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Jähe Veränderung

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Liz

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12.07.2002
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Jähe Veränderung

Er erwachte im fahlen Mondlicht, nicht wissend, wie lange er so da gelegen hatte. Die Kühle der Nacht war eine Wohltat für sein verschwollenes Gesicht. Auf seiner gestrigen Flucht durch den Wald hatten sich Fliegen an seinen Lidern und Lippen zu schaffen gemacht und die Schwellung sowie einen brennenden Juckreiz verursacht. Er war zu panisch gewesen, um sich zu ekeln, was eigentlich eine Untertreibung war. Zu Tode geängstigt brachte es eher auf den Punkt. Vorsichtig bewegte er seine Gliedmaßen. Die verletzte Schulter bereitete ihm Höllenqualen. Geräusche hallten durch die Nacht. In der Ferne knackte das Unterholz.

So durstig.

Er verlagerte seinen Körper in eine Position, die es ihm erlaubte, das von der Nachtluft nasse Gras abzulecken. Seine Zunge war ein pelziges Etwas, dass schmerzhaft an seinem Gaumen klebte. Nach dieser Kraftanstrengung sank er schlaff zusammen, halb bewusstlos und fiebrig vor sich hindämmernd. Blut sickerte aus der durch die Bewegung aufgebrochenen Schulterverletzung und durchnässte sein T-Shirt.

„Ich bin nicht unverwundbar“, dachte er unzusammenhängend, „dies zu glauben ist anmaßend, eitel und arrogant. Gefährliche Eigenschaften, die einen jederzeit in eine missliche Lage bringen können. Welch fataler aber dennoch menschlicher Irrtum, von der eigenen Unverwüstlichkeit überzeugt zu sein.“

Vorerst war er sich sicher, dass er seine Verfolger abgehängt hatte. Vermutlich spielte es keine Rolle, weil er in diesem Wald sterben würde. Er dachte an seine Familie und ließ den Tränen freien Lauf. Das brennende Gebäude stand vor seinen Augen, ein Inferno des Todes, ein Grab für drei Menschen. Ausgelöscht. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Die guten Tage waren vorbei. Es würde keine Angelausflüge mehr geben, keine Streitereien am Frühstückstisch und keine Auseinandersetzungen zum Thema Partys, die er nach Meinung seiner Eltern in zu hohem Ausmaß besuchte. Keine Spielabende mit der Familie, an denen er eher belustigt als begeistert teil genommen hatte. Nie wieder würde er seine Schwester mit der ganzen Erhabenheit eines 14-jährigen necken können. Nie wieder würde er seine Mutter im Tennisdress vorbeihasten sehen, ihm einen fröhlichen Kuss auf die Stirn verpassend, den er mit gequältem Gesichtsaudruck über sich ergehen ließ. Keine Grillabende mehr, bei denen sein Dad manchmal zuviel Wein trank und anschließend redselig die ganze Familie mit seinen Späßen unterhielt.

Kein geordnetes Vorstadtleben. Für ihn nicht mehr. Eine jähe Veränderung, die seinen Verstand völlig überforderte.

Er war nichts weiter als ein verängstigter, schwer verletzter 14-jähriger Junge, der an einem Tag seine Eltern und seine Schwester verloren hatte, fast zu Tode gehetzt worden war und denn Grund dafür nicht kannte. Tatsächlich verweigerte er schlicht und einfach den Grund zu kennen, um nicht durchzudrehen.

Tief in seinem Innersten versuchte ein düsteres Geheimnis brüllend seinem Gefängnis zu entweichen. Noch hielt die Festung dem Ansturm stand. „Nicht nachdenken“, befahl ihm sein überreizter Verstand.

Marc fiel in einen unruhigen Schlaf.

 
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Er träumte.

Seine Mutter und seine kleine Schwester Ellie saßen am gedeckten Frühstückstisch. Ma legte Ellie einen Pfannkuchen auf den Teller und lächelte, als diese ihn wieder einmal mit Ahornsirup ertränkte. Dad blätterte in der Zeitung und kaute an einem Toast.
Es klingelte an der Tür. Marcs Vater erhob sich um zu öffnen. Undeutlich hörte man die Stimme eines Postboten: "Ein Paket und drei Briefe für Sie, Mr. Abernathy."
Als Dad wieder in die Küche trat, war sein Gesichtsausdruck irgendwie verändert. Unauffällig deutete er seiner Frau an, dass er sie sprechen wolle. Seine Hand umklammerte einen kleinen Brief ohne Absender. Mrs. Abernathy zuckte unwillkürlich zusammen, als sie ihn sah. Marcs Vater war sehr weiß im Gesicht und seine Lippen formten lautlos ein Wort, das Marc nicht erkennen konnte.
Ellie patschte mit dem Löffel auf ihren Pfannkuchen und quietschte vor Vergnügen.

*

Marc schrak auf. Zitternd griff er nach seiner Jacke und zog sie enger um seinen Körper. Die Bilder in seinem Kopf verblassten langsam.
Keine drei Tage war es hergewesen, dass dieser Traum sich in Wirklichkeit abgespielt hatte. Marc hatte sich nichts anmerken lassen, aber er hatte die Veränderung im Verhalten seiner Eltern sehr wohl bemerkt. Natürlich, äußerlich schien alles in Ordnung gewesen zu sein.
Aber dem sensiblen Jungen war nicht entgangen, dass seine Eltern sich mehrmals ernsthaft unterhalten hatten, wenn sie ihn nicht in der Nähe glaubten. Mrs. Abernathy hatte meist stumm dagestanden, während Marcs Vater erregt auf sie einsprach. Am Ende des Gespräches schüttelte Claire Abernathy gewöhnlich den Kopf und presste den Handrücken gegen den ihren Mund, während ihr Mann Frank auf den Boden starrte.
Einmal hatte Marc sich so an sie herangeschlichen das sie ihn nicht sehen konnten und unter äußerster Anstrengng ein paar Worte aufgeschnappt, die ihn aber nicht weitergebracht hatten.

"John will es so", hörte er auch jetzt noch die gedämpfte Stimme seines Vaters. Daraufhin hatte seine Mutter eine Frage gestellt, die sein Vater heftig verneinte. Unauffällig zog Marc sich zurück, ohne zu ahnen, was diese Worte zu bedeuten hatten.
Bedeuteten sie überhaupt etwas? Gab es irgendeinen Zusammenhang zwischen den letzten Tagen im Leben seiner Eltern, ihrem nervösen Verhalten, dem seltsamen Brief den er nicht hatte sehen können und dem, was dann geschehen war?

Marc biss sich auf die Lippen, als die Erinnerungen in ihm hochstiegen.
Noch vorgestern hatte er den Versuch unternommen, seinen Vater in einer besonders sorgenvollen Minute anzusprechen. Die Angespanntheit seiner Eltern hatte ihm keine Ruhe gelassen.

"Ist etwas, Dad?", hatte er betont unauffällig gefragt. Sein Vater war erst zusammengezuckt, um dann ein breites Lächeln aufzusetzen:

"Was soll denn sein, Sportsfreund?"

Damit war für ihn die Sache erledigt gewesen.

Marc schluckte. Er wünschte, er könnte die Bilder vor seinen Augen endlich verdrängen, aber es gelang ihm nicht.

Immer wieder sah er das brennende Haus vor sich, wie es in sich zusammenfiel. Hörte das Knacken und Bersten der Balken, das Husten seiner Eltern, ihre Rufe und sein eigenes, verzweifeltes Schreien, das lauter als alles andere war. In seinem Kopf hatte sich alles zu drehen begonnen und das letzte, das er sah, bevor er auf dem Boden zusammenbrach, war eine dunkle Gestalt, die ihn packte.

 
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Vorsichtig versuchte Marc eine bequemere Haltung einzunehmen. Der Schmerz in seiner Schulter pochte unaufhörlich. Langsam tastete er über die verletzte Stelle und spürte Feuchtigkeit. Eine hellrote, dünne Blutschicht klebte an seinen Fingern. Also hatte die Wunde sogar schon die Jacke durchnässt.
Wie sollte es nun weitergehen? Er musste unbedingt zu einem Arzt oder ins Krankenhaus, bevor er noch mehr Blut verlor. Ausserdem brannten auch die Schnitte in seinem Gesicht und an seinen Händen. Er war bei seiner Flucht wie ein gehetztes Tier quer durch den Wald gelaufen, ohne darauf zu achten, dass ihm die tiefhängenden Äste und Zweige der Bäume Hände und Gesicht zerkratzten. Auch die Schwellungen an seinen Lippen und Lidern hatte sich seit gestern eher noch verschlimmert.
Marc nahm all seine verbliebenen Kräfte zusammen und zog sich langsam vom Boden hoch. Er trennte mit seinem Taschenmesser ein Stück von seinem T-shirt ab und presste das Stück Stoff fest auf seine Schulterwunde. Obwohl er fast ohnmächtig wurde vor Schmerz, hielt er den Druck aufrecht und hoffte somit, die Blutung stillen zu können. Er steckte das Messer wieder in seine Hosentasche und bewegte sich vorwärts. Er musste einfach versuchen aus diesem Wald herauszugelangen und irgendwo Hilfe zu finden. Es war stockdunkel, er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Die üblichen Geräusche des nächtlichen Waldes, das Knacken und Rascheln im Geäst oder der Schrei eines Kautzes machten ihm Angst. Ausserdem lauschte er ständig angespannt, ob vielleicht seine Verfolger die Spur wieder aufgenommen hatten. Das laute Knurren seines Magens erinnerte ihn daran, dass er seit gestern Morgen nichts mehr gegessen hatte. Auch seine Zunge klebte immer noch pelzig an seinem Gaumen, die paar Wassertropfen, die er vorhin vom Gras abgeleckt hatte, hatten sein Durstgefühl eher noch verstärkt.
Eine Eule flog dicht über Marcs Kopf und liess ihn vor Schreck laut aufschreien. Er kam sich auf einmal so allein und hilflos vor. Wenn doch jetzt nur Dad bei ihm gewesen wäre. Dann hätte er sich stark gefühlt. Dad hätte bestimmt den Weg aus dem Wald herausgefunden, er war schliesslich jahrelang bei den Pfadfindern gewesen. Ausserdem hätte er ihn bestimmt auch vor den furchtbaren Verfolgern beschützt. Mit einem Schlag wurde sich Marc seiner verzweifelten Lage bewusst. Dicke Tränen liefen an seinen Wangen hinunter auf seine Schultern und vermischten sich dort mit dem Blut seiner Wunde. Zu seinen Angstgefühlen kam nun noch Wut hinzu, Wut auf sich selber, weil er weinte und Schwäche zeigte, schliesslich war er doch kein kleines Kind mehr. Trotzig wischte er sich die Tränen ab, deren Salz in seinen Schnittwunden wie Feuer brannte und stolperte weiter durch die Dunkelheit.

