Hundstage
Mit jedem Kilometer, den sie weiter aus der Stadt fuhren, spürte sie selbst im klimatisierten Auto, dass die Außentemperatur sank. Natürlich war das pure Einbildung, aber sie hatte einen ermüdenden Tag in ihrer überhitzten Wohnung hinter sich. Arbeiten bei diesen Temperaturen von beinahe 30 Grad wurde zur minütlichen Qual, denn trotz Fußbades mit Eiswürfeln, nassen Tüchern im Nacken und Ventilatoren auf Maximum, brach sie regelmäßig in Schweiß aus, und dann half nur mehr eine lauwarme Dusche, bis sie kurze Zeit später wieder bereits nackt unter dem Wasserstrahl stand. Besonders schlimm waren die Videokonferenzen, denn da musste sie zumindest ein leichtes T-Shirt tragen und oft für über eine Stunde auf ihrem Platz ausharren. Doch jetzt saß sie neben Fred, der sie - frisch wie eine Morgenbrise - aufmunternd anlächelte. Er hatte auch gut lachen, denn seine Wohnung besaß eine Klimaanlage, sein Auto war sowieso gekühlt, wenn er es aus der Tiefgarage unter seinem Loft fuhr, und noch dazu war er unverschämt schlank, sodass auch kein Gramm Fett seine Körpertemperatur in die Höhe treiben konnte.
-„Keine Sorge: Spätestens wenn wir in den See springen, fühlst du dich erholt und hast die Hitze hinter dir gelassen.“
-„Und wenn wir zurück sind, ist sie wieder da.“
-„Dann schlaf‘ heute bei mir. Morgen hältst du die Temperaturen dann wieder besser aus. Wieso buchst du dich nicht endlich in ein Shared Office ein?“
Fred war nie um eine Antwort oder Lösung verlegen. Er war sozusagen der wandelnde Trouble Shooter. Dass aber ein Shared Office nicht nur Geld kostete, sondern man da ja auch hinfahren musste in überhitzten Öffis, das schien er nicht bedacht zu haben. Dass solche Unternehmen heute auch möglichst knapp kalkulieren mussten und daher die Klimaanlage meistens auch über 25 Grad anzeigte, schien ihn ebenfalls nicht weiter zu tangieren. Zum Diskutieren war sie aber zu müde, und außerdem war sie ihm dafür dankbar, dass er sie aus der Stadt brachte, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Sie kannte Fred schon lange. Um genau zu sein, seit ihrer Schulzeit. Er war erst in der siebten Klasse Gymnasium zu ihnen gestoßen, weil seine Familie aufs Land gezogen war (sein Vater hatte mit Computern ein Vermögen gemacht und war in Frühpension gegangen). Magda, also sie, nahm ihn anfangs unter ihre Fittiche, denn die meisten hatten ihre Clique und waren nicht interessiert an einen City Bobo, der zu teure Sneakers und Uhren trug (wer trug eigentlich noch Uhren?). Und Magda, mit ihrem Helferleinsyndrom, nahm ihn mit in die Pause, stellte ihm ihre Freundinnen vor, versuchte ihn sogar zu verkuppeln. Doch Fred, der sich seiner Außenseiterrolle und des geringen Anklangs nur zu bewusst war, schien ihr so dankbar zu sein für ihre Aufnahme, dass er immer nur sie verliebt ansah. Aber sie stand nicht zur Verfügung. Damals war sie einfach zu populär, um nicht längst einen Lover-Boy zu haben. Schlank, fast zu schlank, mit langem blonden, lockigem Haar konnte sie wählen unter den Sportlern, Beaus und Nerds der Stadt. Was immer ihr in den Sinn kam, sie musste nur mit den Fingern schnippen, ein bisschen lächeln und schon gab es einen Neuen. Natürlich erregte das Neid, doch das war ihr egal. Fred nahm sie auch oft zu ihren Dates mit, was manchen Galan ganz schön nervte, ihn aber damit auch anspornte, noch charmanter zu sein. Für Magda war das also eine Win-Win-Geschichte mit Fred. Sie konnte sich doppelt gut fühlen: wegen ihrer Empathie und wegen der vermehrten Aufmerksamkeit, die sie genoss.
