen Tal. So grün, als wollte er es verspotten.
Das war eine der wenigen Stellen, an denen ich über eine Formulierung gestolpert bin. Ich finde, dieser Vergleich ergibt überhaupt keinen Sinn, liebe Chai.

Hier liegt echt der Hund begraben, dachte ich und setzte mich so vorsichtig aufs Bett, als sollte niemand merken, dass ich da wäre. Aber mit der Zeit werde ich mich bestimmt daran gewöhnen.
Ich finde diesen Gedanken ein bisschen zu direkt, auch mit der abgedroschenen Floskel. Ich finde deine Dialoge wirklich gut und sie wirken sehr echt, aber dieser Gedankensprengsel wirkt wirklich etwas wie Info vom Autor, und dann auch so direkt und "uninspiriert" formuliert. Ich würde die Floskel wirklich kicken und schauen, ob ich dieses Gefühl, hier läge der Hund begraben, nicht noch anders hinbekäme, meinetwegen mit etwas, das die Prot sieht und der Leser schlussfolgert dann selbst: Aha, das ist wirklich ein abgelegenes Kaff.

Dann zählte ich mein Geld. Mist, ich habe nicht mehr genug Bargeld, um die Rechnung zu bezahlen, und die nächste Bank ist zwei Stunden Busfahrt weg, in der Stadt.
Das fand ich nicht ganz unglaubhaft, aber doch etwas aufgesetzt. Sie - eine studierte Europäerin im mittleren Alter mit langer Indien-Erfahrung - fährt also in die absolute indische Pampa ohne sich genügend Bargeld für eine Zimmerrechnung mitzunehmen? Sie will auch noch ein halbes Jahr dort bleiben, und bereits die Miete für ein paar Tage kann sie nicht bezahlen? Dann noch Pampa, wo man eh erwartet, dass da kein Bankautomat steht? Ich weiß nicht! :) Kam mir etwas aufgesetzt vor, als ob du die Prot hier notgedrungen irgendwie noch in die Stadt fahren lassen willst

Ja, so könnte es kommen, dachte ich und klappte das Ringbuch zu. Über den Bergwipfeln verdichteten sich die Wolken. Der junge Mann saß immer noch auf der Mauer. Ich beschloss, hinunter zu gehen und ihn zu fragen, ob er studierte.
Hmm ... ja, hat was, das Ende. So ein wenig enttäuschend fand ich's, weil ich mir dachte: Schade, dass das nicht "wirklich" passiert ist, das nimmt etwas die Brisanz. Also ich meine, dass das hier zu Ende hin schon als Ausgedachtes etikettiert wird, nimmt mir unnötigerweise meine Emotionen auch bezüglich des Missbrauchs und den Trickbetrügereien - weil ich mir denke: So what, ist ja gar nicht passiert. Verstehst du, wie ich es meine? Hättest du diesen Absatz weggelassen, hättest du mich mit all dem Geschehenen als Leser erst mal zurückgelassen und ich hätte das verdauen müssen. So nimmst du mir halt etwas auch den Stein aus dem Magen von den harten Szenen, indem du sagst: Keine Angst, ist nur ausgedacht!

Chai, ich hab die anderen Kommentare nicht gelesen, damit du einen authentischen Leseeindruck bekommst, aber ich finde das wirklich eine sehr, sehr gute Geschichte. Plot, Figuren, Dramaturgie und Wendungen, das sitzt alles und ich hab das wirklich sehr gerne gelesen. Ich frage mich zwar, ob es das wirklich gibt mit dem Fake-Reisebüro, ob das eine Masche ist, von der du mal gehört hast, dass sie so passiert ist, und du das für deine Story genommen hast, oder ob du dir das ausgedacht hast? Es wirkt einerseits sehr authentisch auf mich und ich bin dazu geneigt, dir alles abzunehmen, was du über Indien erzählst, andererseits stelle ich es mir unnötig aufwendig und irgendwie übertrieben vor, dass jemand ein eigenes Reisebüro auf- und zumachen kann, wegen ein paar tausend Pfund (oder habe ich da etwas missverstanden).
Aber das ist nichts, was ins Gewicht fallen würde, ich finde das wirklich eine tolle Story. Chapeau!

zigga

P.S. Der Titel macht für mich keinen Sinn und hat mir auch eine andere Vorstellung vom Inhalt der Story gegeben, was ich etwas schade finde.

 

Hey Raindog,
ganz lieben Dank für deine erneute Mühe. Wenn ich mir den Absatz, den du kopiert hast, so anschaue, muss ich lachen und sehe die Figuren ständig durch eine Drehtür im Kreis rein- und rauslaufen. Im Prinzip tun sie das ja auch. Aber es ist schon recht viel, was da gekommen und gegangen wird, und Fliege hat mich nochmal darauf aufmerksam gemacht, dass mir Türen offenbar sehr wichtig zu sein scheinen.

Dass das alles unruhig wirkt, ist ja zunächst mal nicht schlecht, nur soll sich der Leser natürlich nicht überfordert fühlen von dem ewigen hin und her oder gar langweilen.
Tjaaaa, was mach ich da ... Einige Formulierungen, wie:
"Ich versicherte mich dreimal, ob die Tür richtig abgeschlossen war" können natürlich raus, und wie ich den Rest eindämmen könnte, muss ich mir noch überlegen.
Teilweise habe ich versucht, dadurch die Spannung rauszuzögern, bis wieder wirklich was passiert. Wieder jemand kommt oder geht. Haha. Nein, es stimmt schon, zum Teil habe ich versucht, Leerräume zu füllen, Alices Angst zu steigern, dass sie da nie wieder wegkommt. Die Geschichte geht ja sehr langsam los, da hatte ich das Gefühl, es wäre ein rythmischer Bruch, die Tage so abzuhaken, bis irgendwas Existentielles passiert. Oder eben alles Schlag auf Schlag folgen zu lassen.

