Was ist neu

Immer

Seniors
Beitritt
01.09.2005
Beiträge
1.127
Zuletzt bearbeitet:
Anmerkungen zum Text

Mein shot at Flash Fiction. Gab’s da nicht mal ein eigenes Tag für?

Immer

Eylül legt die beiden Luftpolsterumschläge einzeln auf die Waage und zieht sie danach durch den Formatmesser. Sie passen wie immer und sie sind nicht schwer, auch wie immer.

„Die gehen für eins-sechzig jeweils oder sollen die als Einschreiben?“ Seine Antwort kennt sie, sie ist immer gleich.

„Nee, das passt, die können ganz normal.“

Einmal, nachdem er raus war, hat sie durch den Umschlag ertastet, was er da verschickt jede Woche. Müssen alte CDs oder DVDs sein, bei Ebay verkauft bestimmt.

Er zahlt drei-zwanzig mit Karte und sie wartet auf Teil zwei des Rituals, drei Lose fürs Bingo, immer sonntags im Fernsehen mit dem Bingo-Bären. Kein Spiel 77 und keine Super 6, auch das fragt sie ihn immer, und er sagt dann: Nur Bingo. Drei Lose sind ungefähr ein Zehner, bisschen mehr, und gewonnen hat er noch nie was, jedenfalls nicht, wenn sie im Laden war. Drei Jahre geht das jetzt bestimmt schon so, fast vierhundert Euro hat er da verbrannt.

Einmal hat sie ihn zu lange angesehen und er hat gesagt: „Mann, die sind immer nicht für mich. Ich bin keine zwanzig mehr, aber Bingo, so weit ist es jetzt auch noch nicht.“ Da haben sie beide gelacht.

Beim ersten Mal hat er ihr die Lose auf den Posttresen gelegt.
„Nee, zusammen geht nicht“, hat sie da erklärt und auf die andere Kasse zwei Meter weiter gezeigt. „Hier darf nur Post, Zigaretten und Lotto und so müssen wir da.“

Beim nächsten Mal hat er gleich alles richtig gemacht und danach eigentlich auch, immer. Jetzt ist er seine Umschläge los und geht einfach.

„Bingo!“, ruft Eylül. Eine ältere Frau, die bei den Zeitschriften steht, sieht kurz zu ihr.
Er dreht sich um. „Was?“
„Sorry.“ Sie räuspert sich. „Willst du keine Lose?“
Er sieht sie nicht an, als er den Kopf schüttelt. „Nee, alles gut, brauche ich nicht mehr“, sagt er. „Bis nächstes Mal.“

Sie blickt ihm länger nach als sonst, bevor sie die Umschläge zu den anderen legt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo dear Proof,

zu deiner Frage im Infofeld: Flash Fiction ist kein Tag, sondern ne eigene Rubrik, hier.

Ich mag die Idee, vom Leben einer Person zu hören - beschränkt auf ihr regelmäßiges Auftauchen im Kiosk. Da findet alles im Off statt, und das finde ich - bis auf eine Ausnahme - auch super gelöst. Das ist ja im Grunde Textbook show, don't tell.

Mein einziger Einwand, sozusagen:

Er zahlt drei-zwanzig mit Karte und sie wartet auf Teil zwei des Rituals, drei Lose fürs Bingo, immer sonntags im Fernsehen mit dem Bingo-Bären. Furchtbarer Typ, der Bingo-Bär, findet Eylül, mit Doppelkinn vom Bier, so ein richtiger Schützenfest-Alman.
Diese Passage fällt imA völlig aus dem Text, das ist plötzlich point of view, dann aber verschweigt der Erzähler ja später (was ich sehr, sehr gut finde), was der Grund für sein Lose-loses Gehen ist. Das passt nicht und diese Details sind mir auch zu menschelnd, zudem tun sie nix zur Sache (in meiner Leseweise, so, wie ich den Plot sehe).

Kein Spiel 77 und keine Super 6, auch das fragt sie ihn immer, und er sagt dann: Nur Bingo. Drei Lose sind ungefähr ein Zehner, bisschen mehr, und gewonnen hat er noch nie was, jedenfalls nicht, wenn sie im Laden war. Drei Jahre geht das jetzt bestimmt schon so, fast vierhundert Euro hat er da verbrannt.
Auf den ersten Satz könnte ich gut verzichten. Den letzten braucht es ganz unbedingt.
Verzichten, weil es in dem sehr knapp angelegten Text zu viele Micro-Details sind, ich denke, das ist eine superfeine Balance und die kippt hier für mich.

