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Immer noch Alexander
Ich bin Alexander und abends nach der Arbeit fahre ich mit dem Bus in die Stadt, um für das Wochenende zu trainieren.
Ich bleibe am mittleren Eingang stehen und greife mit der Rechten nach der Haltestange über mir. Der Ärmel meines Shirts rutscht herunter und ich spanne leicht den Bizeps an. Dann nehme ich mit der Linken die Persol von der Nase und mache mir ein Bild: Rechts sitzt eine Rothaarige in einem Zweier. Aber die ist mit der breiten Nase selbst mit viel gutem Willen nicht annähernd Hot Babe Material. Ich drehe den Kopf und bleibe beim Vierer vor mir hängen. Da sitzt ein älteres Ehepaar. Die Frau hat ihre fleckige Hand auf das Knie des Mannes gelegt, er schaut an ihr vorbei aus dem Fenster. Ihnen gegenüber lehnt ein vielleicht 30-Jähriger mit dem Kopf an der Scheibe. Er trägt einen Filzhut mit Nadelstreifen, dessen Krempe am Glas abgeknickt ist. Er hat so einen dünnen Bart, der fast nur am Hals wuchert und liest in einem Buch. Auf dem Cover ist das Gesicht von Arnold Schwarzenegger abgebildet:
Total Recall – Die totale Erinnerung.
Auch solche Leben sind möglich, denke ich und kurz schießt mir Säure die Speiseröhre herauf.
Und dann entdecke ich mein Target. Auf der Rückbank. Sie trägt einen beigen Trenchcoat. Doppelreihig. Könnte Givenchy sein. Dazu Blue Jeans. Used Look. Weiße Common Projects Sneaker. Sie hat den Trenchcoat nicht zugeknöpft; nur gebunden. Der Gürtel macht vielleicht eine Taille und drückt die Brüste nach oben – olala. Das ist wirklich hervorragend mit diesem Gürtel. Ich lasse die Haltestange los und gehe ein paar Schritte den Gang hinunter, um ihr Gesicht zu checken. Ich komme ins Wanken, weil der Bus eine Kurve fährt, aber kann mich fangen, bevor es peinlich wird. Ich stelle mich also relativ breitbeinig in den Gang. Mache mich groß. Zeige Präsenz. Magnetic Eyes. Aber ich bin noch nicht auf ihrem Radar: Sie schaut weiter aus dem Fenster. Augen tannengrün. Hohe Wangenknochen, Schmollmund. Sie hat so eine „helle“ Grundschönheit, die ich schon oft gesehen habe und auf diese Grundschönheit hat man noch das Quäntchen extra gelegt, das sie zu etwas Besonderem macht.
Kurz: zu einem High Class Hot Babe.
Ich nehme den Handspiegel aus der Bum Bag von C.P. Company und prüfe, ob das Puder auf der Stirn noch deckt. Ich habe da so einen lästigen Pigment-Fleck. Den habe ich schon immer. Kommt nur in so alternativen Läden gut an. Eine hat mal gesagt, das mache mich interessant.
Wie ich da so nachdenke und die Stirn begutachte, dröhnt ein Lied durch den Bus: „Oh no, oh no, oh no no no no.“
Im Vierer vor der HCHB sitzen junge Männer. Solche mit Seiten auf null und gefälschten Bauchtaschen von Gucci quer über den drahtigen Körpern. Der eine zeigt den anderen etwas auf dem Smartphone. Die Jungs lachen und schlagen mit den flachen Händen auf die Oberschenkel.
Die werden mir dazwischenfunken.
Kurz: Ein Set, das viel abverlangt. Ein Approach unter Social Pressure.
Und jetzt passiert es. Mein Inner Game sackt ab. Mein Inner Game, das ich die vergangenen Monate mühsam auf Level gebracht habe. Ich bekomme die Krise, echt: Die Haut an den Achseln klebt vom Schweiß. Die Kopfhaut juckt.
Ich puste dreimal kräftig in die offene Faust, achte auf die Luft, die zwischen den Fingern hindurchströmt und schließe die Augen. Ich atme jetzt mit dem Bauch und nicht mit der Brust und stelle mir vor, wie ein Meteorit im Weltall an Planeten vorbeirast und einer davon – ein verhältnismäßig kleiner - ist die Erde. Und ich weiß, dass er noch unendlich lange unterwegs sein wird. Und wenn er am Ende des Weltalls angekommen ist, ist er am Anfang. Das Weltall könnte durchaus eine Kugel sein. Das hat mich schon fasziniert, als ich noch in der Schule war. Das hat mir geholfen.