"Vijay ist nicht zurückgekommen ... Wo warst du denn so lange ... Na, dann lass uns morgen trampen ..."
Ja, schwierig. Da muss ich mich nochmal näher mit befassen, wenn ich ein wenig Abstand zum Text habe. Dass Ram da auf die Bushaltestelle zugerast kommt, ist mir schon wichtig, auch, dass gesagt wird, dass sie trampen wollen. Hm. Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass ich das eine oder andere weglassen muss. Viel auf und zu, bzw. kommen und gehen ist ja um die Szene herum, wo Alice im Regen an der Bushaltestelle sitzt. Die könnte ich z.B. weglassen, aber an der Szene hänge ich. Manchmal ist es ja so, dass es einem plötzlich selber auffällt, wenn man den Text nochmal mit den Augen des Lesers liest, also bin ich selbst gespannt, wie ich das dann mit Abstand so sehe.
Wenigstens weiß ich jetzt schon mal, wo ich ansetzen muss. Hab ganz herzlichen Dank dafür.

Deine Idee zum Schluss ist toll, ich werde mich da mal ranwagen und gucken, wie mir das dann in den Kram passt.

Sei herzlich gegrüßt und bedankt von Chai


Liebste Kanji,
- Deinen Hirnstoffwechsel betrachte ich als Leseprobe für mehr und Größeres. -
Leseprobe? Schluck. Das is'n Monster. Aber ein toller Ansporn, vielen lieben Dank dafür.

- Das liegt vor allem an deiner Sprache und deinem Humor. -
Schön, dass du den Humor im Text entdeckt hast.

- Deine Negativbeschreibung kommt nicht bei mir an. Ich lese:
"Über dem staubigen Tal thronte majestätisch der Himalaya, so als würde er es schützen."
Das hast du total schön gesagt, den Satz könnte ich mir gut in einem deiner Texte vorstellen. Und es freut mich, dass der Satz dir trotzdem ein positives Bild beschert hat, sich keine Negativität breit gemacht hat, denn es ist ja erst der Anfang der Geschichte, man kennt die Figur noch nicht, und grade da könnte man vielleicht denken: Och nö, die ist mir zu depressiv.
Es ist schön zu hören, dass Alices schlechte Laune hier nicht im Vordergrund steht, dem Leser nicht aufgedrückt wird.

- Sie sucht und sucht und lässt das Leben und die Menschen auf sich einprasseln wie den Monsun. -
Und auch das hat mich sehr gefreut. Du kennst Alice, und es ist schön, dass ich sie mit dir teilen konnte.

- Jeden Monat eine Geschichte wäre sicherlich zu viel verlangt ... -
Ja. Ich bin eine Langsamarbeiterin. Also nicht aus Faulheit, sondern ich muss das zwischendrin alles erstmal wieder sacken lassen. Auch bei kurzen Sachen. Liegt vielleicht auch am Klima. Und ja, weil es eben auch manchmal schwer ist, mit Lob umzugehen und immer die richtigen Worte zu finden, sag ich jetzt einfach ganz schlicht danke dafür, dass du meine Geschichten gerne liest und das nur eine Leseprobe für dich war.

Ich wünsche dir noch einen geruhsamen Abend und bis bald.

Liebe Grüße von Chai

 

Hallo zigga,

ich schlage hier Purzelbäume. So viel Lob! Vielen vielen Dank!

- Die Missbrauchsszene fand ich krass, obwohl ich eigentlich schon "Härteres" gelesen habe. Ich konnte die Ausweglosigkeit, das Ausgeliefertsein und die Panik nachempfinden. -
Das ehrt mich sehr, zigga, vor allem, weil du ein Mann bist. Vielen Dank dafür! Und dass die Szene deshalb auf dich wirkt, weil sie in ihrer Schlichtheit einfach passiert, ist ein tolles feedback, denn ich hatte, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie das ankommen wird, ob's zuviel ist, trotzdem ich versucht habe, es schlicht zu halten, man weiß ja nie. Und auch, dass es zur Entwicklung der Figur passt. Und es sollte genau so ankommen, wie du es empfunden hast. Da bin ich sehr glücklich drüber.

"Unverschämt grün thronte der Himalaya über dem staubigen Tal. So grün, als wollte er es verspotten."
- Ich finde, dieser Vergleich ergibt überhaupt keinen Sinn, liebe Chai. -
Der Vergleich ergibt für mich in zweierlei Hinsicht Sinn. Einmal spiegelt er Alices Gefühlszustand wider, sie ist halt genervt und abgegessen, kann die Schönheit nicht erkennen und schwitzt sich einen ab in der trockenen staubigen Luft, während um sie herum alles blüht. Außerdem weist der Satz auf das hin, was folgt, der junge Mann, der in der Blüte seines Lebens steht im Vergleich zu ihr und dem Bild, was sie von sich hat.

"Hier liegt echt der Hund begraben ..."
- Ich würde die Floskel wirklich kicken und schauen, ob ich dieses Gefühl nicht noch anders hinbekäme. -
Ich hab mich schon gewundert, warum das bisher niemand beanstandet hat. Klar ist das 'ne total abgedroschene Floskel, es sollten halt ihre Gedanken in dem Moment sein, aber mir wurde schon geraten, diese bestätigenden Gedanken wegzulassen und es stattdessen bei den Beschreibungen zu belassen. Dieser Satz ist ein weiteres Beispiel dafür. Ich denke, ich habe die Ödnis schon durch die Fliege am Fenster und die Kinder deutlich gemacht, die mit ihren Holzbrettern die Straße runterfahren. Außerdem ist ja auch schon vorher klar, dass es da recht einsam ist, also werde ich das wohl rausnehmen. Dank dir.