Den letzten braucht es mAn, weil das die Verbindung zum Vater zeigt, anstelle der Emotionen, über die er nicht spricht. Das finde ich grandios gelöst. Es zeigt auch das absurde Moment der Trauer. Das Ende ist wunderschön, sehr hart, realistisch.

Bissl gefrickelt vielleicht, was das Tempo angeht, ansonsten gefällt mir das wahnsinnig gut. Auch, weil es unsentimental ist.

Kleine Sache: Ich denke, du hast zwei Themen: Trauer und dann diese angedeutete Verbindung zwischen Verkäuferin und Prota - da wünschte ich mir etwas mehr Eindeutigkeit. Soll es heißen (so sehe ich es, aber dafür gibt es keine eindeutigen Marker), dass sie an ihm bzw. beide aneinander interessiert ist / sind? -> Er kauft extra verschiedene Sachen, weil dann die Abrechnung länger dauert - so, wie Rentner zur Rush-Hour einkaufen gehen, weil sie unter Leuten sind? Merkt er das selbst gar nicht oder ist das Los mehr als nur die Vaterverbindung, ist das auch eine bewusste Verbindung zu ihr, ein Annäherungsversuch? Das würde ich insgesamt einen Hauch ausformuliert besser finden. Auch als Gegensatz, und dann der Grund, aus dem es am Ende doch nichts wird - quasi ein doppeltes Negativ.

Ganz liebe Grüße, dir ein schönes Wochenende,
Katla

 

Sie wollte ihn längst mal gefragt haben, was er da immer verschickt, aber eigentlich kann sie es sich denken.

Ist ein guter Text.

Kannst aber noch eindampfen, wie ich finde. Wenn sie sich schon gefragt hat, was drin ist, sollte sie sich nicht auch schon direkt die Antwort geben. Wäre vielleicht auch stärker, wenn sie es erfühlt und du das so stehen lässt, das bedeutet ja auch, dass sie sich für ihn irgendwie interessiert.

Eylül legt sie einzeln auf die Waage und zieht sie danach durch den Formatmesser.
Auch hier. Eylül legt die Luftpolsterumschläge ... ist aktiver, denke ich. Und die Person, um die es geht, führt sich nachher selbst mit dem Dialog ein.

Furchtbarer Typ, der Bingo-Bär, findet Eylül, mit Doppelkinn vom Bier, so ein richtiger Schützenfest-Alman.
Ich find, das braucht es nicht. Das ist so ein Schwank, da finde ich den Text einfach zu melancholisch grundiert für. Mich reißt so was immer raus.

Sie mag, wie er lacht.
Würde ich auch rausnehmen. Die Sympathie wird doch hier viel subtiler dargestellt, da ist mir das fast zu deutlich.
Außerdem geht es sie ja nichts an.
Streichkandidat. Ist ja klar. Nur dadurch, dass sie es trotzdem macht, wird ja etwas signalisiert. Dadurch, dass du es erwähnst, lenkst du da den Fokus drauf: eigentlich macht man das nicht! Sie macht es aber trotzdem. Wirkung wäre ohne die Erwähnung stärker, denke ich.

Post und Lose und Zigaretten, das muss alles separat abgerechnet werden, darum gibt es zwei Kassen.
Fände ich auch besser, wenn du es in den Dialog verpackst, wenn sie es zu ihm sagt, mehr Interaktion in diesem sparsamen Text.

Aber jetzt geht er einfach an den Losen vorbei, als hätte er vergessen, wo sie stehen.
Vielleicht auch raus. Der Leser transferiert dann, aha, er geht diesmal an den Losen vorbei.

Sie wartet darauf, dass er umdreht und vielleicht sein ganz nettes Lachen lacht, weil er so durcheinander ist und jetzt fast die Lose vergessen hätte.
Denkt sie das so? Ich meine, da bist du ja im Charakter. Ich glaube, man wäre doch erstmal irgendwie perplex, oder? So: Moment mal? Das ist auch ein Moment, den du irgendwie noch besser nutzen kannst: das sie erstmal so drumherum schleichen.
Es ist ihr unangenehm, wie laut sie war, als würde es brennen oder sowas.
Auch hier vielleicht eher eine Reaktion zeigen.
Stattdessen schlurft er einfach Richtung Ausgang, er schlurft wirklich, er geht viel langsamer als sonst.
Hier wieder dieser gesetzte Fokus: du nimmst dir dadurch, finde ich, die Wirkung vom Ende. Ich weiß dann, etwas passiert, er geht viel langsamer. Ist, glaube ich, ohne stärker.
Sie blickt ihm länger nach als sonst, bevor sie die Umschläge zu den anderen legt.
Life goes on. Ja, hat fast was von Carver, der finale Satz, super.