 
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Plötzlich tauchte vor ihm, aus dem Nichts heraus, eine zarte, schlanke Frau in einer Art Overall auf. Sie wirkte zunächst instabil und leicht durchscheinend, nahm dann aber schnell an Substanz zu. Ihre langen, roten Haare umspielten die Figur einer Tänzerin und verliehen dieser „Lichtgestalt“ zusätzlichen Glanz. Marc stoppte abrupt und wäre beinahe gestolpert.
Sie lächelte ihn freundlich an und sprach: "Da bist du ja. War gar nicht leicht, dich zu finden."
Ihre Ausstrahlung war eindeutíg positiv.
"Entschuldige bitte, dass ich jetzt erst kommen konnte, aber ich wurde aufgehalten."
"Wer sind Sie?" Verblüfft starrte er sie mit offenem Mund an.
"Mein Name ist kompliziert und lang. Nenne mich einfach `Lynn`." Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.
"Du musst hungrig sein. Außerdem sollte sich jemand um deine Verletzung kümmern. Wer hat sie dir beigebracht?"
"Irgendetwas Scharfkantiges traf mich, als ich...", weiter kam er nicht. Noch während er das sagte, brachen drei Gestalten hinter ihnen durch die Bäume. Marcs Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er sah, wer da rasch näher kam. Er begann zu zittern. Nun hatten sie ihn doch noch eingeholt. Ihre Ausdünstungen verrieten ihm, dass genau das die Männer waren, vor denen er vom Haus weg geflüchtet und gehetzt immer weiter gerannt war. Ganz deutlich nahm er einen bereits bekannten Bestandteil ihres Geruches wahr, der ihn erneut schaudern ließ: Gier. Unverhohlene, bestialische Gier. Marc betete still zu Gott.
Dann hörte er, wie einer von ihnen flüsterte: „Verdammt, eine Wächterin.“
Der größte der Männer, ein Riese und offensichtlich der Anführer blieb unbeeindruckt von der Schönheit, die ihm gegenüber stand. Mit verkniffenem Gesicht machte er einen Schritt auf sie zu.
„Verschwinde! Das hier geht dich nichts an.“
Sie lächelte unschuldig, einen musternden Blick auf die Männer werfend.
"Sieh an, drei Esel rennen durch den Wald!"
Ganz kurz floss amüsiert getarnte Gehässigkeit aus ihren Worten.
"Was habt ihr mit ihm vor, Jungs?“, säuselte sie mit glockenheller Stimme. "Wollt ihr ihn mir etwa wegnehmen?"
„Halt´ dich da raus“, zischte der Riese, wobei er sich noch größer machte.
„Zu spät, Rauul“, entgegnete sie mit frechem Grinsen, „zu spät.“
Marc spürte in der Aura der Männer einen Anflug von Unruhe. Konnte es sein, dass sie vor dieser zierlichen Person Respekt hatten?
„Willst du uns etwa aufhalten?“ Rauul lachte dröhnend und fuhr fort: „Mit deinen billigen Taschenspielertricks?“
Seine beiden Begleiter lachten nun ebenfalls, doch wesentlich leiser. Die Frau zupfte ein welkes Blatt aus ihrem Haar und sah ihm nach, wie es auf die Erde fiel. Dann wandte sie sich wieder an den Grobklotz.
„Bisher hattet ihr nur mit meinen sanfteren Schwestern zu tun, ihr Säcke.“
Sie stellte sich schützend vor den Jungen. Marc hörte ihre Stimme in seinem Kopf. ´Auf mein Zeichen hin rennst du los. Lauf´ so schnell du kannst. Hörst du? Egal, was passiert, nur weg hier!` Marc nickte unmerklich. Die Männer hatten ihre Fassungslosigkeit über das kühne Verhalten der "Lichtgestalt" schnell überwunden und bewegten sich zornig auf sie und den Jungen zu. Neben der Frau waberte die Luft düster, und aus dem Zentrum des Phänomens drängte etwas unvorstellbar Grausames, Wildes in die Welt, bereit, von ihr entfesselt zu werden. Marc sah, wie sich die drei Männer veränderten, wie ihre Körper zu klauenbewehrten Monströsitäten mutierten. Geschockt beobachtete er die Szenerie, unfähig sich zu bewegen. Die Welt schien still zu stehen. Ein Angreifer näherte sich dem Jungen von hinten. Endlose Millisekunden lang stand Marc da, unfähig, sich zu bewegen. Dann, begleitet von einer Flut von Lärm kam das Kommando, antreibend, wie ein Peitschenhieb. "Los, Marc! Lauf´!"

Er rannte wieder einmal um sein Leben. Zwei der Monster jagten ihn, und ihr keuchender Atem war für kurze Zeit direkt hinter ihm hörbar. Sehr schnell jedoch wurden die Geräusche der Verfolger leiser und verstummten letztlich ganz. Völlig entkräftet blieb Marc stehen. Seine Lungen brannten und ihm war speiübel. Einige Augenblicke später fühlte er sich wieder besser.

"Na, alles klar?" Lynns Stimme klang besorgt. Ihr Aussehen ließ auf einen Kampf schließen, den sie offensichtlich gewonnen hatte.
"Geht´s wieder, Marc?"
Sie strich ihm sanft über den Kopf. Er spürte eine seltsame Kraft in ihr und nickte entschlossen. Lynn stupste ihn an.
"Also dann, nichts wie los."
"Wohin?", fragte er müde.
"Vertrau´ mir."

 
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Immer noch benommen, von Schmerzen gepeinigt und durch den Blutverlust geschwächt, taumelte Marc hinter ihr her. Sie wählte keinen bequemen Pfad, falls es einen solchen hier überhaupt gab, sie ging direkt durch das dichte Unterholz. Aber es schien ihr nichts auszumachen, während er sich nur mühsam vorankämpfen konnte.
„Lynn!“, rief er, woraufhin sie stehen blieb und auf ihn wartete. „Was waren diese Männer? Sie veränderten sich, sie wurden zu ... Monstern!“
Lynn lächelte. „Ich weiß. Sie sind Zwischenwesen.“
„Und was ist ein Zwischenwesen?“
„Sie leben in der normalen Welt, wie Menschen, und sehen aus wie Menschen. Aber das sind sie nicht, ihr normales Äußeres ist eine Illusion, für alle, die nicht sehen können.“
„Aber ich habe sie gesehen!“
„Ja. Und du wirst noch mehr sehen.“
Mit dieser unbefriedigenden Antwort wandte sie sich ab und verfolgte weiter ihren Weg durch den Wald.
Endlich erreichten sie eine Lichtung und Marc atmete auf. Ob er hier eine Pause machen dürfte? Er war so entsetzlich müde, konnte kaum noch denken.
„Marc!“
„Marc!“
Er schrak auf. Lynn war am entgegengesetzten Ende der Lichtung stehen geblieben und wartete auf ihn. „Ich weiß, dass du fast nicht mehr kannst. Aber einmal musst du dich noch konzentrieren, sonst kannst du nicht mitkommen.“
„Auf was konzentrieren?“
„Auf den Wald hier. Sieh genau hin, ganz genau!“
Marc wusste nicht, was das sollte, er konnte die Bäume doch sehen, aber er versuchte, sie noch ein wenig schärfer zu sehen. Und plötzlich wurde das, was er sah, unscharf, und an seine Stelle trat etwas anderes ... Ein breiter Weg, belegt mit rötlichem Sand, und an seinem Ende ein Haus. Es war aus Holz, aber weiß gestrichen und mit Schiefer gedeckt. Eine dünne Rauchfahne kräuselte sich aus dem Schornstein empor, und erst jetzt wurde Marc bewusst, wie sehr er fror.
„Komm jetzt“, sagte Lynn und ging vor ihm her auf das Haus zu.
Langsam folgte Marc ihr, nicht begreifend, was vor sich ging, und nahm sich vor, sie noch zu fragen, was das Etwas neben ihr gewesen war.

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Cornelius „John“ Morton gehörte nicht gerade zu den Menschen, die man als kultiviert bezeichnen würde. Weder war er belesen, noch hätte er mit seinen Tischmanieren bei einem eleganten Empfang bestehen können. Seine Macht, sein Einfluss und letztlich sein Geld hatten ihm Zugang zu den höchsten Gesellschaftskreisen verschafft, auch wenn die Ehefrauen der Gastgeber nur ungern seinen Namen auf den Einladungslisten entdeckten.
John war das gleichgültig. Es interessierte ihn schon lange nicht mehr, was andere über ihn dachten; die Zeiten, in denen er buckeln und sich hochdienern musste, waren lange vorbei. Zu verdanken war das seinem Ehrgeiz, seinem Hang zum Perfektionismus, und seiner Gier. Gier nach Macht, nach Einfluss, nach Reichtum.

Der Schlüssel zu seinem Erfolg, der der Grundstein sein sollte, um ein ganz anderes, weitaus höher angesiedeltes Ziel zu erreichen, von dem nur wenige wussten, hatte in den Grundmauern eines vergessenen Klosters gelegen.
Dieses Kloster, von dem nicht einmal mehr bekannt war, welchem Orden die Mönche angehört hatten, lag dreißig Kilometer nordwestlich von Kassel, inmitten dünn besiedelten, waldigen Hügellandes. Tatsächlich existierten nur noch von Gestrüpp überwucherte Grundmauern, und wer den genauen Standort nicht kannte, musste lange suchen, um über sie zu stolpern.
In diesem Haufen zerfallender Steine war es gewesen, dass ein Junge einen kleinen Knochen gefunden und ihn seinem Biologielehrer gebracht hatte. Obwohl in der Anatomie des Menschen und der meisten heimischen Säugetiere und Vögel nicht unbewandert, hatte dieser den Knochen nicht zuordnen können, und ihn schließlich seinem Nachbarn, einem Gerichtsmediziner gegeben.

John musste immer lächeln, wenn er an die Folge von Zufällen dachte, die diesen Knochen zu ihm geführt hatten.

Damals arbeitete er als Abteilungsleiter in einer kleinen Pharmafirma, deren erfolgreichstes Produkt Augentropfen gegen Bindehautentzündung war. John war überqualifiziert gewesen, und hörte auch nie auf, sich weiterzubilden, in der Hoffnung, in dieser kleinen Firma schnell aufsteigen zu können.
Unter anderem überwachte er die Tierversuche und ordnete die Obduktionen an den gestorbenen Mäusen, Ratten und Kaninchen an, die oft von Praktikanten aus der Gerichtsmedizin in Kassel durchgeführt wurden.
Auf diesem Weg erfuhr er von dem Knochen, der nicht einzuordnen war – was vielleicht auch damit zusammenhing, dass sich niemand weiter dafür interessierte, nachdem festgestellt worden war, dass es sich nicht um einen menschlichen Knochen handelte.
Ein kleines Trinkgeld sorgte dafür, dass das Fundstück seinen Besitzer wechselte.

John war ein ungeduldiger Mensch und hatte keine Lust, seitenweise die Anatomie irgendwelcher Echsen oder anderer exotischer Tiere zu studieren, von denen eines vielleicht seinem Besitzer entkommen oder ausgesetzt worden war. Er wollte Klarheit und nahm selbst eine DNA-Analyse vor. Das Ergebnis veranlasste ihn, diese zu wiederholen, und auch noch ein drittes Mal durchzuführen, aber es änderte sich nicht: Diesen Knochen durfte es gar nicht geben. Ein Teil des von John entschlüsselten Erbgutes war dem eines Warans ähnlich, aber eben nur ähnlich, nicht identisch. Kopfzerbrechen bereitete ihm jedoch der verbliebene Teil. Er ließ sich nicht genau erkennen, blieb unscharf. Hin und wieder zeigte der Computerbildschirm eine klare Abbildung, die bei genauerem Hinsehen sofort wieder verschwamm. Auch auf den Ausdrucken war sie nicht zu erkennen, es war, als ob bei diesem Teil die Druckerpatrone gestreikt hätte.

Getrieben von seiner Neugier entschloss sich John zu einem Versuch, der weitreichende Folgen haben sollte. Obwohl es eigentlich zwei Versuche waren.
Er befruchtete eine Maus damit.
Die neugeborenen Mäuse unterschieden sich nicht von anderen. Nicht äußerlich. Aber sie waren aggressiv, so aggressiv, dass die Mäusemutter zwei Wochen später tot war.
Natürlich untersuchte John auch das Erbgut dieser kleinen Mäuse, um festzustellen, dass das Fremde überwog, was normalerweise unmöglich war. Es war nur gerade so viel von einer Maus enthalten, um auszureichen, dass die Tiere wie Mäuse aussahen – aber es waren definitiv keine.
John wiederholte eine solche Befruchtung noch mehrmals, ohne zu einem anderen Ergebnis zu kommen, aber er tat auch noch etwas anderes: Er injizierte die DNA des Knochens in seine eigenen Blutzellen.
Enttäuscht, keine Veränderung zu verspüren, auch nach zwei Wochen nicht, wollte er das ganze Experiment schon abschließen, als der letzte Wurf genomveränderter Mäuse auf die Welt kam, und dieser sah anders aus. Auf den ersten Blick sah John auch diesmal nackte, blinde Mäuse, die versuchten, ihre Mutter zu beißen, aber als er genauer hinsah, verschwammen die Umrisse der Mäuse, und was er nun sah, hatte mit ihnen nichts mehr gemein. Der erste Begriff, der ihm einfiel, war „Babydrachen“.
Er photographierte sie sofort, um festzustellen, dass die Kamera nur Mäuse ablichtete. Auch sein Assistent sah nur Mäuse. Aber er selbst sah, was sie wirklich waren; die Gestalt einer Maus erschien ihm wie eine Illusion.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Firma ein neues Augentropfenprodukt weit genug entwickelt und getestet, dass der Versuch am Menschen anstand. John entschloss sich, für zwei der Versuchspersonen – Studenten, die sich dadurch ihr Studium finanzieren wollten – die Tropfen mit der fremden DNA zu versetzen.

Zwei Jungen waren Jahre später geboren worden, und John, der seine Versuchspersonen nie aus den Augen verloren hatte, ließ es sich nicht nehmen, sie anzusehen. Auch bei ihnen war es so, dass sie wie normale Babies aussahen – aber nicht für ihn. Sie waren keine Monster, auch keine Drachen, aber sie waren auch keine wirklichen Menschen, nicht in ihrer wahren Gestalt. Sie waren Zwischenwesen.
Und sie unterschieden sich sehr voneinander.