Ich öffne die Augen und betrachte die Brüste der HCHB. Und ich kann mir wieder ihre Funktion bewusst machen: einzig und allein, ein Kind zu säugen. Ganz egal wie „erhaben“ schön. Da ist nichts Erhabenes mehr, wenn ich einsahne.
Und als ich zu den Jungs schaue, kann ich mir auch wieder bewusst machen, dass es völlig egal ist, ob sie einen Spruch drücken. Nichts zählt. Wir sind Tiere. Ich bin Alpha. Ich bin Alexander.
Ich setze mein Alphalächeln auf und approache.
Ich setze mich neben die HCHB und lasse einen Platz zwischen uns frei. Not needy. Dann lege ich das rechte Bein auf den linken Oberschenkel und präsentiere meine Tassel Loafer von Angelo Baque. Ein bisschen peacocken. Aber sie springt nicht an. Schaut immer noch aus dem Fenster. Also nehme ich den Fuß wieder runter und streife mit dem Zeigefinger fast unmerklich über ihre Schulter. Sie zuckt, dreht sich zu mir. Alphalächeln.
„Keine Angst“, sagen meine Augen.
„Steht dir wahnsinnig gut“, sage ich.
Positiver Ausschlag. Sie hebt verwundert die Augenbrauen. „Schwarz würde dir noch besser stehen.“ Negativer Ausschlag. Ich grinse. Balanced. Sie lässt die Schultern sinken, bläst Luft durch die Zähne.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich die Jungs umdrehen. Einer hält die Faust vor die Lippen und sagt: „Sheeesh.“
Die anderen lachen. Ich spüre, wie mir hinten ein Schweißtropfen den Hals herabläuft. Ich lege den Kopf in den Nacken. Er saugt sich in den Shirt-Kragen.
„Kennen wir uns?“, sagt die HCHB.
Lamer Bitchshield in jedem Fall. Aber sie sagt das in so einem komischen Ton, dass es durchgeht. Ich schürze die Lippen und schüttele betont langsam den Kopf.
„Denk mal an die Zeit, die wir verpasst haben.“ Ich grinse. Sie sagt nichts, wendet sich ab. Einer der Jungs richtet ein Smartphone auf mich.
„Ich kann dir die Stadt zeigen. Ich kenne Salzburg gut. Ich bin quasi Salzburg. Mehr musst du nicht erlebt haben.“ Ich greife mir mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenspitze, lege den Kopf schräg und mein Alphalachen auf.
„Danke“, sagt sie. Ihre Mimik zeigt nicht den geringsten Indicator of Interest. Draußen zieht das Hotel Sacher vorbei. Langsam bekomme ich Schiss, das Set zu burnen. Ich lasse mich in den Sitz zurückfallen und swipe ein bisschen über die Webseite der „Zeit“, bevor ich auf schlechte Gedanken komme. Ich rede mir ein, dass ich die HCHB freeze. Ignoranz als Strafe für Desinteresse. Konditionierung. Ich lüge mich an.
Etwas trifft mich am Augenlid. Eine Kugel aus Kaugummi-Papier fällt in meinen Schoß. Die Jungs lachen. Sie filmen immer noch. Ich fange an zu schwitzen. Ich meine, richtig zu schwitzen. Der Schweiß beißt in den Achselhöhlen, juckt in den Haaren und rinnt in die Augenbrauen. Ich wische mit dem Handrücken über die Stirn. Kein gutes Signalling, klar. Aber besser als tränende Augen. Die Hand putze ich am Hosenbein ab und hinterlasse einen fetten Fleck von dem blöden Puder. Wieder versuche ich, mit dem Bauch und nicht mit der Brust zu atmen. Aber es gelingt mir nicht. Angriff.
Ich sage zu ihr: „Ich meine …“
Sie streckt mir die Handfläche entgegen, dreht sich zu mir: „Setzen Sie sich bitte woanders …“ Sie kneift die Augen zusammen und starrt auf meine Stirn. „Alexander? Aus der 10c." Ein ungläubiges, kurzes Lachen.
Ich stehe auf, setze einen Fuß in den Gang. Den anderen. Der Bus bremst. Ich falle. Kopf gegen den Schoß eines der Typen. Dann auf den Boden. Ihr Lachen überlagert sich, wird zu Gebrüll. Tiere. Sie stampfen mit den Solen ihrer Air Force One Sneaker auf den Boden. Ein scharfer Schmerz hängt unter meiner Schädeldecke. Kathrin steht über mir. Sie hat so ein mildes Lächeln aufgesetzt und streckt mir die Hand entgegen. Und in dem Moment sage ich irgendwie „Fotze“.
Ich bin Alexander. Immer noch.