Ich habe direkt einen schönen Kurzfilm vor Augen, bißchen Atmo wie in: Smoke.
Sehr gerne gelesen.

Gruss, Jimmy

 

Moin,

@AWM:

Ich war da bisschen verwirrt, weil du es aus zwei Perspektiven erzählst und mir das auf die Kürze zu viel war.
Perspektive soll natürlich Eylül sein. Wo kommst du in den von dir gegebenen Beispielen durcheinander? Was ist Beobachtung oder Innenleben des namenlosen Loskäufers?

Mir wurde auch nicht klar, warum diese sich anbahnende Beziehung dann "zu Brüche" geht und warum er keine Lose mehr kauft.
Da ist der Punkt an dir vorbeigegangen. Das hier ist nicht die Geschichte einer deutsch-türkischen Liebesbeziehung im Werden. Ist wohl das Risiko, wenn man so viel offen lässt.

Vielen Dank für deine Einrücke!


@Katla:

Das Ende ist wunderschön, sehr hart, realistisch.
Wow, vielen Dank!

das ist plötzlich point of view,
Du meinst Eylüls Bewertung des Bingo-Bären? Die ist nachträglich hinzugetan und ich hatte tatsächlich noch vor dem Posten überlegt, sie wieder wegzunehmen. Dachte, das wäre vllt zu albern. Und irgendwie fand ich’s ohne kürzer, knapper, besser. Ich wollte glaube ich genau das Menschelnde, jedenfalls in dem Moment.

Auch, weil es unsentimental ist.
Danke, das war mir wichtig!

und dann diese angedeutete Verbindung zwischen Verkäuferin und Prota
Das mit dem Lachen, das ihr gefällt, scheint irgendwie eine falsche Fährte zu legen.

Er kauft extra verschiedene Sachen, weil dann die Abrechnung länger dauert
Er muss Post wegbringen und Lose kaufen. Er kann ja gar nicht anders, als sich auf die längere Abrechnung einzulassen, weil Eylül nicht anders kann, als an zwei Kassen abzurechnen.

Merkt er das selbst gar nicht oder ist das Los mehr als nur die Vaterverbindung, ist das auch eine bewusste Verbindung zu ihr, ein Annäherungsversuch?
Irgendwie spannend. Mir war echt nicht klar, dass man das so lesen kann. Nein, das stimmt nicht. Sagen wir mal: Mir war nicht klar, dass da so ein Gewicht bekommen kann. Dass das sogar der eine und einzige Punkt ist für einen Leser. Bewusst habe ich nur geschrieben sie mag, wie er lacht.

Auch als Gegensatz, und dann der Grund, aus dem es am Ende doch nichts wird
Wenn ich mich mal auf die Lesart einlasse: Post muss er ja immer noch wegbringen.

Vielen Dank für deine Kritik!


@jimmysalaryman:

Wäre vielleicht auch stärker, wenn sie es erfühlt und du das so stehen lässt,
Hab’s mal geändert.

Eylül legt die Luftpolsterumschläge ...
Die Umschläge nochmal benennen statt des Pronomens oder wie meinst du?

Und die Person, um die es geht, führt sich nachher selbst mit dem Dialog ein.
Ich verstehe (glaube ich), was du meinst, aber warum findest du das problematisch?

Ich find, das braucht es nicht.
Ja, siehe auch oben, ich streich den mal.

Die Sympathie wird doch hier viel subtiler dargestellt, da ist mir das fast zu deutlich.
Vielleicht gibt es dann auch weniger Missverständnisse.

Der Leser transferiert dann, aha, er geht diesmal an den Losen vorbei.
Den muss ich mal sacken lassen. Wenn ich den einfach rausstreiche, habe ich schon das Gefühl, da fehle was. (Hab’s dann später doch mal probiert.)

du nimmst dir dadurch, finde ich, die Wirkung vom Ende.
Dachte ich tatsächlich auch schon, dass ich hier irgendwie die „Pointe“ vorwegnehme, jedenfalls für aufmerksame Leser.

Ja, hat fast was von Carver, der finale Satz, super.
Danke!

Ich habe direkt einen schönen Kurzfilm vor Augen, bißchen Atmo wie in: Smoke.
Jupp, der taugt. Habe vor einer Woche Jim Jarmuschs Coffee and Cigarettes gerevisited und Johanna von Renate Welsh gelesen. Hat sich wohl ausgewirkt, irgendwie hatte ich plötzlich Bock auf was Ruhiges.

Vielen Dank für deine Tipps!


@anschi:

„Flash fiction"? Nö. Nur eine Weihnachtsgeschichte.
Danke!