Wieder gesehen hatten sie sich zufällig, über dreißig Jahre später. Magda war längst geschieden, lebte ohne Kinder alleine und war auch nicht mehr ein Männerschwarm. Die Jahre sah man ihr an, auch wenn sie schlank geblieben war, doch mit über 50 schienen sich die Knochen irgendwie auszudehnen, was sie kleiner und fülliger erscheinen ließ. Fred hingegen wirkte zehn Jahre jünger als sie, war durchtrainiert und braun gebrannt. Er hatte nie geheiratet, aber zwei Kinder mit zwei verschiedenen Frauen gezeugt. Von Zeit zu Zeit besuchten diese ihn in seinem noblen Life Style. Er war Banker geworden, einer der besten Fondsmanager in der Stadt. Er wäre also ein optimaler Fang gewesen für eine Russin oder Ukrainerin oder eigentlich für jede Frau bis fünfundzwanzig. Stattdessen schien seine Verliebtheit für Magda all diese Jahre überlebt zu haben. Als sie sich in der Stadt über den Weg gelaufen waren, hatte sie ihn sofort erkannt, und als sie nach ihm gerufen hatte und sie in seinen Augen ein Aufleuchten sah, wusste sie, wenn sie wollte, konnte sie ihn noch immer haben. Und so kam es, dass sie anfingen sich zu sehen. Am liebsten mochte sie, dass er ihr so vertraut war, dass sie eine gemeinsame Vergangenheit hatten. Dass sie sich mit ihm wieder begehrt fühlen konnte. Und er, er wollte alles. Dass sie bei ihm einzog, dass sie heirateten. Doch je mehr er drängte, desto klarer wurde es für sie, dass sie das nicht wollte. So wie sie damals nicht in ihn verliebt gewesen war, so war sie es noch immer nicht, auch wenn sie mit ihm ins Bett ging und der Sex ganz ok war. Sie war sich natürlich bewusst, dass er irgendwann gehen würde, aber bis dahin war er aus Mangel an Alternativen der beste Begleiter, den man sich wünschen konnte. Und auch wenn sie finanziell immer unabhängig gewesen war, genoss sie die luxuriösen Abendessen, die kleinen Wochenend-Escapes und die jährlichen Reisen in die Karibik. Er war großzügig, zahlte immer für sie, diskret, ohne sie bloßzustellen. Wenn er sie besuchte, brachte er jedes Mal etwas mit, ein Armband, ein Bild, eine Lampe. Wäre sie jünger gewesen, hätte sie sich beinahe wie ein Toy-Girl gefühlt.
Fred parkte am Rande des Stellplatzes ein. Sie nahmen die Badesachen aus dem Kofferraum und staksten zum See. Die Sonne war schon hinter den Hügeln verschwunden, und es lag ein blauer Schimmer mit rosa Sprenkeln über den Wäldern. Hier und da sah man die Köpfe von Schwimmern in der Mitte des Sees, andere befanden sich gerade im Aufbruch, und andere saßen bereits auf der Terrasse des nahe gelegenen Restaurants. Sie schlenderten entlang des Ufers bis zu einem Steg, zogen ihre Kleider aus und tauchten ins Wasser ein. Es war wie Fred es vorhergesagt hatte: Die in ihrem Körper gespeicherte Hitze fiel augenblicklich von ihr ab und ließ sie durchatmen. Plaudernd schwammen sie bis zu einer Badeinsel, drehten ab nach rechts, ließen sich auf dem Rücken treiben, genossen die Aquarellfarben des Himmels, den leicht modrigen Geruch des Wassers. Ihre Gedanken synchronisierten sich, und sie kommunizierten ohne Worte. Es war ein friedlicher Moment, den sie mit allen Sinnen auskostete. Er versetzte sie zurück in ihre Schulzeit, an einen Tag in der letzten Schulwoche. Ihre damalige große Liebe, den, den sie später heiraten sollte, hatte sie eingeladen zum See zu kommen. Er lag etwas über der Stadt, in der sie damals lebten. Man konnte per Bus dorthin oder mit dem Moped, Auto oder dem Fahrrad. Damals besaß sie nur ein Rad, und der Aufstieg in der Mittagshitze war quälend. Meist musste sie absteigen und das Rad schieben, denn sie geriet ständig außer Atem. Aber Aufgeben war keine Option, zu sehr wollte sie zu Mike, für den sie bis ans Ende der Welt gefahren wäre. Dieser eine Tag blieb für sie der Wendepunkt in ihrer Beziehung und der Beginn ihres gemeinsamen Lebens. Mit knallrotem Kopf und verschwitzt ging sie damals zuerst schwimmen, bevor sie sich umsah, wo er mit seinen Kumpels lag. Als sie ihn gespottet hatte, beschloss sie sich zuerst zu Bekannten zu gesellen und von dort aus den Kontakt aufzunehmen. Sie wollte ihn nicht bedrängen, und die Strategie ging auf. Sobald er sie gesehen hatte, fing er an sich bemerkbar zu machen, und kurze Zeit später, war er zu ihnen herübergekommen. Dann lud er sie ein, mit ihm Drinks zu holen. Sie hatte sich nicht nur näher zum Himmel gefühlt, sie war das erste Mal so richtig im Himmel. Sein Duft, seine Haut, seine Muskeln, sein Lächeln, einfach alles ließ ihr Blut durch ihren Körper rasen. Wie anders war es mit ihm im Vergleich zu all den anderen. Einfach neben ihm zu gehen, zu stehen war unwiderstehlich – und noch mehr hinter ihm auf seinem Moped zu sitzen, mit dem er sie später zurück in die Stadt fuhr – ihr linker Arm umschlang seinen Bauch, ihre rechte Hand hielt das Fahrrad, das so (etwas illegal) neben ihnen mitrollte.