- ... eine studierte Europäerin im mittleren Alter mit langer Indienerfahrung kann die Miete schon nach ein paar Tagen nicht mehr bezahlen? -
Dass sie studiert hat, wird nicht gesagt, und selbst wenn, heißt das nicht, dass sie nicht trotzdem chaotisch sein kann.
Über die Szene ist Anne49 auch gestolpert. In zweierlei Hinsicht. Ich wollte dadurch u.a. nochmal auf Alices Desorganisiertheit hinweisen, aber die muss ich wohl generell noch klarer herausarbeiten, wenn der eine oder andere das nicht nachvollziehen kann. Zum anderen war Anne nicht wirklich klar, wie gut Alice Indien kennt und du sprichst von langer Indienerfahrung. Eigentlich sollte sie die nicht haben, sonst wäre sie nicht so unsicher, wie sie das Verhalten der Menschen dort einordnen soll. Aber an manchen Stellen weiß sie dann plötzlich doch Bescheid. Das widerspricht sich, is klar. Da muss ich wohl nochmal ran. Und ja, das mit dem Fake- Reisebüro ist tatsächlich eine Betrugsmasche in "diesen Ländern." Ich glaube, in Thailand ist das besonders weit verbreitet. Hab viel im Intetnet darüber gelesen und mich auch bei Bekannten hier in Indien erkundigt, wie das ablaufen kann. Ich denke, das lohnt sich schon, wenn man da jedesmal mehrere Tausende einsackt, vor allem im Vergleich zu den landesüblichen Durchschnittslöhnen.

Deinen Unmut zum Ende hast du ja noch nett formuliert, von den meisten anderen hab ich's direkter um die Ohren gehauen bekommen. Das Ende muss weg. Ganz klar. Da hat sich so ziemlich jeder verarscht gefühlt, und du hast es noch mal schön auf den Punkt gebracht, dass das den harten Szenen die Brisanz nimmt. Das soll es natürlich nicht. Ich bin da immer noch am rumbasteln dran.

- Der Titel macht für mich keinen Sinn. -
Ja, da bist du leider auch nicht der einzige. Ich hatte Anne schon geschrieben, dass der Titel den Prozess meint, durch den Alice geht, wie neue Sichtweisen sie verändern und das Hirn neuen Stoff bekommt. Ich verstehe aber, dass der Titel eine ganz andere Erwartung weckt und so mancher sicher ein anderes Thema erwartet.

Vielen Dank für den super Kommentar und ein schönes Wochenende!

Liebe Grüße,
Chai

 

Hallo @Nichtgeburtstagskind, @Peeperkorn, @Raindog, @wieselmaus, @Fliege, @zigga,
ich weiss, es ist sehr heiss bei euch und der Hirnstoffwechsel recht lang, aber ich habe mir viele eurer Vorschlaege zu Herzen genommen. Und weil ihr diejenigen seid, denen das Ende nicht gefallen hat, wuerde ich mich freuen, wenn der eine oder andere nochmal druebergehen koennte und mir feedback gaebe, ob das jetzt so geht und dem Rest der Geschichte gerecht wird oder ich eher noch weiter dran arbeiten sollte.

Vielen vielen Dank schon mal vorweg!

Liebe Monsungruesse von Chai

 

Hi @Chai,

eine kurze Rückmeldung zu deiner schönen, langen Geschichte, die mir mit dem neuen Ende noch besser gefällt. Ja, ich finde gut, dass sich jetzt nicht mehr alles, womit man ja mit gefiebert und gelitten hat, in Wohlgefallen auflöst.
Und ich finde auch gut, dass jetzt nicht alles weg ist für deine Prota, sondern "nur" 500 Euro,
das reicht, um sich zu ärgern, aber es nimmt ihr jetzt auch nicht die ganze Existenzgrundlage, denn das hattest du ja sicher auch nicht vor.
Du hast ja sogar noch einen ehrlichen Inder eingebaut am Ende, der ihr die Visakarte hinterherbringt. :)

Ansonsten weiß ich gar nicht genau, was du außer dem Schluss im einzelnen noch geändert hast, aber egal, es liest sich ja gut.
Was ich immer nicht so mag, ist, dass Vimla die ganze Zeit so anstrengend gebrochen deutsch (bzw. englisch) redet: Vielleicht genügt, sie das am Anfang mal kurz tun zu lassen und dann weiß man es?

Das hier finde ich übrigens sehr schön (unter anderem), weiß nicht genau, ob du da noch etwas dran geändert hast inzwischen, oder ob es schon immer so war.

Ich musste innerlich grinsen und empfahl ihm ein paar Bücher zu dem Thema, die mich in seinem Alter auch begeistert hatten. Die kannte er aber schon und empfahl mir Bücher zu meinem Thema, die ich noch nicht kannte.

Und das hier ist auch toll beschrieben, auch wenn es vorher schon da war:
Die Straße war voller kleiner Läden mit Hippieklamotten vor den Türen, Fressständen und Gästehäusern, die Sonne und Mond hießen. Händler mit gescheiteltem Haar riefen ihre Waren aus, und Touristen mit Decken um die Schultern schlurften über den Basar, als kämen sie gerade vom Woodstock-Festival.

Irgendwo da oben würde ich in zwei Tagen sein und könnte endlich das tun, was ich schon immer machen wollte.
Sie fährt jetzt also noch höher in die Berge, in ein anderes Gästehaus? Hoffentlich trifft sie da auf nettere Menschen! ;)

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
wünscht dir Raindog

 

Hey @Raindog,
oh, da bin ich aber froh, dass dir das neue Ende gefallen hat! Danke, dass du dich mit der Geschichte nochmal auseinandergesetzt hast. :herz:

Die Stellen, die du zitiert hast, waren vorher schon so, aber das macht nichts, ist natürlich trotzdem gut, dass sie dir gefallen haben.

Innerhalb der Geschichte habe ich nur ein paar Kleinigkeiten geändert, und bei der Länge ist klar, dass du dich nicht mehr an alles erinnern kannst. (Ist ja nun auch schon über zwei Monate her.)

Jedenfalls bin ich erleichtert, dass das - zumindest für dich - so funktioniert, ich selbst musste mich mit dem neuen Ende erstmal anfreunden, aber so ist es wohl immer. Und wenn zuviele Leute sagen: Nee, geht gar nicht, muss man wohl was ändern. Deshalb bin ich ja hier.

Viele liebe Grüße, und ich hoffe, dass euch die langersehnte Abkühlung endlich erreicht hat.

Chai


Liebe @Raindog,

ich nochmal. Wollte den vorherigen Kommentar eigentlich bearbeiten, aber das hat nicht geklappt.
Zu Vimla nochmal: Ich kann verstehen, dass das nervt mit dem gebrochenen Deutsch, aber ich würd's gern so lassen. Hab versucht, ihr keinen allzu langen Text zu geben, damit man nicht immer aus dem Fluss gehauen wird.
Und, ja, Alice fährt jetzt noch höher in die Berge, und man ahnt schon, dass es da auch wieder nix wird mit der Ruhe. Schön, dass das so rüberkam.

Hab ein schönes Wochenende.

 

Hey Chai,

ich habe mir jetzt nur das Ende durchgelesen, und ich finde es sehr versöhnlich, happy. Und es geht schnell. Du baust seitenweise das Beziehungsgeflecht auf, dann Entlarvung, und puh Glück gehabt - das passt dann in paar Sätze. Weiß nicht, wie das wirkt, wenn man die Geschichte jetzt zum ersten Mal liest. Vielleicht versöhnlich, vielleicht geht es dem Leser aber auch zu schnell. Allerdings wüsste ich auch nicht, wo da noch "Länge" herkommen sollte, denn eigentlich gibt es ja nicht viel, was man dazu erzählen könnte. Das ist jetzt auch so eine Rückmeldung, mit der Du gar nichts anfangen kannst, tut mir leid. Aber das sie alles real erlebt hat, ist auf jeden Fall besser. Und die ganzen Seiten vor dem Ende, die bleiben ja toll. Kurz: Ich bin jetzt kein mega Fan vom neuen Ende, aber mich stört es auch nicht. Es fühlt sich versöhnlich an. Vielleicht ist es gut, nach der langen Strecke Weg, den ich jetzt ausgelassen hab. Mich würde sehr interessieren, wie es auf einen Erstleser wirkt. Vielleicht findet sich ja noch einer.

Und, ja, Alice fährt jetzt noch höher in die Berge, und man ahnt schon, dass es da auch wieder nix wird mit der Ruhe.

Dieses Gefühl hat sich mir jetzt nicht aufgedrängt. Klar, wäre möglich, aber Anzeichen dafür gibt der Text nicht wirklich her für mich. Vielleicht schiebst Du noch eine Regenwolke oder Nebel drüber :).

Beste Grüße, Fliege

 

Fliege schrieb:
Das ist jetzt so eine Rückmeldung, mit der du gar nichts anfangen kannst, tut mir leid.
Oh, doch, das kann ich, liebe @Fliege, ich bin froh, dass du mir nochmal Feedback gegeben hast.

Und wie du schon sagst, es ist schwer, da jetzt noch mehr "Länge" reinzubringen, denn irgendwann muss es ja auch mal zu Ende sein.:gelb:

Dein Vorschlag, zum Schluss nochmal eine Regenwolke oder Nebel drüberzuschieben, damit klar ist, dass Alice wohl am nächsten Ort auch nicht die gewünschte Ruhe findet, gefällt mir. Werde da noch bisschen dran rumbasteln, vielleicht kommen ja noch ein paar Vorschläge von dem einen oder anderen.
Du hast mir auf alle Fälle weitergeholfen, auch, wenn dir das selbst nicht so vorkommt.

Ein schönes Restwochenende wünscht Chai

 

Liebe Chai,

ich habe nochmals die ganze Geschichte gelesen. Einiges war wie neu für mich, so als ob du dem europäischen Leser noch ein wenig auf die Sprünge helfen wolltest. Es kann aber gut sein, dass ich beim ersten Mal nicht so aufmerksam gelesen habe, sondern mich ziemlich schnell vom hirnvernebelnden Joint einfangen ließ. Die Story kommt mir jetzt stringenter und, was die Spannung angeht, plausibler vor, was ja nicht schlecht ist.
Mir geht es ein wenig wie Fliege. Der Schluss ist nicht verkehrt, da will ich keinesfalls meckern. Aber so ein Hauch von Ungewissheit vermisse ich doch, ich meine das Zauberhafte im wahrsten Sinne des Wortes, bei Vimla hast du es ja kurz angedeutet

Sie beugte sich zu mir herüber, zwinkerte mir verschwörerisch zu und flüsterte (mir zu), dass ihr Ram auch bald wieder jung und schön wäre ...

Überhaupt interessiert mich brennend, ob diese Geschichte von indischen Menschen anders gelesen wird als von europäisch/westlichen. Und von Frauen anders als von Männern. Hast du darüber Erkenntnisse?

Also ändern musst du nichts mehr. Ich kann mir den Text gut in einer Geschichtensammlung vorstellen, die sich mit „kulturellen Overlays“ beschäftigen.

Herzlichst
wieselmaus

 

Hallo liebe @wieselmaus,
auch dir vielen Dank, dass du dir Geschichte nochmal zu Herzen genommen hast.
Innerhalb des Gesamttextes habe ich nur Kleinigkeiten geändert, ein paar Dialoge, in der Mitte versucht, mehr zu straffen und Alice nicht mit zu wenig Geld da ankommen zu lassen. Dass es dir stringenter vorkommt, freut mich, sicher machen auch kleine Änderungen schon eine Menge aus.

Wie die Geschichte von einem Inder aufgenommen würde, ist schwer zu sagen, denn die, mit denen ich verkehre, sprechen nur englisch.

Ich habe zwar dem einen oder anderen vom Inhalt erzählt - auch, um mir Tips zu holen -, aber es ist natütlich nochmal was anderes, wenn man den Text liest. So habe ich erstmal nur zu hören bekommen, dass die Idee durchaus spannend ist und mir wurde gerne zugehört. Aber wie es wirkt, wenn man es selber liest - und mich nicht kennt - kann ich natürlich so nicht beurteilen.

Anhand des feedbacks hier im Forum habe ich den Eindruck, dass die Geschichte von Frauen und Männern ähnlich aufgenommen wurde, es also keine reine Frauengeschichte ist.

Dass du sie dir gut in einem Band über kulturelle overlays vorstellen kannst, freut mich natürlich auch sehr.

Das Ende werde ich hier und da noch ein wenig ändern, sodass es nicht mehr ganz so Friede, Freude, Eierkuchen ist. Den einen oder anderen Hinweis, dass der Schein trügt, werde ich noch versuchen einzubauen.

Also nochmal meinen allerherzlichsten Dank, dass du dir nochmal die Mühe gemacht hast und dass das Ende zwar nicht der Hit ist, aber grundsätzlich so geht.

Liebe Grüße,

Chai

 

Hallo @Chai,

immer noch eine sehr schöne Geschichte mit einem jetzt viel besser passendem Ende.

„Sie haben Ihre Karte steckenlassen." Er hielt mir meine Visakarte hin. Ich sah ihn an. Sein hageres Gesicht schien nur aus Falten zu bestehen, aber die Augen waren groß und klar.
Schöne Stelle. Es macht Sinn, dass sie ihre Karte jetzt auch noch vergisst, sie ist ja total durch den Wind. Schön, dass es gut ausgeht.

An der Gassenecke kicherten Schulmädchen in grauen Faltenröcken und großen Schleifen in den streng geflochtenen Zöpfen. Ein Junge eilte barfuß vorüber, in der Hand einen Halter mit Teegläsern. Von irgendwoher erklang eine Flöte.
Du schaffst es gut die Atmosphäre dort zu beschreiben! Gefällt mir. :)

Irgendwo da oben würde ich in zwei Tagen sein und könnte endlich das tun, was ich schon immer machen wollte. Ausspannen, meditieren, schreiben.
Dann hoffen wir mal, dass sie das dort endlich schafft!

Ich habe mich am Ende nur gefragt, warum sie Vijay nicht anzeigt. Ihr Geld bekommt sie dadurch wahrscheinlich nicht wieder, aber vielleicht könnte verhindert werden, dass der das noch mal macht.

Liebe Grüße,
NGK

 

Liebes @Nichtgeburtstagskind,
auch dir meinen allerherzlichsten Dank, dass du dir diesen Brocken nochmal vorgeknöpft hast - und für dein positives feedback.

Nichtgeburtstagskind schrieb:
Immer noch eine sehr schöne Geschichte mit einem jetzt viel besser passendem Ende
Puh, da bin ich aber froh!

Nichtgeburtstagskind schrieb:
Es macht Sinn, dass sie ihre Karte jetzt auch noch vergisst, ...
Da auch ...

Nichtgeburtstagskind schrieb:
Du schaffst es gut die Atmosphäre zu beschreiben
Das freut mich sehr! Danke.

Du wolltest wissen, warum Alice Vijay nicht anzeigt. Es würde wohl nichts bringen. In der Regel steckt die örtliche Polizei da mit drin und wurde im Vorfeld geschmiert. Money talks. Es bringt leider wenig mit solchen Abzockgeschichten zur Polizei zu gehen. Und das Land ist so riesig, Korruption an der Tagesordung, dass es keine Seltenheit ist, dass sowas passiert. Leider.

Ich hab mich sehr über deinen post gefreut, NGK, hab eine schöne Woche.

Liebe Grüße von Chai

 

“...

If you think the harmony
Is a little dark and out of key
You're correct
There's nobody there“

George Harrison: “Only a Northern Song“ (1967),
auf The Beatles‘ “Yellow Submarine“ (1969)​


„Ich muss sofort ins Bett“, sagte ich.
Er warf mir einen leicht enttäuschten Blick zu, aber riss sich gleich wieder zusammen.
„Okay, Prinzessin, dann bringe ich Euch in Euer Gemach. Ich hoffe, Eure Hoheit haben nichts dagegen, wenn ich mir noch ein wenig die Beine vertrete?“
„Wir wünschen zu ruhen, mein Herr. Ihr könnt derweil tun, wonach Euch dünkt.“

Hui, Chai,

wenn meine Rechenkünste nicht ganz daneben gehen und die Rubrik „Eigenschaften“ mich nicht mit den ca. 69.000 Zeichen täuscht, dann gibt das Werk derzeit ca. 38 Normseiten zu 60 Zeichen/Zeile und 30 Zeilen/Seite unter Courier New 12 pt. -

die Type der guten alten Schreibmaschine …

Zwo Seiten weniger als bei meinem ersten Besuch im hintersten Vorderindien.

Diese Marke hab ich hierorts bisher nur einmal übertroffen – und es war eine Rezension übers Gesamtwerk von Gottfried Keller, zusammengedampft zu einer Biografie.

Nun, als geübter Sesselfurzer ist das eine ersetzliche Aufgabe. Schließlich hat die Ich-Flut mir an anderer Stelle geholfen, einen Reim in einem Sonett hinzukriegen. Setz ich hier hinten dran – weil‘s wenn auch in einem großzügigen Sinn passt, denn schon das erste Wort beweist, dass es auch ohne „ich“ geht. Beim nächsten Durchgang schau‘n wir mal, ob sich die Ich-Flut eindämmen lässt – lässt sich garantiert, nicht immer, aber doch ein ganzer Batzen. Also, lass uns starten, denn hier ist noch eine kleine Flüchtigkeit zu korrigieren – kurios genug mit der ersten Person singular

Im Haltestellenhäuschen setzte [ich] mich auf eine Bank. Außer mir wartete niemand.
„Wollen wir heute mal ein bisschen fernsehen?“[,] fragte er, als die Serie zu Ende war.

Hier mein ich, dass die Vorstellung
Nach einer Weile schielte ich zu ihm hinüber. Er verfolgte weiter das Programm. Ich stellte mir vor, wie ich aufstand, ihn bat, ein Stück zu rücken und mich neben ihn legte.
auf doppelte Weise jenseits des Indikativs liegt und nach dem Konjunktiv ruft:
a) es ist für Alice eine Fiktion und
b) referierstu die Figur der Icherzählerin.
Du wirst staunen, der Konj. I ist damit identisch mit dem Präsens (bin ich gerade selbst erst dank jimmy drauf gestoßen – obwohl mir die Logik immer schon sagte, wenn es fürs Futur ein historisches Präsens gibt, gibt es dergleichen auch fürs Prät.) Der Konj. I für aufstehen, bitten und legen ist in diesem Fall hier identisch mit der ersten Person Präsens - aufstehe, bitte, lege, also:

„Ich stellte mir vor, wie ich aufstehe, ihn bitte, ein Stück zu rücken und mich neben ihn lege.“

Hier

Draußen hatte es aufgehört zu regnen und wurde immer heller.
wirstu nicht um ein zwotes „es“ herumkommen „und es wurde … heller“ (hängt mit den unterschiedlichen Prädikaten „hatte aufgehört“ (haben als Hilfsverb zu aufhören) und „wurde heller“, werden als Vollverb . zusammen)

Ich war schlagartig nüchtern und wollte mich gerade beschweren, da war es schon wieder vorbei.
Nicht so sehr wegen des doppelten „war“, denn besser ist

„ich wurde schlagartig nüchtern“

als Vorgang, an dessen Ende die Ernüchterung steht

Meine Beine schienen wie Sirup einen Moment am Boden fest zu kleben, bevor ich den nächsten Schritt tun konnte.
„festkleben“ ein Wort – auch sein Infinitiv mit zu

Die nächsten zwei Stunden stand ich in einem Karussel[l]

Vijays Reisetasche stand neben dem abgeschabten Holztischchen, daneben mein Koffer.
Keine Rucksackgeneration mehr?

Als ich mich abtrocknete, hörte ich Schritt[e] auf dem Gang.

Kleiner Scherz am Rande zur Auflockerung und Entspannung

Morgens hörte ich das Scheppern der schweren Metall-Jalousien, die die Verkäufer …
Satz, mit sechs „die“ hintereiander: Die, die die, die die Dienstvorschrift missachten, verpfeifen, sind keineswegs pfiffig -

warum nicht „… Jalousien, welche die Verkäufer ...“?

Ich quälte mich zur Rezeption, um Mohammed zu fragen, ob er Vijay gesehen hatte.
Besser: „… gesehen habe.“

Bin, der ich war und immer sein werde
eingangs des Raums bis zum Ablauf der Zeit,
wenn's Euch mal zu eng, dann wieder zu weit.
Nichts und Niemand in Himmeln und Erde.

Beherrsch die Zeit, da's ächzet und ichtet
aus dem Verstand des Heuschreckens Schwarm
und der selbstlosen Zecke findigen Charme,
dass das Anthropozän selbst sich richtet.

Schein manchmal ein Freund - doch immer Euch feind,
bin's Chaos, das trennt und gar nimmer eint
in all den Himmeln wie auf der Erde.

Nix da! Kein Trost, den Himmel füllt Leere,
dem Schlachtfest Erde gebühret die Ehre!
Stumm bleibt die Stimme, dass etwas werde.
(aus dem Nachspiel zu "Wallsteins Schlafzimmer")

Tschüss, gute Nacht und bis bald!

Friedel

 

Mein lieber @Friedrichard -Friedl,
na, da war ja die Ich-Flut doch noch zu was gut, wenn sie dich für einen Text inspiriert hat. (Ich) habe ein wenig ohne (Ich) experimentiert, aber irgendwie hat mir das nicht gefallen. Klang auf einmal so stichwortartig und nach einem ganz anderen Stil. Hab mal in andere Texte reingeguckt aus "echten" Büchern, da wird teilweise auch viel ge-ichelt, und (ich) habe schon viel geschoben und umgestellt, aber ganz ließ es sich dann doch nicht vermeiden (für mich).

Aber zunächst mal ein großes Dankeschön, lieber Friedl, dass du dich der Story nochmal gewidmet hast, obwohl sie sogar die Rezension eines Gesamtwerks Gottfried Kellers (von der Seitenzahl) übertroffen hat und das:

... als geübter Sesselfurzer ist das eine ersetzliche Aufgabe.
ist.
Hier habe ich erst "entsetzlich" gelesen und hoffe, das war nicht ursprünglich so gemeint.
Aber da wir ja alle freiwillig hier sind und bisher nichts in deinen posts auf extrem masochistische Tendenzen schließen ließ, hoffen wir mal das Beste.

Ja, es ist schön, dass du dich dem Text nochmal gewidmet hast, denn die Fehler, die du aufzeigst, stammen tatsächlich aus neuen Abschnitten, wie z.B. hier:

... bitte, ein Stück zu rücken und mich neben ihn lege.
Das klingt natürlich schon viel besser als mein komplizierter - und falscher - Satz, den ich jetzt nicht nochmal extra dazu aufführen werde. Aber hier:
Draußen hatte es aufgehört zu regnen und wurde immer heller.
sagst du, ich würde nicht um ein zweites "es" herumkommen, was ich ja eigentlich vermeiden wollte, und es klang auch ohne "es" richtig für mich. Aber deiner Erklärung warum und weshalb, habe ich leider nichts entgegenzusetzen, auch wenn ich mich frage, warum es nicht einfach auch so geht. Klingt doch gut. Aber wenn das falsch ist, muss ich das wohl ändern, aber "ich war schlagartig nüchtern" zu "ich wurde schlagartig nüchtern" zu machen, leuchtet mir nicht ganz ein. Kann man nicht beides schreiben?

Dass "festzukleben" ein Wort ist, muss ich wohl hinnehmen. ( Neuerdings neige ich dazu, vieles auseinanderzuschreiben, was eigentlich zusammengehört, und während ich das hier schreibe, bin ich mir auch schon wieder nicht sicher, ob das jetzt so richtig ist. Immer, wenn ich nachsehe, scheint beides möglich zu sein, aber vielleicht wende ich mich da an zu ungenaue Quellen.)

Auch "Karussel" wurde mir vom Nachschlagewerk mit doppel L angezeigt, aber ich lasse mich da gerne eines Besseren belehren.

"gesehen hatte" = habe.
Gut, damit kann ich leben.

"Jalousien, die ..."= welche.
Tja, das ist auch wieder so eine Marotte von mir, ähnlich wie das " Ich". In meinen Ohren klingt das nach Schulaufsatz, genauso versuche ich "dieser" zu vermeiden, für mich klingt das unschön. Und so viele "die"'s waren es ja nicht.

Last but not least: "Die Rucksackgeneration".
Aaaalso, lieber Friedl, das hat dich schon in deinem ersten post beschäftigt. Nein, Alice arbeitet bei einer Versicherung und reist mit Koffer. Was heutzutage tatsächlich keine Seltenheit mehr ist. Mit meinem wahren " Ich" aber tatsächlich wenig zutun hat.

So, nun bin ich durch. Das war ja doch nochmal 'ne ganze Menge, vielen lieben Dank dafür. Dummerweise scheine ich die Änderungen, jetzt im "neuen" Forum, nicht mehr am Handy vornehmen zu könen, jedenfalls nicht auf meinem. W-LAN ist hier grad unerträglich langsam, wenn es überhaupt funktioniert, also werde ich mich in den nächsten Tagen mal wieder ins Internetcafè begeben müssen und hoffe, dass bei der Überarbeitung nicht allzuviele Umlaute und Eszets meinen Weg kreuzen, denn dann muss ich mir was einfallen lassen.

Aber auch das kriegen wir hin.

Hab noch 'nen schönen Abend!

Liebe Grüße,

Chai

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Chai -

nix zu danken und ganz vermeiden lassen wird sich das "ich" so wenig als irgendein anderes Pronomen und dem/der Icherzähler/in (mein J, wat bin ich pc!) bietet sich ja auch nicht der Name an, das Personalpronomen zu ersetzen (wobei die Ersetzung in Wirklichkeit ja umgekehrt ist). Aber bin allemal einsichtig - vor allem auch wegen der erschwerten Bedingungen - glaube fast, dass ich bekloppt würde mit einem smarten phone und verstummte ... Kurz, dat machze schon richtich, wie man dat hier im Pott so sacht. Und das "ersetzlich" könnt auch "ersitzbar" heißen - aber ich spiel halt gerne ...

Kannze mich glauben!

Draußen hatte es aufgehört zu regnen und wurde immer heller.
Ich hol jetzt weit aus, um den Satz ohne doppeltem es hinzukriegen, und zwar - also nicht erschrecken!, denn neben der Lutherschen Übersetzung ("es werde ... Und es ward ...) kommt die Übersetzung durch Buber/Rosenzweig ohne neutrales Subjekt - nix anderes ist das "es" in Deinem und Luthers Fall - aus, wenn es heißt z. B. "Licht werde. Licht ward.". Also warum nicht "Der Regen/Zu regnen hatte aufgehört und immer heller wurde" - und wer will Dir untersagen, dass statt der Konjunktion "und" ein "dass" zu verwenden sei mit zusätzlicher, dann erzwungener Kommasetzung? Was Buber/Rosenzweig recht ist, darf uns ruhig billig sein.

..., aber "ich war schlagartig nüchtern" zu "ich wurde schlagartig nüchtern" zu machen, leuchtet mir nicht ganz ein. Kann man nicht beides schreiben?
Falsche Frage - da antworte ich drauf, dass man beides nehmen kann "ich wurde und war dann schlagartig nüchtern", denn wie schon zuvor der Genesis-Ausschnitt zeigt, muss erst was werden, bevor es ist.

Was die Zusammenschreibung betrifft, macht es der Duden einem auch nicht leichter, wenn er die eine wie die andere Schreibung zulässt und eine empfiehlt. Ich bin der Auffassung, dass jede Schreibweise was anderes bedeuten soll als die andere. Ich schau schon wegen einer anderen Stelle/Sache nach, ob in den Schriften des Rates für dt. Rechtschreibung sich was findet. Muss ja ne neuere Schrift geben, weil im vorigen Jahr das ß - das man zu Anfang der Reformation abschaffen wollte wegen statistischer winzigster Zahlen des Gebrauchs - nun auch als Großbuchstaben gibt. Kann aber dauern, heut nachmittag geh ich ganz in einer anderen Literatur auf, wenn ich einem seinen Steuerbescheid erkläre ... und die trudeln ja itzo ein für den normalen Sterblichen

Gut, damit kann ich leben.
...
Aber auch das kriegen wir hin.

Bin ich von überzeugt!

Tschüss und noch eine schöne Zeit wünscht der

Friedel

Nachtrag

Inzwischen hab ich wegen der Regeln zu Zusammen- und Auseinanderschreibung nachgesehen. Ist nicht dolle, aber zum Nachgucken (wenn's überhaupt iteressiert)

„Grundsätzlich gilt:
Die Bestandteile von Wortgruppen werden getrennt geschrieben.
Die Bestandteile von Zusammensetzungen werden zusammengeschrieben“,

heißt es von der Dudenredaktion*, und sie fährt mit den wenig befriedigenden Worten: „Allerdings ist die Unterscheidung von Wortgruppen und Zusammensetzungen nicht immer eindeutig möglich. Wo die nachstehenden Hinweise und das amtliche Regelwerk keine Klarheit schaffen, sollte sowohl Getrenntschreibung als auch Zusammenschreibung toleriert werden“, was immerhin den Kopf auf dem Nagel trifft. Denn auch die letzte Veröffentlichung des Rechtschreiberates (keine Bange, ist kein Überbleibsel einer Räterepublik) „Regeln und Wörterverzeichnis. Aktualisierte Fassung des amtlichen Regelwerks entsprechend den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung 2016“, Mannheim 2018** „regelt“ in Teil B (aaO S. 33 ff.) Auseinander- und Zusammenschreibung, ohne dass der eine oder die andere unbedingt damit weiterkäme

* https://www.duden.de/sprachwissen/rechtschreibregeln/getrennt-und-zusammenschreibung
** http://www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_Regeln_2016_redigiert_2018.pdf

weiter Informationen unter: https://grammis.ids-mannheim.de//rechtschreibung

 

Hey @Friedrichard,
damit wir uns nicht missverstehen: Ich schreibe nicht ALLES mit dem smartphone, in der Regel nur Kommentare - woran ich mich nach anfänglicher Verzweiflung schnell gewöhnt habe - und kleine Textverbesserungen, aber um Gottes Willen keine Texte. Dieser hier wäre dann wohl mein sicherer Tod gewesen. Kannze mir auch glauben.

Du machst dir echt solche Mühe, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Auch für die Duden-links. Und wie du schon sagst:

Was die Zusammenschreibung betrifft, macht es der Duden einem auch nicht leichter.
Da bin ich aber froh. Na ja, eigentlich nicht, denn Erleichterung wäre schon schön, aber auch durch diese Irrungen&Wirrungen werde ich mich kämpfen.

Immerhin weiß ich jetzt, wie ich das doppelte "es" vermeide und werde einfach schreiben:
"Es hatte zu regnen aufgehört und wurde immer heller."

... weil es das ß nun auch als Großbuchstaben gibt ...
Das ist ein Scherz, oder? Welches Wort fängt denn mit ß an, dass sich das lohnen würde ...?

Eine schöne Woche und dankende Grüße von Chai

 

ich:

... weil es das ß nun auch als Großbuchstaben gibt ...

Chai:
Das ist ein Scherz, oder? Welches Wort fängt denn mit ß an, dass sich das lohnen würde ...?

Nee, Realsatire: vor allem Firmen mit "ß" innerhalb ihres Namens waren genötigt. wenn der Name in Großbuchstaben dargestellt wurde, das doppel-s statt des ß zu verwenden (mir fällt natürlich nur'n Bier ein, Schlößer Alt ... z. B., dabei ist das ß gar nicht aus dem doppel-s, sondern wie der Volksmund schon richtigerweise mit dem "scharfen s" tituliert, aus der Zusammenfügunf von "sz" (ich werd mal deftig: scheisze) entstanden.

Aktuell muss der Rehtschreibrat sich mit der/dem geschlechergerechten Sprache/Deutsch beschäftigen und wird - ich drück den Daumen - keine neutrale Lösung finden und beim Alten bleiben. Was ist das für eine Gleichberechtigung auf dem Papier, die sich nicht auch auf der Gehaltsabrechnung in € nachvollziehen lässt?

Augenwischerei!!

Tschüss und bis bald

Friedel

 

Friedrichard schrieb:
Nee, Realsatire. Vor allem Firmen mit "ß" innerhalb ihres Namens waren genötigt.
:lol:

Friedrichard schrieb:
Mir fällt natürlich nur 'n Bier ein.
Na, denn mal Prost, lieber @Friedrichard, das "ß" wird ja wohl hoffentlich nicht den Geschmack verderben.

Bis bald, Chai
:anstoss:

 

Liebe @Chai,

könntest du kurz ein Zitat antworten, ab wann du deine Story überarbeitet bzw. gekürzt hast? Ansonsten schaffe ich es aus Zeitgründen leider schlecht, noch mal alles komplett zu lesen.

Gruß
zigga

 

Hey @zigga,
schön, dass du nochmal vorbeischaust. Ich weiß, die story ist sehr lang, und ich hatte auch schon ein bisschen schlechtes Gewissen, euch nochmal direkt anzuschreiben, aber mir geht es in erster Linie um das Ende. Das beginnt ab hier:

Zwanzig Minuten später stand ich am Bankautomaten ...

Lieben Dank dir, dass du dich, trotz Zeitmangel, nochmal gemeldet hast.

Viele Grüße,

Chai

 

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