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Das war vierzehn Jahre her, und nun war es an der Zeit, wenigstens einen dieser beiden Jungen in seine Hände zu bekommen.
Er hatte viel studiert, viel gelesen in der Zwischenzeit, hatte alles, was mit der Macht über Menschen zu tun hatte, in sich aufgesogen. Und um sie zu erreichen, würde ihm dieser Junge helfen. Er ahnte, über welche Fähigkeiten Marc, wie seine Eltern ihn genannt hatten, verfügte, aber der letzte Test stand noch aus. Wahrscheinlich wusste Marc selbst noch nichts darüber – er war so behütet aufgewachsen, dass er nie in die Notlage gekommen war, alles, was er beherrschte, einsetzen zu müssen.

John hatte diese vierzehn Jahre auch bei seinen Forschungen nicht ungenutzt verstreichen lassen, und er hatte mit erwachsenen Männern experimentiert. Haftentlassene waren es gewesen, und er hatte ihnen hohe Dosen des fremden Genoms injiziert, so hohe, bis sie selbst mutierten – auch sie waren jetzt Zwischenwesen, seine Zwischenwesen, die alles taten, was er anordnete. Aber auch John hatte sich weiter verändert, und er sah jetzt Dinge, die er vorher nicht sehen konnte. Es reichte nicht, um die andere Welt zu sehen, aber bis in die Zwischenwelt war er vorgedrungen. Wären da nur nicht die Wächterinnen ...

Aber seine Wesen waren auch dumm, anders war nicht zu erklären, wie dieser Junge ihnen hatte entkommen können. Wenigstens waren die Eltern beseitigt und konnten keine Schwierigkeiten mehr machen, und jeder würde glauben, dass Marc in dem Haus verbrannt war. Durch den speziellen Brandbeschleuniger, den er verwendet hatte, dürfte es schwierig sein, überhaupt noch menschliche Überreste in den rauchenden Trümmern zu entdecken. Marc würde nicht vermisst werden.
Aber jetzt musste er gefunden werden.

 
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Der Anführer der drei Männer, der einmal Michael geheißen hatte, sah sich dem Wesen, welches Lynn mitgebracht und losgelassen hatte, alleine gegenüber, denn seine beiden Kumpane waren Marc hinterher gelaufen. Er würde auch niemandem mehr berichten können, was ihn auf so unbeschreibliche Art zerfetzt hatte. Die fünf Wanderer, die ihn drei Tage später finden würden, zwei Ehepaare und ein zehnjähriges Mädchen, die auch als erste erkannten, über welch großen Umkreis seine Reste verstreut lagen, benötigten von da an psychologische Hilfe. Aber auch dadurch würden die Alpträume nicht vertrieben werden, welche sie allnächtlich heimsuchten. Keiner von ihnen ging jemals wieder in einen Wald.

Roman und Jan, Michaels Kollegen, entgingen einem solchen Schicksal, da sie rechtzeitig eine ausreichend große Distanz zwischen sich und diese tödliche Erscheinung aus einer anderen Welt gebracht hatten.
Aber sie hatten Lynn unterschätzt. Sah es zunächst noch danach aus, als würden sie den fliehenden Jungen früher oder später einholen, wurde diese Aussicht durch die Wächterin bald zunichte gemacht, welche die beiden zwar lebend, aber außer Gefecht gesetzt und stark blutend im Wald liegen ließ. Nachdem sie wieder zu sich gekommen waren, galt ihre größte Sorge, wie sie John ihr Scheitern erklären sollten. Um nicht zu sagen: Sie hatten Angst.

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Marc verstand nicht, wie es möglich sein konnte, dass an Stelle des vormals undurchdringlich wirkenden Waldes ein Weg und ein Haus auftauchen konnten, aber inzwischen befand er sich in einem Zustand jenseits rationalen Denkvermögens. Zu viel war auf ihn eingestürzt, zu viele erschreckende Dinge hatte er erlebt, hatte Todesangst erfahren und etwas zu sehen vermeint, was es nicht geben konnte.

Das weiße Haus erfüllte zunächst seinen größten Wunsch: In seinem Inneren war es warm.
Lynn ließ Marc keine Zeit, sich lange umzusehen; nur flüchtig registrierte er hinter der Eingangstür weißen Marmorboden, eine geschwungene Treppe und eine ganze Reihe geschlossener Türen, als sie ihn schon weiterzog in eine große Halle.
Marc stutzte, denn obwohl er allmählich nicht mehr glaubte, dass alles real war, was seine Augen aufnahmen, war dies dennoch ein Saal, der in einem Haus, wie er es von außen gesehen hatte, nicht möglich war.
Er wollte verblüfft stehen bleiben, aber Lynn drängte ihn weiter. „Nicht alles, was du siehst, ist real, und manches, was du nicht siehst, existiert dennoch! Und jetzt komm!“
Sie brachte ihn in einen kleineren Raum, spärlich möbliert mit einem dunklen Tisch und vier ungepolsterten Holzstühlen.
Dankbar setzte er sich und stütze den Kopf auf die Hände.
„Warte hier!“, wies Lynn ihn an. „Es wird sich gleich um dich gekümmert“ , und verschwand durch eine der Türen, die dieses Zimmer aufwies.
Seltsame Frauen traten wenigen Minuten später ein. Obwohl proportioniert wie normale Erwachsene, maßen sie höchstens einen Meter, aber noch auffälliger war ihre Gesamterscheinung: Sie waren grau. Nicht nur ihre Kleidung, in langen Falten bis zum Boden reichende Umhänge, auch ihre Haut und ihre Haare schimmerten in verschiedenen Grautönen und entzogen sich dem Versuch, ihre Umrisse scharf wahrnehmen zu können. Marc schrieb es seiner Erschöpfung zu; erst später sollte er erfahren, dass diese Gestalten niemals wirklich zu erkennen waren.
Sie sprachen nicht mit ihm. Schweigend befreiten sie ihn von seinem Hemd, um seine Wunde mit irgendwelchen Tinkturen einzureiben, die wohltuende Schmerzlinderung mit sich brachte.
Ebenso schweigend verließen sie den Raum wieder.
Vorsichtig versuchte Marc in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, was alles geschehen war, aber da war zu vieles, was er nicht verstand. Müde legte er den Kopf auf die Arme und schlief ein.

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Cornelius Morton schäumte vor Wut. Keines seiner Wesen war zum befohlenen Zeitpunkt wieder aufgetaucht, und er musste befürchten, dass das eingetreten war, was er unbedingt hatte vermeiden wollen: Jemand hatte sich eingemischt. Im Gegensatz zu Marc wusste er einiges über jene Zwischenwelt, in der seltsame Geschöpfe existierten, die nur für Zwischenwesen wahrnehmbar war. Und von Wesen, die aus einer Welt jenseits der Zwischenwelt kamen ... Aber daran wollte er nicht denken, eine zu namenlose Angst jagten sie ihm ein.
Es war nicht möglich, dass Marc ohne Hilfe hatte entkommen können, und anders konnte er sich nicht erklären, warum er nicht längst zu ihm gebracht worden war.
Unruhig wie ein Tiger in seinem Käfig lief er im Labor auf und ab. Nur die Notbeleuchtung für die Nacht brannte, kein grelles Neonlicht belästigte seine übersensibel gewordenen Augen. Hätte ihn jemand gesehen, der seine wahre Gestalt erkennen konnte, er wäre schreiend davon gelaufen vor der konzentrierten Manifestierung an Bösartigkeit und Gier, welche John ausstrahlte.
Als die Dunkelheit vor den Fenstern einem trüben Grau wich und den Beginn eines neuen Tages anzeigte, fasste John einen Entschluss.

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Marc brauchte einige Sekunden, um sich klar zu werden, wo er sich befand. Er lag in einem Bett, zugedeckt mit einer dünnen, seidenartigen Decke, und er war allein. Außer einem Sessel, auf dem seine schmutzige und blutverkrustete Kleidung lag, und diesem Bett, befand sich nichts im Zimmer, es hatte auch kein Fenster.
Ihm blieb keine Zeit, länger zu grübeln, denn als die Tür sich öffnete, trat Lynn ein. Aber sie war nicht allein.

 
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Ein wunderschönes Mädchen, ungefähr im gleichen Alter wie Marc, deren goldfarbenes, lockiges Haar bis auf ihre Schultern reichte, stand neben Lynn im Türrahmen.
„Das ist Cynthia, meine jüngste Schwester“, stellte Lynn das fast durchsichtig erscheinende Wesen vor. Cynthia wirkte noch zerbrechlicher als ihre Schwester und trug den gleichen Overall wie diese.
„Zieh das an“, Lynn reichte Marc ein T-Shirt und eine Hose, „und beeil dich, ich will dich so schnell wie möglich von hier wegbringen, du bist hier nicht mehr sicher.“
„Kannst du mir nicht endlich mal erklären, was das alles zu bedeuten hat, Lynn?“, fragte Marc, während er die Bettdecke zurückschlug und nach dem T-Shirt griff. Ein Schmerz durchzuckte ihn, als er den Arm bewegte, um das Shirt über seinen Kopf zu ziehen.
„Warte, ich helfe dir.“ Cynthia war herangetreten und zog nun vorsichtig den Stoff über die verletzte Schulter. Dabei berührten ihre kühlen Hände Marcs Haut und bewirkten, dass er eine Gänsehaut am ganzen Körper bekam.
„Danke Cynthia “, lächelte Marc und nahm die Hose, die Lynn auf das Bett gelegt hatte.
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet“, Marc schaute fest in Lynns Augen, während er erst in das eine und danach in das andere Hosenbein stieg.
„Du wirst schon noch früh genug erfahren, was du wissen musst. Die Zeit dafür ist noch nicht gekommen.“
Ratlos schüttelte Marc den Kopf. Wie hatte sich sein Leben nur innerhalb von zwei Tagen zu einer solchen Katastrophe ausweiten können.
Bedrückt verliess er hinter Lynn und Cynthia den Raum.

Vor dem Haus reichte der Wald bis an die hölzerne Veranda heran. Dunkel und bedrohlich wirkten die mächtigen Tannen. Doch auf einmal lösten sich ihre Konturen auf und formten ein neues Bild, das Bild einer Einfahrt, die auf einer Strasse endete. Kornfelder, deren Ähren sich sanft im Wind hin und her bewegten, erstreckten sich bis zum Horizont. In der Einfahrt parkte ein Cabriolet, auf das Lynn nun zielstrebig zuging. Sie schloss die Fahrerseite auf und deutete Marc an, einzusteigen. Plötzlich war das Geräusch eines Hubschraubers zu hören.
„Shit“, fluchte Lynn, „ ich hätte nicht gedacht, dass sie so schnell kommen. Los macht schon, schliesst die Tür.“ Mit quietschenden Reifen fuhr Lynn rückwärts aus der Einfahrt, drehte und jagte die Strasse hinunter. Der Hubschrauber war mittlerweile heran gekommen und befand sich fast schräg über dem Auto. Auf einmal erklang ein Schuss. „Duckt euch“, schrie Lynn, und während sich das Dach des Cabriolets automatisch schloss, rutschte Marc schnell zwischen Vorder- und Rücksitz. Er blickte vor Angst zitternd in Richtung des Hubschraubers und seine Vermutung bestätigte sich; es war einer seiner Verfolger, der seine schreckliche Fratze weit aus dem Hubschrauber gebeugt hatte und mit einer Pistole auf das fahrende Auto zielte. Anscheinend waren die Verletzungen, die Lynn den Männern im Wald zugefügt hatte doch nicht so schlimm gewesen.
Weitere Schüsse fielen, sie peitschten rechts und links am Auto vorbei. Es sah so aus, als ob der Mann versuchte, die Reifen des Autos zu treffen, um dieses somit zum Anhalten zu zwingen. Doch Lynn fuhr wie vom Teufel besessen in Schlangenlinien die Strasse entlang. Marc fühlte sich wie in einem dieser Road-Movies, in denen sich die Darsteller wilde Verfolgungsjagden lieferten, nur war dies hier kein Film, es war Wirklichkeit, und die Verfolger keine Schauspieler, sondern schreckliche Wesen aus einer Welt, von der Marc noch nichts wusste - noch nicht.

 
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Zu der gleichen Zeit, als Lynn die Straße entlang jagte, erwachte Etwas in den Tiefen der Wälder. Es war alt, uralt und entsetzlich böse. Sein Schlaf über die Jahrzehnte hinweg war todesähnlich gewesen. Es wusste nicht, was es geweckt hatte. Über den Waldboden schlurfend taumelte es langsam vorwärts, nicht wissend wohin sein Weg es führte.

Sein Bedürfnis nach Nahrung erwachte, seine Bewegungen wurden schneller, die Jagd begann.

Als das Wesen wenig später seine Reißzähne in das Fleisch eines Hirsches hieb und sich durch das dampfende Gedärm des Tieres wühlte, fühlte es, wie seine alte Kraft zurückkehrte. Es fraß sich satt, zeriss das lebensspendende Fleisch.

Mit der Kraft in den Gliedern kehrte auch sein Gedächtnis (sofern man davon überhaupt sprechen konnte) zurück. Es erinnerte sich an den Auftrag, mit dem es vor so vielen Jahren betraut worden war. Eine unheimliche Intelligenz trat in die gelblich funkelnden Augen. Sabbernd verließ es den Kadaver des Hirsches um sein damaliges Scheitern zu korrigieren.

Es blähte die Nüstern, nahm Witterung auf und setzte sich in Bewegung. Zielstrebig eilte das Geschöpf nach Norden. Wo es vorbei kam, verkrochen sich die Tiere in ihre Schlupfwinkel. Sie witterten Gefahr und sie rochen das geronnene Blut des Hirsches, das wie ein grotesk riechendes Parfum dem Wesen anhaftete.

 
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In der Zwischenwelt kannten viele das Wesen und seine Bestimmung – aber sie wussten nicht, dass es wieder auf dem Weg war. Manches wäre vielleicht anders abgelaufen, hätten sie sein Erwachen geahnt.

Viele hundert Jahre war es her, seit das Untier an der Erfüllung seiner Pflicht gescheitert war, und ohne Begriffe wie Zeit, Vergangenheit und Sterblichkeit benennen zu können, würde es unbeirrt seinem einstmaligen Auftrag folgen.

Begonnen hatte alles mit der ersten Grenzüberschreitung ...


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Bruder Markus war es schon immer schwer gefallen, sich den Regeln des Klosters und des Ordens zu unterwerfen, aber inzwischen zweifelte er, ob die kleine Gemeinschaft, der er angehörte, die Bezeichnung Kloster noch verdiente. Drei durch Missernten geprägte Jahre hatten das Land ringsum veröden lassen, denn die Bauern hatten die Höfe verlassen, um als Tagelöhner irgendwo ihr tägliches Brot zu verdienen. Dadurch hatte Markus als Infirmarius kaum noch etwas zu tun, denn seine Hilfe wurde nur benötigt, wenn einer seiner Mitbrüder sich nicht wohl fühlte. Dadurch erhielt er die Gelegenheit, seinen eigenen Interessen zu folgen und viel Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Nach dem Tod des Bibliothekars übernahm er dessen Aufgaben.
Sein - der Zeit entsprechend - kümmerliches Wissen über den Menschen und seine Anatomie wurde aufgewogen durch seine Neugier, denn jetzt endlich konnte er auch all jene Schriften studieren, welche der alte Bruder Stephanus ihm immer untersagt hatte.
Seltsame Berichte fanden sich in den verstaubten Regalen: Über geheimnisvolle Kräutermischungen und deren Wirkung, über aus heidnischer Zeit stammende Rituale und Beschwörungen, über Dämonen und Teufel, die sonst nirgends erwähnt wurden.
„Teufelszeug und Hexerei!“, brummte er immer wieder vor sich hin, aber mehr, um sein Gewissen zu beruhigen, denn aus Überzeugung. Dennoch hörte er nicht auf, tiefer in die Geheimnisse der alten Aufzeichnungen einzudringen. Hatte sein ursprüngliches Ziel noch darin bestanden, ein Mittel für sein schwaches Herz zu finden, so hatte er dieses bald gänzlich aus den Augen verloren.

Das Unheil begann, als er zwischen den theologischen Schriften eng zusammengerollt ein Blatt fand, welches älter zu sein schien als alles andere, was sich in dieser Bibliothek finden ließ. Es war staubig und brüchig, vergilbt und stellenweise kaum zu entziffern. Viel erstaunlicher war jedoch, dass es nicht in lateinischer Sprache geschrieben war, sondern auf Deutsch – nicht dem Deutsch, welches Markus sprach, sondern einem sehr altertümlichen mit sonderbarer Schreibweise. Zwei Wochen kostete es ihn, den Inhalt dieses Blattes nicht nur zu lesen, sondern auch zu verstehen, und weitere fünf Tage, während derer er mit sich rang, was er tun sollte. Denn beschrieben wurde eine Mischung verschiedenartiger pflanzlicher Stoffe, die ihn in einen geistig veränderten Zustand versetzen sollten, in dem er imstande wäre, eine andere Welt zu betreten.
Eine Welt, die angeblich gleichzeitig mit seiner Welt existierte, die er nur nicht sehen konnte. Die Rede war auch von einer weiteren, einer dritten Welt, über die der Urheber der Schrift sich jedoch nicht weiter äußerte.

Fünf Wochen kostete es Markus, alle beschriebenen Bestandteile zu sammeln. Während dieser Zeit starb der Abt, und da keiner der Brüder sich befähigt fühlte, dessen Amt einzunehmen, blieb das Kloster, und somit auch Markus, ohne geistliche Führung.
Markus war diese Situation nicht unlieb, denn er hätte befürchten müssen, dass der Abt ihm sein Tun untersagen würde. So aber – wen hätte er fragen sollen?

Er wartete bis zum nächsten Markttag; außer Bruder Antonius und Bruder Lukas, deren durch das Alter hervorgerufene körperliche Gebrechen den weiten Weg nicht mehr erlaubten, würden alle Brüder in die Stadt gehen, um den Überschuss des klostereigenen Gemüseanbaus zu verkaufen.
Mit sehr gemischten Gefühlen sah er ihnen nach, als sie noch vor Sonnenaufgang aufbrachen. Aber dann verlor er keine Zeit mehr. Er hatte den seltsamen Text so oft gelesen, dass er die genaue Zubereitung und Dosierung der einzelnen Zutaten auswendig wusste, und es kostete ihn nur eine halbe Stunde, um den beschriebenen Trank herzustellen. Nur kurz zögerte er, bevor er den Zinnbecher nahm, in den er den gefilterten Trank gegossen hatte, und ihn in einem Zug austrank.
Es dauerte nicht lange, bis ihm zunächst leicht übel wurde und erste Kopfschmerzen sich einstellten. Er beschloss, hinauszugehen, denn die stickige Luft im Inneren des Gebäudes kam ihm zäh vor, als würde er versuchen, Sirup einzuatmen, aber auch die kühle Morgenluft half nicht, im Gegenteil: Nur mühsam rang er nach Atem, vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen, er konnte nicht mehr klar sehen und sein Gesichtsfeld schränkte sich zunehmend ein, als blickte er durch einen Tunnel. Keuchend fiel er auf die Knie, sich seines Übergewichtes bewusst werdend, als er sich auf die Hände stützte.
Er wusste nicht, wie lange er so auf allen Vieren verharrt hatte, aber ganz langsam klärte sein Blick sich wieder. Vorsichtig, um keinen erneuten Anfall hervorzurufen, richtete Markus sich auf: Alles war wie immer. Kopfschüttelnd stand er auf, um zurück durch das Tor zu gehen, aber als er es ansah, veränderte es sich. Es wurde durchscheinend und es wurde etwas dahinter Liegendes sichtbar, immer deutlicher, bis die Klostermauern nicht mehr zu sehen waren. Verblüfft sah er sich um, aber nichts von dem, was er sah, war ihm vertraut. Weder war hier zuvor eine blühende Wiese gewesen, noch ein sich daran anschließender lichter Birkenhain. Als er sich umdrehte, war das Kloster immer noch verschwunden und nichts deutete darauf hin, dass es jemals an diesem Ort existiert hatte. Wo war er hier? War dies tatsächlich die in der Schrift beschriebene andere Welt? Konnte das sein?
Mit dem ihm eigenen Gleichmut ging er auf den fremden Wald zu, entschlossen herauszufinden, in was für einer Welt er sich nun befand.
Aber wer oder was auch immer hier leben mochte, verbarg sich vor ihm; außer ein paar entfernten Vögeln konnte Markus nicht einmal Tiere entdecken.
Als die Wirkung der Droge nachließ, fand er sich weit vom Kloster entfernt wieder; erst in tiefer Nacht erreichte er das Tor. Wie sollte er erklären, wo er gewesen war? Aber er hatte Glück, denn Bruder Paulus öffnete ihm, der jüngste der Brüder, der es kaum wagen würde, dem angesehenen Infirmarius und Bibliothekar Vorwürfe zu machen oder Fragen zu stellen.

In den folgenden Wochen legte der neugierige Mönch sich einen stattlichen Vorrat der benötigten Zutaten zu, um jede Gelegenheit zu nutzen, diese andere Welt aufzusuchen. Weiter und weiter erkundete er sie, und im Laufe der Zeit gelang es ihm, ihre Bewohner zu sehen. Zuerst nur Tiere, wie er sie kannte, aber immer häufiger begegnete er Lebewesen, wie sie vielleicht in alten Märchen und Sagen beschrieben wurden, und er fragte sich, ob die Urheber dieser alten Überlieferungen ebenfalls in dieser Welt gewesen sein mochten.

Es dauerte einige Monate, bis er es bewusst wahrnahm, aber er selbst veränderte sich. Seine Hände sahen anders aus, als er sie kannte, denn die Finger wurden länger und schmaler, die Nägel erinnerten an Krallen, und rötliches Haar bedeckte seinen Handrücken. Wenn er sich in der spiegelnden Oberfläche eines stillen Tümpels sah, erkannte er, dass seine Gestalt sich ebenfalls veränderte: Er wurde schlanker, kantiger, und seine schütteren, mit Weiß durchsetzten Haare wurden wieder voller. Aber all diese Veränderungen schien nur er selbst sehen zu können, denn seine Brüder hätten ihn gewiss darauf angesprochen.
Als sehr angenehm empfand er seine geschärften Sinne, denn sowohl sein Geruchssinn und sein Gehör, als auch seine Sehkraft verbesserten sich kontinuierlich.

Nach einem Jahr benötigte er den Trank nicht mehr; es genügte, einen bestimmten Baum, oder auch nur eine Blume, genau anzusehen, um in die andere Welt überwechseln zu können, und ebenso leicht konnte er wieder zurückkehren.
Schon lange zeichnete er alles auf, was er zu sehen bekam, so auch seine erste Begegnung mit einem menschlichen Bewohner. Es war eine elfengleich zarte, weißblonde junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie war verwirrt, als sie seiner ansichtig wurde, denn sie hielt ihn für ein Wesen aus der Zwischenwelt, wie sie selbst eines war, und aus diesem Grund ließ sie ihn gehen, obwohl es ihre Aufgabe gewesen wäre, ihm den Zugang zu verwehren.
Tatsächlich aber ging sie noch weiter, denn Markus erinnerte sich an die Erwähnung einer weiteren Welt in der alten Schrift und fragte sie danach.
Sie zögerte mit ihrer Antwort, aber ausgehend von ihrer irrtümlichen Annahme, er hätte den gleichen Ursprung wie sie, zeigte sie ihm, auf welche Weise er Zugang erhalten konnte.
Nur wenige Schritte konnte er in diese nochmals andere, noch viel fremdartigere Welt tun, als das Wesen ihn entdeckte. Instinktiv erkannte es, dass er keineswegs ein Wächter aus der Zwischenwelt war, der wechseln durfte, und stürzte sich auf ihn. Markus gelang es, sich zurück in die Zwischenwelt zu retten, aber durch seine Ungeschicklichkeit blieb der Durchgang lange genug offen, um das Wesen hinter ihm her ebenfalls durchzulassen.
Die kleine Wächterin, die erst jetzt ihren verhängnisvollen Fehler erkannte, stand nun vor dem Problem, das Wesen keinesfalls weiterhin Markus folgen zu lassen, es hätte schon nicht in ihre Welt gedurft, und so kam es zum Kampf zwischen ihr und diesem Ungeheuer.
Er dauerte lange, aber endlich hatte sie es soweit bezwungen, dass es in eine tiefe, totenähnliche Starre verfiel; aber es lebte, trotz seiner schweren Verletzungen. Die Hälfte seiner linken Vordertatze hatte es eingebüßt, und ohne das Wissen der Wächterin steckte Markus diese ein und nahm sie mit zurück in seine Welt.

Für lange Zeit ging Markus nicht mehr über die Grenze. Er experimentierte mit der Tatze – mit dem Fleisch, dem Blut, und schließlich mit den Knochen. Sehr schnell bekam er heraus, dass der Knochen die größte Wirkung zeigte: Wenn er einen winzigen Teil zu Pulver zermahlte und mit Wasser trank, wurde seine Wahrnehmung der Zwischenwelt immer deutlicher, und auch er selbst veränderte sich immer mehr. Er wurde zu einem Zwischenwesen.

Ohne weiter zu überlegen mischte er dieses Knochenpulver in den Vesperwein seiner wenigen verbliebenen Brüder, denn sowohl Antonius als auch Lukas waren inzwischen gestorben, es waren nur noch sechs, außer ihm selbst.
Und bei ihnen allen zeigte sich die Wirkung, und es kostete Markus anschließend viele Stunden, um ihnen zu erklären, was alles vorgefallen war.
Erschüttert in ihren Glaubensgrundsätzen von nur einem Gott und nur einer Welt fanden sie sich zu weiteren Versuchen bereit, und es dauerte nicht lange, bis sie alle zu Zwischenwesen geworden waren, wie Markus eines war.
Auch sie besuchten von nun an häufig die Zwischenwelt, und entdeckten Geheimnisse, die niemals hätten aufgedeckt werden dürfen.
Jeder von ihnen schreib einen Teil davon nieder, so dass sieben Schriftrollen entstanden, aber in keiner stand die ganze Wahrheit. Sie verbargen sie tief in den ausgedehnten Kellergewölben des Klosters, eine jede in einem anderen Raum und auf andere Weise vor neugierigen Augen verborgen.
Als in einer klaren Nacht ein mysteriöses Feuer im Kloster ausbrach, wodurch die Kellergewölbe und der Dachstuhl einstürzten, nahmen die sieben Mönche ihre Geheimnisse mit ins Grab. Denn von den Schriftrollen und den noch vorhandenen Knochen wusste niemand ...

 
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Das Getriebe protestierte kreischend, als Lynn unbarmherzig den Gang hoch schaltete. Hektisch blickte Lynn sich immer wieder um und trat das Gas durch. Die Kornfelder flogen an ihnen vorbei und nur am Horizont waren seichte Hügel zu erkennen, die sich schon bald als drohende Riesen vor ihnen auftürmen würden. Lynn wußte: sie mussten die Bergkette erreichen um ihre Verfolger abzuschütteln, denn nur die Höhlen gaben ihnen eine Möglichkeit zum Schutz.

Die Verfolger versuchten jetzt nicht mehr die Reifen zu treffen. Die Geschosse schlugen in den Kofferraum und eine der Kugeln jagte durch die Motorhaube.
Lynn fluchte und versuchte den bereits schlingernden Wagen auf der Straße zu halten. Sie blickte kurz hinüber zu Cynthia, die bleicher und noch durchscheinender, mit verschränkten Fingern, neben ihr saß und bestätigte den Gedanken ihrer Schwester :"Tu es, Cynthia!!"
"Ich...ich werde es versuchen", zitterte Cynthia und atmete tief durch. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen.
Ein leises Sirren drang durch die Luft und wurde zu einem lauten Tosen, so dass Marc, stöhnend vor Schmerz, die Hände über die Ohren legte und sich noch weiter zwischen die Sitze drängte.

Cynthia konzentrierte sich ganz auf ihre Gabe, krallte dabei die Fingernägel in ihre Handflächen und biß sich unbewußt auf die Lippe. Sie stöhnte unter der Anstrengung, zitterte unkontrolliert, während sie mit ihrem Willen eine Windhose hinter dem Auto entfachte. Durch die übertragene Energie wuchs sie zu einem rasenden Tornado heran, der immerwährend zwischen dem Auto und dem Hubschrauber wirbelte.
Zaghaft schaute Marc über die Schulter und konnte nicht glauben, was er sah:
Der Tornado schillerte in allen Farben und war doch wie durchsichtig, drehte sich immer schneller, so dass die scheinbare Verschmelzung der Farben in Marcs Augen schmerzte. Für einen kurzen Augenblick konnte Marc direkt in das Auge sehen und verschwommen, meinte er, ein Mädchen zu erkennen, die Arme ausgestreckt, das um die eigene Achse wirbelte, während ihre Augen drohend leuchteten.
Und was noch wunderlicher war, sie sah aus wie Cynthia.

Dunkle Wolken hatten sich über dem Tornado gebildet. Blitze zuckten heraus und versuchten, wie Fangarme, den Helikopter zu treffen. Doch den Verfolgern war das Phänomen wohl nicht neu und sie wichen den Blitzen gekonnt aus. Sie versuchten, an dem Tornado vorbei zu kommen. Doch wie ein Magnet versperrte er ihnen den Weg und zwang sie, immer wieder abzudrehen.

Mit hoher Geschwindigkeit rasten Marc und die Wächterinnen weiter die Straße entlang. Vor sich - ein blauer Himmel und alles schien friedlich. Hinter sich - ein tobender Kampf aus dunklen Mächten. Marc schaute noch lange durch das Heckfenster zurück und beobachtete das faszinierende, aber auch beängstigende Schauspiel, das sich immer mehr entfernte. Erleichtert atmete er auf.

Als sich Marc wieder umdrehte erschrak er, als er Cynthia sah. Zusammengesunken und mit leerem Blick saß sie da und rührte sich nicht.
"Was ist mit ihr? Ist sie...", stockte er.
"Sie wird schon wieder", murmelte Lynn und hielt den Blick auf die Straße gerichtet.
Marc betrachtete Cynthia genauer und bemerkte, dass sie gealtert war. Ihre goldenen Haare waren mit weißen Strähnen durchzogen und ihr Gesicht war nicht mehr makellos, sondern hatte tiefe Falten bekommen.
"Warum ist sie auf einmal so alt?", flüsterte Marc entsetzt, aber Lynn beruhigte ihn:"Sie muß sich erholen, Marc. Sie hat ihre ganze Energie aufgewandt, um den Tornado so lange wie möglich bestehen zu lassen. Bei übermäßigem Energieverlust altern wir. Aber in ein paar Tagen sieht sie wieder so aus, wie du sie kennst. Versprochen!"
Marc hätte gerne noch viel mehr gefragt, weil er immer noch nicht wußte, was die Geschehnisse der letzten Tage zu bedeuten hatten, aber Lynn schüttelte nur den Kopf und er beließ es dabei.
Marc musste kurz eingenickt sein. Als er erwachte, waren sie den Bergen zwar noch näher gekommen, aber sie fuhren längst nicht mehr so schnell. Der Wagen ruckelte und mit einem zischendem Geräusch, der vom Motor her kam, rollten der Wagen schließlich aus.
"Verdammt", rief Lynn und schlug auf das Lenkrad. Ihr Blick glitt hinüber zu Cynthia, die immer noch bewegungslos da saß.
Leises Brummen war zu hören und als Lynn und Marc sich umdrehten, sahen sie, dass ihre Verfolger nicht weniger geworden waren.

 
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„Verdammte Karre! Hätte sich das blöde Teil nicht noch ein paar hundert Meter weiterbewegen können? Shit! So kurz vor dem Ziel.“ Wütend riss Lynn den Zündschlüssel heraus und warf ihn in hohem Bogen aus dem Wagen. Sie sah ihm knurrend nach. Cynthia blieb von dem Gefühlsausbruch ihrer Schwester unberührt, ihr teilnahmsloser Blick schien der Welt entrückt. `Eine Lichtgestalt auf Sparflamme`, ging es Marc durch den Kopf. Er unterdrückte das Bedürfnis, ihr über das Haar zu streichen und richtete seinen Blick nach vorn. Lynn deutete mit dem rechten Zeigefinger auf eine lose Anhäufung großer Felsbrocken in einiger Entfernung, rechts neben der Straße.
„Dort oben ist eine Grenze und gleich dahinter liegt ein Eingang, der direkt in die Höhlen führt.“ Marc zog sich am Vordersitz in Richtung Frontscheibe, um bessere Sicht zu erlangen.
„Kannst du etwas sehen?“ Marc nickte. Inmitten einer Gesteinsformation offenbarte sich seiner erweiterten Wahrnehmung ein versteckter Trampelpfad.

Der Helikopter war rasch näher gekommen und schwebte über dem Cabriolet wie ein riesiger, bedrohlicher Vogel. Von den Rotorblättern aufgewirbelter Staub prasselte gegen den Lack des Autos, in dessen Innenraum die Verständigung immer schwieriger wurde. Lynn schrie mit überschlagender Stimme gegen den nahezu unerträglichen Lärm an.
„Hör´ gut zu. Sobald die Freaks Boden unter den Füßen haben, werdet ihr losgehen und versuchen, den Eingang zu erreichen. Ich werde euch, so gut es geht, den Rücken frei halten und dann nach kommen.“ Ihr sorgenvoller Blick ruhte kurz auf Cynthia.
„Marc, du wirst sie stützen müssen." Sie registrierte amüsiert seine aufkommende Unsicherheit und lächelte ihn an. "Wirf sie dir notfalls einfach über die Schulter. Cyn ist leicht wie eine Feder.“

Die fliegende Jagdstation war gelandet und spuckte vier dunkel gekleidete Gestalten aus, die im Halbkreis ausschwärmten. Das Wesen, das früher einmal Jan gewesen war, sprach in ein Handy.
„Wir haben sie.“ Ehrfürchtig lauschte es den Worten des Teilnehmers am anderen Ende. Zustimmendes Nicken. „Geht klar.“ Seine klobige Pranke hatte Mühe, das fragile Gerät in der dafür vorgesehenen Tasche verschwinden zu lassen. Jan steckte es kurzerhand in seine Weste.
Cynthia, die eben noch wie eine marmorne Statue dagesessen hatte, bewegte sich zaghaft.
„Lynn, öffne ein Tor!“ Ihre Stimme glich einem Flüstern.
„Nein, Cyn, auf gar keinen Fall. Nicht, solange du so geschwächt bist. Das wäre viel zu gefährlich. Du wärst nicht die Erste von uns, die dabei...“, sie rang nach Worten, „na, du weißt schon.“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch: „Nein, nicht jetzt. Nicht in deinem Zustand.“
„Sie dürfen ihn nicht bekommen.“ Cynthias flehende Worte zeigten Wirkung.
„Sie werden ihn nicht bekommen.“ Lynns entschlossene Miene ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie es absolut ernst meinte. „Bei allem, was mir heilig ist.“ Seltsam gefährliches Flackern in ihren grüngoldenen Augen überlagerte die ansonsten freundlich wirkende Mimik der Frau.

Die Gestalten zogen ihren Halbkreis zusammen. Lynn öffnete die Fahrertür und sprang dem Unausweichlichen entgegen.
"Lasst uns den Tanz beginnen!" Zu allem bereit, bewegte sie sich mit federnden Schritten auf ihre Gegner zu. Vier Augenpaare hasserfüllter Wesen verfolgten jede ihrer Bewegungen. Lauernd - kaltblütig - mordlustig.
Marc glitt aus dem Wagen und half Cynthia vorsichtig beim Aussteigen. Er legte einen Arm um ihre Taille, zog sie mit sich, dem rettenden Terrain entgegen. Hinter ihnen stieß Lynn einen Kampfschrei aus, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. ´Los, lauft, verdammt noch mal!´, erklang eine Stimme in Marcs Kopf. Der Junge gehorchte und hastete, den schlaffen Körper Cynthias an sich drückend, hinauf zu den Höhlen.

Lynns zarte Figur war zu einer Tod bringenden Waffe geworden. Mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings drehte sie sich um ihre eigene Achse, hieb die rechte Handkante kraftvoll gegen den Kehlkopf eines Widersachers, der von dem Schlag überrascht wurde und röchelnd auf die Knie fiel. Während dessen Oberkörper von Erstickungsanfällen geschüttelt, nach vorne kippte, vollendete sie die fließende, elegante Bewegung und trat mit voller Wucht gegen Jans Brustbein. Diese Aktion riss ihm den Boden unter den Füßen weg. Aus einem Reflex heraus schnappte er nach dem vorbeifliegenden Stoff ihres Overalls. Dieser unvermutete Eingriff brachte sie aus dem Gleichgewicht. Strauchelnd taumelte sie rückwärts, direkt in die Reichweite Romans, der die Gelegenheit nutzte und mit seinem rechten Arm nach ihr greifen wollte. Klauen, scharf wie Skalpelle streiften Lynns linke Wange, verfehlten knapp das Auge und entzündeten eine Schmerzmine in dem betroffenen Gewebe. Lynn wich mit einem Seitwärtsschritt dem nächsten Angriff aus, deutete eine Finte an und bewirkte damit, dass Romans Schwinger die Halsschlagader seines Verbündeten traf. In sprudelnden Strömen entwich mit dem Blut das Leben des Verletzten. Roman walzte weiterhin auf die Frau zu, die keuchend vor ihm stand. Ihr war klar, dass sie in seine Reichweite eintauchen musste, um ihn endgültig ausschalten zu können. Ein kräftiger Tritt in den Genitalbereich zwang ihn zur Beugung des Rumpfes. Lynn ließ ihre rechte Faust gut gezielt auf seine Nase krachen, setzte sofort nach und trieb mit einem zweiten Schlag das gesplitterte Nasenbein tief in das Gehirn ihres Gegners. Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt wurden, fiel Roman in sich zusammen, während Lynn vor Schwäche zitterte. Eine Schmerzwelle nach der anderen rollte über ihre linke Gesichtshälfte und ließ diese unkontrolliert zucken.

Jan hatte sich in der Zwischenzeit wieder aufgerappelt und einem Bluthund gleich, Marcs Fährte aufgenommen. Lynn konnte erkennen, dass der Vorsprung der beiden Flüchtigen immer kleiner wurde. Es war nur eine Frage von Minuten, wann er sie eingeholt haben würde. Lynn zögerte, das Tor zu öffnen. Was, wenn sie zu kraftlos wäre um das, was sie in diese Ebene für kurze Zeit entlassen wollte, mit ihrer Gabe zu bändigen? Oder sich womöglich gegen sie selbst stellte? Die Distanz zwischen Jan und den Gehetzten war weiter geschrumpft. Lynn setzte alles auf eine Karte. Die Luft neben ihr flimmerte düster und animalisches Brüllen begleitete die Ankunft eines vierbeinigen Geschöpfes, das der Hölle entsprungen zu sein schien. Einem stummen Befehl folgend, jagte der "Höllenhund", allein durch die Gedanken der Wächterin gesteuert, die Anhöhe hinauf. Jan wähnte sich bereits erfolgreich und bemerkte die Gefahr zu spät. Nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Ziel, als sein Körper von einer noch schlimmeren Bestie, als er selbst eine war, zerrissen wurde. Lynns Bewußtsein drohte in diesem so wichtigen Moment zu entschwinden. Marc und Cynthia waren in Gefahr! Unter Aufbringung ihrer letzten Reserven hielt sie ihren mentalen Klammergriff aufrecht, dirigierte das schreckliche Wesen zurück in seine Welt und schloss das Tor hinter ihm, bevor sie endgültig zusammenbrach.

Marc richtete alle Sinne auf die großen Felsbrocken, die vor ihnen lagen. Die Konturen der Umgebung verschwammen und gaben den Blick frei auf einen schmalen, gewundenen Pfad, der an einer Art Tor endete. Er und Cynthia hatten die rettende Höhle erreicht.

 
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Aber unwillkürlich scheute er davor zurück, sie zu betreten: Dieser Höhleneingang konnte unmöglich eine natürliche Felsformation sein, dazu war er zu ebenmäßig. Nach oben spitz zulaufend erinnerte er Marc an ein gotisches Portal, respekteinflößend und abweisend, wie ein Bollwerk, das nicht von jedem durchschritten werden durfte.
Als er Schreie hinter sich hörte, wandte er sich um, aber er verstand nicht, was er sah. Lynn konnte er nicht sehen, statt dessen eine seltsame Lufterscheinung. Sie sah aus wie in den Fernsehdokumentationen, wenn das Gesicht eines Menschen nicht erkennbar sein sollte. Was er erkannte, war ein abgerissener Arm, mit einer klauenbewehrten Tatze, der einige Meter entfernt lag. Schaudernd fasste er Cynthia fester, er wollte gar nicht wissen, was sich dort unten abspielte. Aber seine Ohren konnte er nicht verschließen vor den grauenhaften Schreien und dem dumpfen Brüllen, zu dem ihm kein passendes Tier einfiel.

Er atmete tief durch und betrat die Höhle.

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John wurde immer unruhiger. Mit dem waffenstrotzenden Hubschrauber konnten diese Wächterinnen mit Marc seinen Jägern nicht entkommen, das war unmöglich. Die kleinere der beiden dürfte ohnehin zu keinen weiteren Aktionen mehr fähig sein, der magische Tornado musste sie zu sehr erschöpft haben. Und Marc wusste nichts von seinen Fähigkeiten – noch nicht.
Aber warum war jetzt der Funkkontakt abgebrochen? Erstaunlich genug, dass er hinüber in die Zwischenwelt funktioniert hatte, die Grenze musste noch dünner sein, als er vermutet hatte. Und er würde sie endgültig niederreißen, wenn er Marc erst hätte ...

Marc würde ihn zu den fehlenden Schriftrollen führen. Und vielleicht auch zu dem zweiten Jungen, den er aus den Augen verloren hatte. Aber noch hatte er keinen Zugang zum Vatikan, dessen Türen sich hinter ihm geschlossen hatten.
John grinste, wodurch seine Lippen noch schmaler wirkten, als er an das vergilbte Blatt dachte, zu dem es noch weitere sechs geben musste. Nachdem er den Fundort des Knochens kannte, war es ein Leichtes gewesen, genauer zu suchen, und so hatte er es gefunden. Es hatte ihm Aufschluss gegeben darüber, zu was er geworden war: Ein Zwischenwesen, ebenso die Mäuse und die Strafentlassenen. Es hatte ihm die Zwischenwelt erklärt, die Funktion der Wächterinnen. Aber das war es auch schon gewesen, bis auf den Hinweis auf weitere sechs Bögen beschriebenen Papiers.
Manches hatte er selbst herausgefunden, so auch die Existenz der jenseitigen Welt, unerreichbar für ihn ohne die Hilfe von jemandem, der über mehr Macht verfügte als er selbst. Macht in der Zwischenwelt. Marc hatte diese Macht, und der andere Junge ebenfalls. Wie hatten sie ihn genannt? Marcel. Seltsame Übereinstimmung der Namen, nachdem auch jene Schrift aus dem Mittelalter von einem Bruder Markus unterzeichnet gewesen war.
Ungeduldig schüttelte er den Kopf. Es wurde Zeit, herauszufinden, warum er nichts mehr hörte.

Drei Stunden später hatte er Gewissheit: Entgegen aller Maßnahmen waren sie entkommen. Nur einen hatte er hinterhergeschickt, aber dessen Bericht ließ Johns Blut überkochen. Irgendwie hatte diese Wächterin seine Leute besiegt, sie getötet. Ob sie das alleine geschafft hatte? Oder hatte sie sich Hilfe geholt? Konnte sie Mächte heraufbeschwören, von denen er nichts wusste?
Angeekelt betrachtete er den Leichnam des unglückseligen Boten. Das Blut aus dessen eingeschlagenen Schädel tränkte den Teppich. Was hatte er noch gesagt? Eine Grenze wäre dort gewesen, die er nicht passieren konnte? Nun, er, Cornelius Morton, würde es können. Spätestens nach einer weiteren Injektion würde er die Jagd fortsetzen können.
Tief in seinem Inneren wusste er, dass er es nicht wollte, dass er Angst hatte. Angst vor dem, was ihm begegnen könnte. Angst vor Mächten, welche den seinen überlegen waren. Aber was konnte er sonst tun? Seine Männer noch weiter manipulieren, um sie wieder auf Marcs Spur zu setzen? Würden sie dann stärker werden, als er es wollte?

Das Geschöpf, von dem jener alte Knochen gestammt hatte, konnte nicht sehr stark gewesen sein, überlegte er, nachdem er sich die Spritze verabreicht hatte. Sonst würde sie ihm größere Fähigkeiten erlauben, aber die Grenze war erreicht.
Noch ahnte er weder, von welchem Wesen der Knochen gestammt hatte, noch dass seine unmittelbaren Ziele denen dieses Wesens immer ähnlicher wurden: Zu finden, wer auch immer diese DNA in sich trug.

Er würde gehen. Ja, er musste. Fünf seiner Männer würde er mitnehmen, sie würden als Schutz ausreichen. Und wenn er Marc hatte, brauchte er nur noch Marcel ...

Bis an die Zähne bewaffnet wechselten die sechs Männer in die Zwischenwelt, aber würden diese Waffen ausreichen? Hatten der Wirbelsturm und der nachfolgende Kampf Lynn endlich genügend erschöpft, um mit ihr fertig werden zu können? Es musste so sein, auch ihre Energie konnte nicht ewig währen.
John grinste, als sie den Ort des letzten Kampfes erreichten und er den Höhleneingang sah. Spitze Zähne waren kurz zu sehn, und seine Ohren drehten sich, um jeden Laut wahrzunehmen.

Weit entfernt, aber nicht zu weit, hob das Wesen den Kopf und nahm die Witterung auf. Es beschleunigte seine Schritte. Es gab nur wenig, wodurch es jetzt noch aufgehalten werden konnte.

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Kühle Luft empfing Marcs von der Anstrengung erhitzten Körper und ließ ihn frösteln. Staunend sah er sich in der Höhle um. Ein grandioses Gewölbe überspannte eine Art Vorraum, der in bläulichem Licht schimmerte.
Cynthia, noch immer unter den Nachwirkungen des ´Tornados` leidend, bewegte sich zaghaft und flüsterte: "Hier sind wir in Sicherheit. Lass mich bitte ein wenig ausruhen."
Marc führte sie zu einem großen, flachen Stein, der als Sitzgelegenheit in Frage kam. Das Mädchen ließ sich seufzend darauf nieder.
"Ob Lynn es wohl geschafft hat?" Marcs unsichere Stimme verriet deutlichen Zweifel.
"Das hoffe ich doch sehr. Ich mag sie nämlich." Cynthia lehnte sich entspannt an die glatte Felswand und fuhr fort: "Auch wenn sie ein wenig seltsam ist."
"Was meinst du damit?"
"Sie ist so anders, als all meine übrigen Schwestern." Gedankenverloren strich sie sich mit der Rechten über ihre faltige Wange. "Während die meisten von uns den schönen Künsten huldigen, also musizieren oder dichten, sieht Lynn sich alberne Filme der Menschen an und treibt sich in den Wäldern herum." Sie schüttelte verständnislos den Kopf. "Manchmal ist ihre Gegenwart sehr peinlich. Allein ihre Ausdrucksweise...".
Marc wollte dem Drang nachgeben, seine Hand auf ihre durchscheinende Schulter zu legen, um ihr ein wenig seiner verbliebenen Kraft zukommen zu lassen, unterließ diesen Impuls jedoch.
"Und doch fühle ich große Zuneigung zu ihr, die...", ihre Worte wurden von einem undefinierbaren Geräusch am Höhleneingang unterbrochen.
Lynn stolperte schwankend durch den Einlass, die linke Hand auf ihre verletzte Gesichtshälfte gepresst.

 
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„Sie müssen dort hinein sein“, sagte John und winkte seinen Kreaturen, vorzugehen. Aber ohne auf ein sichtbares Hindernis gestoßen zu sein, prallten sie zurück wie von einer unsichtbaren Glaswand.
„Dasch geh nich!“, murmelte einer, der früher Pieter geheißen hatte, undeutlich durch seine missgestalteten Kiefer.
„Das gibt es nicht!“ Ungeduldig drängte John die Meute zur Seite, um ebenso aufgehalten zu werden. Zornig fletschte er die Zähne und knurrte dumpf. Diese Grenze würde er nicht ohne Weiteres durchschreiten können. Aber wie hatte Marc sie überquert? Weil er mit der DNA geboren wurde, beantwortete er sich die Frage selbst.
„Musch en annen Wech geem, vielleich ...“, fügte Pieter hinzu.
„Unsinn!“, schnitt John ihm das Wort ab. „Wenn hier der Zugang zu irgendetwas ist, werden alle anderen Zugänge ebenso gesichert sein. Vorerst kriegen wir sie nicht. Aber irgendwann ...“ Er grinste bösartig, wobei etwas Speichel von seinen langen, gelblichen Fangzähnen tropfte. „Irgendwann kommen sie wieder heraus. Und dann ...“ Ein Geräusch ließ ihn herumfahren, es hatte geklungen, als wäre ein Baum umgefallen, aber er konnte nichts sehen. Prüfend hielt er die Nase in den Wind. „Falsch, ganz falsche Richtung!“, stellte er fest. Er würde einen Bogen schlagen müssen, um hinter das zu gelangen, was sich da mit Gewalt einen Weg durch den dichten Wald zu bahnen schien.
Ohne ein Wort zu seinen Jägern lief er los, in gleichmäßigem, federndem Wolfstrab. Sie würden ihm folgen, darüber brauchte er sich keine Gedanken zu machen.
Er war schnell, und so dauerte es nicht lang, bis der Wind günstig stand, aber die Witterung, die er jetzt aufnehmen konnte, ließ seine Nackenhaare sich sträuben. Unwillig schüttelte er den Kopf und wartete auf seine Kreaturen, die schwerfällig schnaufend zu ihm aufschlossen.
„Wir kehren zurück!“, sagte er nur. „Hier können wir im Moment nichts ausrichten.“ Dass er sich nur mühsam beherrschen konnte, um seine Angst, die sich dicht an der Grenze zur Panik bewegte, nicht sichtbar werden zu lassen, merkten seine Jäger nicht.

Erst in seinem Büro, als er endlich allein war, da die Sekretärinnen bereits nach Hause gegangen waren, konnte er seiner Wut und seiner Frustration freien Lauf lassen. Er warf den schweren Briefbeschwerer in hohem Bogen durchs offene Fenster hinaus, er zerfetzte Akten, und er spürte das Fremde in sich ... Am liebsten hätte er mit seinen Krallen das Lederpolster seines Stuhles zerschlitzt, aber er wagte nicht, in dieser Welt seine Gestalt anzunehmen.
Nach einer halben Stunde beruhigte er sich allmählich wieder. Es musste einen anderen Weg geben, und nach kurzem Nachdenken fiel er ihm auch ein: Marcel. Ihn musste er finden, dann würde er die Grenze in der Zwischenwelt passieren können. Er würde das Versteck der Wächterinnen aufspüren und vernichten, sie würden ihm Marc aushändigen, und eine würde er lange genug leben lassen, um ihm den Zugang zur jenseitigen Welt zu zeigen ...

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Pater Matthaeus wusste, dass er sich beeilen musste, ihm blieb nicht viel Zeit. Sehr bald schon würde dieser vorschriftenbewusste Pater Andreas zurückkehren, und er musste nicht unbedingt erfahren, in welchen Schriften Matthaeus suchte ... und vor allem nicht, was er suchte! Sie würden Marcel beanspruchen, ihn befragen, und vielleicht sogar einen Exorzisten hinzuziehen, um herauszufinden, wer oder was er war. Zwei seltsame Schriften, geschrieben in einer Dialektform des Althochdeutschen, hatte er bereits, aber etwas fehlte noch. Unchristliche Dinge waren darin beschrieben; über fremde Welten, bewohnt von finsteren Ungeheuern wurde berichtet, und dass es einen Weg dorthin gab. Aber die Niederschrift dieses Weges fehlte.
Manche der Kreaturen in diesen Schattenreichen waren genau beschrieben, unter anderem auch elfengleiche junge Frauen, ‚Wächterinnen’ genannt. Ihre unheiligen Kräfte und Künste sollten ihnen nicht anzusehen sein, aber sie waren den Schriften zufolge imstande, schreckliche Wesen heraufzubeschwören, um ihr Reich zu schützen.
Und auch so manche Details wurden genannt, die Pater Matthaeus mehr und mehr zu der Überzeugung gebracht hatten, dass es diese Schattenwelten geben musste.
Denn er kannte ein solches Wesen.

Marcel war ihm bereits aufgefallen, als er noch sehr jung war.
Über die Familie Pellart hatte er nie etwas Schlechtes gehört, es waren anständige Leute. Matthaeus musste es wissen, er war der Pastor der kleinen Gemeinde gewesen, in der sie gelebt hatten. Marcels Mutter war eine nervöse, eher unscheinbare Frau gewesen, sein Vater, ein Franzose, unterrichtete an der höheren Schule im Nachbarort.
Marcel war ihr einziges Kind, Gerüchten zufolge musste seine Mutter nach seiner Geburt operiert werden und konnte keine weiteren Kinder bekommen.
Und sie wurden mit Marcel nicht fertig, beide nicht. Der Junge tat nur, was er wollte, weder Bitten noch Strafen fruchteten etwas. Es machte ihm Spaß, andere zu ärgern, und mehr als einmal trieb er es zu weit, denn es handelte sich nicht um harmlose Bubenstreiche: Der Stall eines Bauern brannte seinetwegen ab, und ein Klassenkamerad stürzte seinetwegen von der Brücke in den Fluss. Seitdem saß er im Rollstuhl.
Pater Matthaeus sah ihn oft, da er ihm Nachhilfeunterricht gab. Aus irgendeinem Grund mochte er den Jungen, vielleicht wegen seiner überragenden Intelligenz. Marcel war seiner Meinung nach dazu bestimmt, etwas Großes zu vollbringen, aber er musste geformt werden.
Deshalb nahm er ihn zu sich, als seine Eltern starben.
Einbrecher wären es gewesen, hatte Marcel behauptet, und von dieser Aussage war er nie abgewichen. Zwei der Polizisten, die den Tatort damals gesehen hatten, waren viele Jahre lang danach in psychiatrischer Behandlung, da sie den Anblick nicht verkrafteten. Buchstäblich geschlachtet worden wären sie, hieß es damals, als hätte eine Horde Löwen sie zerfleischt. Jedenfalls wurden die Täter niemals gefasst.

Seitdem hatte Marcel bei Pater Matthaeus gelebt. Sicher, sie hatten Differenzen, aber Matthaeus glaubte an den Jungen. Und als er vor drei Jahren als Frucht seiner wissenschaftlichen Arbeiten nach Rom gerufen worden war, hatte er ihn mitgenommen.
Fünfzehn Jahre war er alt, kein Kind mehr, und auch noch kein Mann. Matthaeus erschien er wie ein Suchender, der seine eigene Identität erst finden musste, und ihn dabei zu begleiten, war keine leichte Aufgabe, war es nie gewesen.
Unbewusst fuhr Matthaeus sich mit der Hand über die linke Wange, die durch eine wulstige Narbe zweigeteilt wirkte. Wütend war Marcel geworden, als Matthaeus ihm vorwarf, seine Zukunft zu verspielen, wenn er nicht zur Schule ging. Die Bewegung war so schnell, dass er nicht hatte ausweichen können, er hatte Marcels Hand nicht kommen sehen. Wie mit einem Messer hatten die Nägel des Jungen seine Wange aufgeschlitzt, aber hinterher war kein Blut an ihnen gewesen.
Matthaeus schüttelte den Kopf. Es wurde spät, er hatte keine Zeit mehr. Besser war es, jetzt nach Hause zu gehen und sich um Marcel zu kümmern.

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„Oh Gott Lynn, was ist mit deinem Gesicht passiert?“ Cynthia lief auf ihre Schwester zu und legte stützend einen Arm um sie, als diese humpelnd die Höhle betrat.
„Komm, setz dich erst einmal hier auf den Stein.“
Lynn hatte nicht nur eine schwere Fleischwunde im Gesicht, sondern auch noch Kratzer und Prellungen an den Beinen. Die Wunde auf ihrer Wange sah schlimm aus und blutete stark. Aber es war kein gewöhnliches, rotes Blut, was Marc dort auf ihren Overal tropfen sah, sondern eine grünliche, fluoreszierende Flüssigkeit. Und dann tat Cynthia etwas, dass Marc erneut in pures Erstaunen versetzte, wie schon so oft in den letzten Tagen . Sie legte ihre Hand auf Lynns Verletzung und nahm wieder diese fast durchscheinende Konsistenz an. Ein gleisendes Licht ging von ihr aus, das nach und nach Lynns Kopf umschloss. Die ganze Prozedur dauerte ungefähr zwei Minuten, bevor Cynthias Körper langsam wieder an Substanz gewann, und sie schliesslich ihre Hand aus Lynns Gesicht nahm. Die Wunde hatte aufgehört zu nässen und war nun von einem grünlichen Schorf überzogen.
„Ich bin noch zu schwach, um die Verletzung ganz zu heilen“, sagte Cynthia und lehnte sich erschöpft an die Felswand.
„Aber zumindest ist sie geschlossen und blutet nicht mehr.“
„Danke Schwesterherz.“ Lynn drückte Cynthia einen dicken Kuss auf die Wange.
„Hey“, rief Marc. „Warum hast du das nicht auch mit meiner Schulter gemacht. Das hätte mir bestimmt ´ne Menge Schmerzen erspart.“
„Wir können das nur unter Unseresgleichen“, erklärte Lynn.
„Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du alles erfahren.“
„Aber wann ist denn die Zeit endlich gekommen?“, fragte er mürrisch.
„Ich will nicht ständig von euch vertröstet werden.“
„Im Moment sind wir hier erst einmal sicher“, überging Lynn Marcs Einwurf.
„Die Männer aus dem Hubschrauber sind alle tot. Und falls es weitere Verfolger geben sollte, so werden sie die Grenze nicht passieren können, ich habe das ´Tor´ wieder geschlossen. Wir werden die Nacht hier verbringen, wir haben alle etwas Ruhe nötig, besonders du, Cynthia.“
Der Angesprochenen sah man die Erschöpfung wirklich an. Sie war blass wie eine Wand.
„Wir werden uns dort hinten hinlegen.“ Lynn zeigte auf den dunklen Hintergrund der Höhle, der sich auf einmal erhellte und den Blick auf einen kleinen See und moosbewachsene, flache Felsen freigab.

Nur wenig später waren Lynn und Cynthia fest eingeschlafen, doch Marc konnte einfach keine Ruhe finden. Nicht, dass ihn seine Schulterverletzung daran gehindert hätte, die war mittlerweile erstaunlich gut geheilt, nein, es waren einfach die vielen seltsamen Ereignisse, die innerhalb kürzester Zeit auf ihn eingestürzt waren. Wieder musste er an seine Familie denken, die er nun nie mehr wieder sehen würde. Gedankenverloren spielte er an dem Anhänger seiner goldenen Halskette, den ihm Dad noch am Abend vor dem Brand geschenkt hatte. Es war das Symbol ihrer beider Sternzeichen. Dad hatte diesen damals von seinem eigenen Vater bekommen.
Auf einmal bemerkte Marc, dass eine unheimliche Hitze von dem Anhänger ausging. Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz fest. Plötzlich spürte er, so stark wie noch nie zuvor, die Anwesenheit seines Vaters. Er öffnete die Augen und blickte in dessen vertrautes Gesicht. Marc lag in seinem Zimmer, in seinem eigenen Bett. Alles war wie immer, so vertraut. An der gegenüberliegenden Wand schlief Ellie in ihrem Kinderbett, den abgewetzten Kuschelhasen, ohne den sie nirgens hinging, fest im Arm. Marcs Vater sass neben seinem Sohn auf der Bettkante und nahm dessen Hand in die Seine.
„Hier, mein Sohn, das wollte ich dir schon lange schenken.“ Er legte einen kleinen, goldenen Krebsanhänger in Marcs Hand. „Mein Vater hat ihn mir einmal geschenkt, als ich ungefähr in deinem Alter war und mich aufgefordert, ihn später an meinen Sohn weiterzugeben.“
„Dad, der ist wunderschön, vielen Dank.“ Mark umarmte seinen Vater.
„Kannst Du mir helfen, ich will ihn gleich an meiner Kette befestigen.“
Noch einmal nahm Marc seinen Vater ganz fest in die Arme und flüsterte:
„Ich hab dich lieb“.

„Marc, Marc, was ist los mit dir?“ Marc fühlte, wie jemand seinen Arm schüttelte. Unendlich langsam öffnete er die Augen. Da war Lynn über ihm – und nicht sein Dad. Aber er hatte ihn doch ganz deutlich gesehen und gespürt.
Als er Lynn erzählte, was er erlebt hatte, sah diese ihn nur wissend an.
„Ich denke, die Zeit ist nun gekommen, dich über alles aufzuklären, vor allen Dingen sollst du von deiner besonderen Gabe erfahren.“
Und dann begann Lynn mit leiser Stimme zu reden.