 
Zuletzt bearbeitet:

Die Umschläge nochmal benennen statt des Pronomens oder wie meinst du?

Moin, ich nochmals.

Nee, mit ihr beginnen. Du beginnst mit "Er", und vielleicht haben deswegen einige Schwierigkeiten mit der Perspektive, weil man annehmen könnte, der personale Erzähler ist auf diesen Er fokussiert.
Du startest dann den Text, wenn du es ändert, mit einer aktiven Handlung von ihr (sie nimmt die verpackten Umschläge entgegen), mit der Protagonistin, und der zweite "Darsteller" führt sich selbst durch einen Dialog ein, das ist eine Interaktion, die direkt etwas zeigt. Ich jedenfalls finde das eleganter als "Dies ist Onkel Wanja wie du weißt", ist jetzt hier nicht so krass, klar, aber you get the point.

„Mann, die sind immer nicht für mich, ich hole die für meinen Vater. Ich bin keine zwanzig mehr, aber Bingo, so weit ist es jetzt auch noch nicht.“ Da haben sie beide gelacht.

Um ehrlich zu sein, ich würde das auch noch eindampfen. Oder es vager machen. Im Grunde ist es so: Wenn er plötzlich keine Bingolose mehr kauft, muss das einen Grund dafür geben. Welchen genau? Das liegt nahe, das mit dem Vater oder einem anderen Elternteil, es würde es stärker machen, denke ich, wenn man es nicht direkt benennt. Das wäre aber auch so die kärgste Lösung, ist sicher Geschmackssache.

Gruss, Jimmy

 

@jimmysalaryman :

Danke für den Tipp mit dem direkten Einstieg.

Das liegt nahe, das mit dem Vater oder einem anderen Elternteil, es würde es stärker machen, denke ich, wenn man es nicht direkt benennt.
Hier stehe ich auf dem Schlauch. Dass der Vater (wahrscheinlich) tot ist, wird doch auch nicht gesagt. Oder meinst du tatsächlich nur sagen „Ich kaufe die nicht für mich“?


@anschi:

ihre Waage, sogar noch besser weil weniger Arbeit!

Es ist Deine Geschichte und Deine Sicht, nicht die von uns anderen allen.
Ich hab jetzt nicht das Gefühl, dass ich mich über Gebühr hab bequatschen lassen. Ich habe zum Beispiel den Schützenfest-Alman rausgenommen, weil ich wie erwähnt schon beim Schreiben so ein merkwürdiges Gefühl hatte und dann bestätigt das ja manchmal ein Leser. Oder wo bin ich deines Erachtens zu schnell eingeknickt?

PS: Hab dann doch Jimmys genommen, ihre Waage klang irgendwie falsch, gehört ja auch der Post.

 

Oder meinst du tatsächlich nur sagen „Ich kaufe die nicht für mich“?
Ganz genau. Einfach alles verschweigen, was auf den eigentlichen Empfänger der Lose hindeutet. Es muss ja einen Grund geben, warum er sie dann nicht mehr kauft. Aber das fragt sich dann Eylül stellvertretend für den Leser. Weißt du, wie ich das meine? Der Leser fragt sich dann ja: Warum kauft er denn diesmal keine Lose? Ah, Moment, wahrscheinlich hat er sie nie für sich selbst gekauft. Und er sagt ja auch: Brauche ich nicht mehr. Also für wen hat er sie vorher gebraucht? Das setzt ja etwas in Gang, also bei mir jedenfalls, natürlich setzt das vielleicht auch voraus, dass man etwas genauer lesen muss/sollte, aber ich denke ja, Texte die sich nicht sofort erschließen, sondern eine gewisse Transferleistung voraussetzen, sind irgendwie die besseren, weil sie auf mehreren Ebenen funktionieren, auch wenn ich mich natürlich irren kann: sagen wir so, ich lese sie lieber, das ist sicher einfach auch eine Geschmacksfrage.

Gruss, Jimmy

 

@jimmysalaryman :

Einfach alles verschweigen, was auf den eigentlichen Empfänger der Lose hindeutet.
Hui, ich verstehe den Effekt, den das produziert und auf den du hinauswillst, aber das‘ echt gewagt, da muss ich erstmal drüber schlafen.

Vielen Dank für mehrfache Rückmeldung!

 

@AWM:

Ich meine, dass sie ihn "ganz gut" findet, war zwar in der Ursprungsversion deutlicher, aber man liest das auch jetzt noch heraus.
Finde ich echt Hammer. Jetzt noch lernen, das mit voller Absicht so zu machen und ich hab’s geschafft.

das zweite Lesen hat sich sehr gelohnt.
Vielen Dank und Grüße!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom