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In der Zeitung
Am Morgen las man in der Zeitung folgende Schlagzeile: „Rekordsommer in Deutschland – Ist Eisbären-Retten noch sexy!“ Darunter ein Foto von einem Eisbärenbaby, das mit dem abgetrennten Kopf einer Robbe spielt. Christian wusste nicht, was ihn mehr schockierte: das geschmacklose Bild oder die Tatsache, dass der Redakteur offensichtlich die Funktion von Satzzeichen nicht ganz begriffen hatte. Wenn er länger darüber nachdachte, hätte er eigentlich mit beidem rechnen müssen. Die Medien waren nervige kleine Biester, die sich nur in der Masse trauten, etwas gegen die Großen zu schreiben. Auf den ersten Blick Provokation, stellten sich die meisten Artikel am Ende als harmlos, beziehungsweise als versteckte Heuchelei heraus. Warum las er diesen Scheiß überhaupt noch?
Eine hübsche junge Frau, die er zu gerne nach ihrem Namen gefragt hätte, kam an seinen Tisch und brachte den Kaffee. Den heutigen Tag wollte er ausnahmsweise ruhig und entspannt angehen lassen, sein Terminkalender erlaubte es. Nach einem Schluck aus der angewärmten Tasse stand er auf und brachte die Zeitung dorthin, wo sie hingehörte. Er wollte eben zu seinem Platz zurückkehren, als es plötzlich einen Knall gab und die Atmosphäre im Raum hochkochte, dass er sich beinahe verbrannte. Er ahnte, was als nächstes passieren würde: Schreie, Drängeln, Chaos, Schmerzen. Wie er korrekt vermutet hatte, war auf der Straße ein Pkw in die Seite eines Tanklasters gekracht. Dem Laster war wenig passiert, das Auto aber hatte es zehn Meter weiter gegen den nächsten Laternenpfahl geschleudert. Ganz schlimme Angelegenheit. Seinen Kaffee konnte er vergessen, die Frage war, ob sich die Bedienung sein Gesicht gemerkt hatte, wenn er jetzt das Lokal verließ. Er riskierte es. Es war ohnehin kaum jemand an seinem Tisch sitzen geblieben, nachdem das Splittern einer Windschutzscheibe, gefolgt von den dumpfen Aufschlägen auf dem Asphalt zu hören gewesen war. Schrecklich. Musste das ausgerechnet an seinem freien Tag geschehen? Die ersten Sanitäter trafen ein und schauten nach den Wageninsassen. Christian rechnete ihnen keine großen Chancen zu. So böse es klang: Täglich starben zehntausende Menschen. Zwei mehr oder weniger, was machte das für einen Unterschied? Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Heute würde ein verdammt heißer Tag werden.
Am Mittag las man in der Zeitung folgende Schlagzeile: „Autounfall am Stadtpark – Brauchen wir die Verkehrswende!“ Darunter ein Foto von einem verbeulten Auto mit aufgebrochener Fahrertür. Angela schloss die Augen. Gott oder die Ärzte im Krankenhaus, hoffentlich machten die Verantwortlichen einen guten Job, in wessen Händen die Opfer auch immer lagen. Sie schob den halb leer gegessenen Teller von sich und griff nach ihrem Handy. Sie konnte sich irren, doch sie glaubte nicht an Zufälle. Zufall war nichts als eine juristische Konstruktion. Wenn es mal wieder hieß: Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt.
„Es ist grad ganz schlecht bei mir. Kann ich dich zurückrufen? Was haben die Menschen bloß mit ihren Bienen, hier sind die Dinger ne echte Plage.“, meldete sich der Mann nach dem zweiten Klingeln. Er klang in der Tat gestresst, doch sie hatte eine Frage, die nicht warten konnte.
„Wie kann es sein, dass ein voll beladener Lkw Gefahrengut munter durch die Innenstadt fährt und ich nichts davon weiß?“
„Meinst du den Autounfall?“
„Ich beginne allmählich zu glauben, dass das kein Unfall war. Hat sich die Polizei bei dir gemeldet?“
„Nein, soviel ich weiß arbeiten die noch an ihren Bericht.“
„Was ist über die Opfer bekannt?“
„Jugendlicher mit Kind. Scheint sein eigenes zu sein, von der Mutter fehlt jede Spur. Aufgefallen ist der junge Mann bisher in Form von Hausfriedensbruch und Widerstand gegen Vollzugsbeamte. Mehr hab ich nicht.“
„Danke, melde mich später nochmal.“
Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte es erneut. Sie nahm ab.
„Angela, ich bin es. Hast du mit der Presse geredet?“
„Nein, bisher hat es keine Anfragen gegeben.“
„Dabei wird es nicht bleiben und du verhältst dich ruhig, bis wir miteinander gesprochen haben.“
„Wieso das?“
„Nicht am Telefon. Halt einfach den Mund.“
Also hatte sie sich nicht geirrt. Was aber hatte das Kind zu bedeuten? Wenn die Absicht gewesen war, den Laster zu stoppen, dann war das dem Fahrer des Pkws geglückt. Die Frage war: Welcher Mensch riskiert, dass mehrere Tonnen hochgiftiges Material vielen tausend Menschen zum Verhängnis wird? Oder hatte der Fahrer gewusst, dass der Tank nicht beschädigt würde? Sie sollte sich nicht so viele Gedanken darüber machen, das war Problem der Behörden.
Nervös wurde sie erst, als die erste SMS auf ihrem Handy eintraf. Der Spiegel hatte angefragt. Ob sie wisse, was der Lkw geladen hatte. Zunehmend beunruhigt stellte sie fest, dass sie es tatsächlich nicht wusste.
Am Abend las man in der Zeitung folgende Schlagzeile: „Unfall mit zwei Toten – Hatte ein Fahrzeug illegal Brennelemente geladen!“ Darunter ein Foto des Tanklasters, der aus der gewählten Perspektive wirklich zu strahlen schien. Robert warf einen Blick in den Rückspiegel und zog dann auf die linke Fahrbahn. Über dem Horizont baute sich eine bedrohlich dunkle Wolkenfront auf. Der Wetterumschwung war längst überfällig. Klimaerwärmung hin oder her, irgendwann wurde es ja doch wieder kühler. Mit langfristigen Verbesserungen hatte man die Menschen noch nie locken können. Dagegen spielte der heutige Vorfall ihm umso mehr in die Karten. Er bezweifelte, dass je die Wahrheit über die Ladung des Lkws ans Licht kommen würde, aber das spielte auch keine Rolle.
Er sah den Jungen vor sich, am Steuer seines schwarzen VW Polo. Auf dem Beifahrersitz seine vierjährige Tochter, ohne Sitzgelegenheit klemmte ihr der Sicherheitsgurt unterm Kinn. Vielleicht hing eine vergoldete Kette um seinen Hals, ein Geschenk seiner Freundin, dessen Verlust er nie verkraftet hatte. So musste es vom einen aufs andere gekommen sein.
Roberts Hände krampften sich um das Lenkrad, längst hatte er den Blick für die Straße verloren. Er hatte den jungen Mann erst nach dessen Tod kennengelernt und darüber ärgerte er sich. Die Medien, angeblich vierte Gewalt im Staat, bauschten den Unfall auf und krönten die Opfer bereits zu Helden. In einer Woche würde sich schon niemand mehr an ihre Namen erinnern können.
Langsam erhöhte er die Geschwindigkeit. Er hatte keine Wahl. Niemand glaubte ihm. Niemand verstand ihn. Seine Tochter quengelte und er reichte ihr eine Salzstange. Auch sie besaß keine Zukunft. In einer Welt, in der Träume nicht lohnten, weil 8 Milliarden hungrige Piraten das Land plünderten, das einst als ihre Heimat gegolten hatte. Er setzte die Flasche an die Lippen. Ein letzter Schluck Wasser, kühl, wie es die Meere nie mehr sein würden. Er beschleunigte.
„Ampel rot.“, sagte die Kleine auf dem Beifahrersitz. Er sah den Laster mit der roten Aufschrift um die Ecke biegen. Aus ihr hätte echt etwas werden können. In einer anderen Welt. Leider hatte er keine Wahl.
Am Morgen las man in der Zeitung folgende Schlagzeile: „Plötzlicher Wintereinbruch – Ist doch bloß alles eine Lüge!“ Darunter ein Foto der Zugspitze von 1956. Als die Spitze noch weiß war.