Sie schwammen zum Ufer, schnappten ihre großen Badetücher, stiegen hoch zu den Duschen und zogen sich dann wieder an. Inzwischen hatte die Dämmerung voll eingesetzt, und so gingen sie eilig zum Restaurant, in dem sie noch schnell etwas essen wollten, bevor sie zurückfahren würden in die Hitzehölle. Sie hatten Glück. Es war gerade ein Tisch frei geworden, denn ansonsten war alles besetzt. Auch das Essen kam zügig. Sie hatten Pasta bestellt und Salat, dazu Bier wegen der Elektrolyte.
- „Erinnerst du dich noch an den See damals?“ Magda schreckte hoch. Warum fragte er das plötzlich? Er konnte unmöglich ihre Gedanken lesen.
- „Ja, natürlich. Warum fragst du?“
- „Ich musste nur heute daran denken. Weißt du eigentlich, dass ich an dem Nachmittag dort war, als du dort Mike getroffen hast?“
- „Welchen Nachmittag meinst du?“
- „Also du mit ihm auf dem Moped zurück in die Stadt bist.“
- „Aber wie..?“
- „Ich war nicht weit hinter euch. Aber ihr habt mich nicht gesehen, ihr wart zu sehr mit euch selbst beschäftigt.“
- „Warum hast du nichts gesagt?“
- „Ihr wart damals auf einem eigenen Planeten.“
- „Hm. Wie kommst du jetzt darauf?“
- „Dieser Platz hier, der See, er erinnert mich einfach daran. Die Stimmung auch. Dich nicht?“
Magda fühlte sich ertappt. Sie konnte nicht zugeben, dass sie genau dasselbe gedacht hatte. Sie wusste, dass Fred wusste, dass er noch nicht einmal jemals ein Ersatz werden würde, trotz allen Geldes, trotz der Tatsache, dass er wirklich gut aussah. Also sagte sie: „Ach, das ist alles schon so lange her.“
- „Denkst du noch oft an ihn?“
- „Nun, ich war mit ihm verheiratet.“
- „Aber das ist jetzt auch schon lange her.“
- „Ja.“
- „Du hast mir nie erzählt, warum ihr geschieden seid, wenn er doch deine große Liebe war.“
- „Vielleicht, weil die Liebe allein nicht reicht?“
- „Ist das so?“
- „Vielleicht weil die große Liebe nur eine Erfindung der Literatur ist?“
- „Was müsste dann der Mann haben, bei dem du bleibst?“
- „Ich weiß nicht.“
Fred sah sie an. War das ein ironisches Lächeln? Warum musste er diesen angenehmen Tagesausklang mit so schweren Fragen zunichte machen? Sie beschloss daher das Thema zu wechseln.
- „Sag, wollen wir am Wochenende zum Segeln? Es soll guten Wind geben:“
- „Ja, darauf hätte ich auch Lust.“
- „Und danach lassen wir uns im Spa verwöhnen - und danach verwöhnen wir uns.“
Aus dem schiefen Lächeln war ein Strahlen geworden, und die Geister nahmen Reißaus. Zumindest für dieses Mal.