 
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Marcel war nicht zuhause.
Pater Matthaeus seufzte. Er hatte immer sein Möglichstes getan, um den Jungen zu verbergen, vor allem, seit ihnen eine Wohnung im Vatikan zugeteilt worden war. Sicher, für ihn selbst war das angenehm, da er nun keine weiten Wege mehr zurückzulegen hatte, um in die Bibliothek zu gelangen; aber so kritisch er bezüglich der Kompetenz mancher der hier arbeitenden Geistlichen war, so wusste er andererseits sehr gut, dass es unter ihnen einige gab, die tiefer blicken konnten. Und er legte keinen Wert darauf, dass jemand das Besondere in Marcels Augen entdeckte.
Zum ersten Mal hatte er es gesehen, als Marcel zehn Jahre alt war. Matthaeus war in den frühen Morgenstunden aufgewacht und hatte den Jungen stöhnen gehört, offensichtlich hatte er einen Alptraum. Leise öffnete er die Zimmertür; das aus dem Flur hereinfallende Licht ließ ihn erkennen, dass Marcel sich unruhig hin und her wälzte. Plötzlich schlug er die Augen auf. Matthaeus bildete es sich nicht ein, obwohl er für lange Zeit versuchen würde, sich das einzureden: Für einen Moment glühten die Augen des Jungen wie Kohlen. Es war nicht länger als für die Dauer eines Atemzuges, dann klärte Marcels Blick sich. „Was ist, Pater?“, hatte er gefragt.
Das war das erste, aber nicht das einzige Mal gewesen.
Seitdem hatte Matthaeus Angst. Angst davor, was passieren könnte, wenn jemand dieses Glühen sah, und Angst vor dem, was Marcel tun könnte. Tief in seinem Inneren glaubte Matthaeus schon lange nicht mehr daran, dass Einbrecher die Eltern des Kindes hingemetzelt hatten – aber sicher wusste er nichts.
Seine Gedanken wanderten zurück zu den ersten Hinweisen, die er über Marcels mögliche Verbindung zu einer anderen Welt erhalten hatte. Er sollte althochdeutsche Schriften ins Lateinische übersetzen, in denen über merkwürdige Vorkommnisse berichtet wurde, die näher untersucht werden sollten, um festzustellen, ob es sich um Wunder gehandelt haben könnte. In diesen Schriften wurden andere Aufzeichnungen erwähnt – Matthaeus suchte lange in den versteckten Winkeln der Bibliothek, und er fand sie, zumindest zwei davon.
Nachdem er sie entziffert hatte, verbarg er sie sorgfältig: Er wollte sie weder übersetzen, noch wollte er, dass jemand sie zu Gesicht bekam – das Risiko für Marcel wäre zu groß gewesen.

Jahrelang hatte er ihn selbst unterrichtet, aber um studieren zu können, musste Marcel auf eine staatlich anerkannte Schule gehen. Die Aufnahmeprüfung hatte er problemlos bewältigt, aber er hatte von da an mehr Freiheit, die er zu nutzen wusste. Er fand Freunde.
Matthaeus runzelte die Stirn, als er an sie dachte. Zwielichtige Gestalten waren sie in seinen Augen, die nicht nur Alkohol konsumierten. Von den Drogen hatte Marcel ihm in einem unbedachten Moment erzählt, er hatte sich versprochen.
Zu der Zeit begann Marcel, immer später nach Hause zu kommen, und Matthaeus sah die Zeit kommen, zu der er endgültig die Kontrolle verlieren würde.
Und eines Morgens las er in der Zeitung über drei tote Drogendealer. Sie waren nicht erschossen worden, auch ein Messer wurde als Tatwaffe ausgeschlossen, aber die Gerichtsmedizin konnte nicht klären, mit was für einem Werkzeug den Männern ihre tödlichen Verletzungen zugefügt worden waren.

Matthaeus setzte sich in das kleine Wohnzimmer. Er würde warten, wie er immer wartete. Er musste Marcel sehen, wenn er nach Hause kam, musste sich vergewissern, dass das Glühen nicht zu sehen war.

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Marcel war unruhig. Unruhig und nervös, als ob er etwas zu erledigen hätte, ihm aber entfallen wäre, was es sein könnte.
Wie an vielen Abenden saß er in einer kleinen Kneipe und beobachtete die Menschen um sich herum. Er grinste in sich hinein: Er konnte unbesorgt auch um Mitternacht noch hier sitzen, denn niemand käme auf die Idee, dass er erst fünfzehn war; mit dem schmalen Schnurrbart und dem gepflegten Kinnbart wirkte er eher wie zwanzig, niemand würde ihn nach seinem Alter fragen.
„Darf ich mich setzen?“
Marcel wandte nicht den Kopf, deutete nur gelangweilt auf den leeren Stuhl neben sich.
„Hallo Marcel!“
Er fuhr zusammen. „Wie bitte?“
Der Mann lächelte ihn an. „Ich sagte: Hallo Marcel!“
Marcel musterte ihn misstrauisch. Der Fremde mochte Mitte Vierzig sein, mittelgroß, von schlanker Statur, aber breitschultrig. „Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Ich kenne dich, weil ich dich gesucht habe. Mein Name ist Cornelius Morton, aber meist werde ich John genannt.“
„Und was wollen Sie von mir?“
„Das ist schwer in wenigen Sätzen zu erklären. Ich weiß einiges über dich, und manches davon weißt du selbst noch nicht. Und ich würde dir gerne etwas zeigen, etwas, was sehr viel mit dir zu tun hat, und mit dem, was du bist.“

 
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„Nun, Marc, wie ich bereits schon einmal sagte, existiert manches, was man nicht auf den ersten Blick sieht.“ Lynn zog ihn sanft mit sich, am Ufer entlang zum hinteren Teil des Sees, um Cynthias dringend benötigten Schlaf nicht zu stören.
„Es gibt drei Welten, die mir bekannt sind. Da ist zunächst einmal die der Menschen, in der du aufgewachsen bist. Parallel dazu existieren eine Zwischenwelt, meine Heimat, in deren verlängerten Eingangsbereich wir uns hier befinden und noch eine dritte, jenseitige Welt, auf die ich später noch genauer eingehen werde. Nun, lass mich mit dem Wichtigsten beginnen, nämlich: Wer oder was bist Du wirklich?"
Lynn berichtete mit leiser Stimme von Verknüpfungen in der Vergangenheit, die zu den Vorkommnissen der letzten Tage geführt hatten. Marc lauschte ihren Worten und fühlte sich wie in einem Traum, aus dem er bald erwachen würde. Zu unfassbar war das, was sie ihm über Johns Versuche erzählte und über dessen Bestreben, in die jenseitige Welt zu gelangen, um unendliche Macht zu erlangen.
„Warum um alles in der Welt lasst ihr diesen Verrückten gewähren?“, fragte der Junge entsetzt.
„Weil uns bislang die Hände gebunden waren. Der Kodex der Wächterinnen hindert uns daran, primäre Gewalt anzuwenden. Soll heißen, ich kann nicht wie ein Terminator losziehen und John einfach umlegen. Solcherlei Vorgehensweise ist uns verboten. Wir können lediglich schützend und bewachend eingreifen, vergleichbar mit Notwehr." Marcs skeptischer Gesichtsausdruck erinnerte sie daran, dass sie sich nicht immer an den Kodex hielt. Ertappt!
"Naja, Notwehr ist, wie so vieles, Auslegungssache. Ich entscheide ganz allein für mich, wann ich mich angegriffen fühle. Meine Schwestern neigen dazu, Schwierigkeiten zu lange auszudiskutieren, weshalb ich im Wald beinahe zu spät gekommen wäre. Sie hielten Johns Bemühungen für harmlos. Doch nun ist er hinter dir her und das wirft ein neues Licht auf die Angelegenheit.“ Sie beobachtete aufmerksam jede seiner Regungen.
„Das mit dem Versuch habe ich noch nicht ganz verstanden. Was hat denn dieses Genom bei mir nun eigentlich ausgelöst?“
„Hm ... Es hat dich verändert und das weißt du auch.“
Marc rang mit einem Sturm von Gefühlen, der seine bisherige Sicht der Welt kräftig durcheinander wirbelte. Er fürchtete, ins Bodenlose zu stürzen.
„Keine Angst, Marc. Wir werden dir helfen, das Chaos zu ordnen. Zunächst solltest du dich jedoch überwinden und dich deiner zweiten Erscheinungsform stellen.“
Sie forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, an den Rand des Sees zu treten. Marc zögerte.
"Ich kann nicht." Die Angst vor dem, was er tief in seinem Innern wusste, war übergroß.
"Du musst dich deiner wahren Bestimmung stellen", drängte die Wächterin, doch der Junge schüttelte nur hilflos den Kopf.
"Vielleicht wird dir das hier helfen", sprach sie und nestelte an einer Schnur an ihrem Hals. Flinke Finger zauberten eine gekrümmte Kralle hervor, die an hauchdünnen, verseilten Lianen befestigt war.
"Mein Talisman. War Teil eines deiner Verwandten." Grinsend drückte sie ihm das scheußliche Objekt in die rechte Hand. Beinahe augenblicklich erschien ein Bild vor seinem inneren Auge, das sich auf ewig in seine Erinnerung einbrannte. Dieses Ungeheuer schien einem Alptraum entsprungen zu sein. Der dichte Pelz, der den Körper bedeckte und das grauenvolle Raubtiergebiss ließen Ähnlichkeiten mit einem Wolf erkennen. Doch selbst ein Werwolf, wie Marc ihn aus diversen Filmen kannte, schien ein Lämmchen zu sein gegenüber dieser kraftvollen, animalischen Bestie, deren scharfe Klauen geeignet waren, mühelos Rinde von Bäumen abzuschälen. An einer der Klauen fehlte etwas...
Marc ließ die Kralle fallen, als wäre sie eine glühende Kohle.
„Oh, mein Gott!“, entfuhr es ihm. „Werde ich jetzt so, wie dieses schreckliche Etwas, das neben dir erschien?“
Lynn legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Nein, nein. Dieses `Etwas` ist nichts anderes, als die gesammelte negative Energie von mir und meinen Schwestern. Wie soll ich dir das am Besten erklären?“ Sie überlegte, suchte nach Worten. „Es ist ähnlich, wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die kennst du doch?“
Marc nickte.
„Wir haben unseren bösen Gefühlen und Gedanken eine Gestalt gegeben. Menschen leben meist ihre dunklen Seiten aus, bauen so Aggressionen ab. Das können wir nicht, da wir uns dazu verpflichtet fühlen, gut und friedlich zu sein. Deshalb haben wir eine Art ´Wut-Tier` erschaffen, das unsere Schlechtigkeiten in sich aufnimmt. Etwas von uns Abgespaltenes, das wir mit Hass, Wut und Neid füttern, und das eingesperrt durch unseren Willen unter Kontrolle bleibt. Es ist aber äußerst gefährlich. Du kennst doch den Ausdruck: ´seiner Wut freien Lauf lassen`?“
Wieder stimmte der Junge zu.
"Unbeherrschte Wut richtet sich möglicherweise gegen einen selbst. Die eigene Schwäche wird dann zum Verhängnis. Mehrmals in der Vergangenheit haben Wächterinnen die negative Gewalt, die sie aus ihrem Gefängnis entließen, unterschätzt. Ich kenne die Gefahr und kann das Böse deshalb besser beherrschen als andere, weil ich nie die Augen davor verschloss."
Marc starrte noch immer auf die Kralle, unfähig sich zu rühren.
„Aber keine Angst, Marc. Du bist etwas völlig anderes. Ein Wesen mit verblüffenden Fähigkeiten, die in dir schlummern und nur darauf warten, geweckt zu werden. Und nun leg dich hin und versuche, zu schlafen. Wir müssen in wenigen Stunden weiter.“ Lynn bückte sich, nahm ihren Talisman wieder an sich und zog sich leise zurück.

Marc war zu aufgewühlt, um sich sofort zu seiner Bettstatt zu begeben. Neugierig und mit pochendem Herzen trat er dicht an den Rand des Sees. Staunend starrte er auf sein Gegenüber. Das Bild, das ihm die spiegelnde Wasseroberfläche offenbarte, unterschied sich grundlegend von dem ihm bisher vertrauten, sowie von dem eben `gesehenen`. Marcs zweite Erscheinung zeigte einen ungemein sympathischen, durchtrainierten jungen Mann mit schlanken, schönen Händen und blendend weißen Zähnen. Seine überdurchschnittliche Körpergröße und die Muskeln, die sich unter dem nun knapp sitzenden T-Shirt abzeichneten, gefielen Marc auf Anhieb. Mit solch einem Aussehen konnte er sich ohne Probleme anfreunden.
"Angenehme Nachtruhe", flüsterte er lächelnd sich selbst zu.

 
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Spöttisch zog Marcel die Augenbrauen hoch. „Und was, bitte, könnte das sein? Ich denke, ich weiß sehr gut, wer ich bin.“
„Dann lass hören – was bist du?“
Marcel schüttelte unwillig den Kopf. „Was soll das jetzt? Was wollen Sie von mir?“
„Nichts, was du nicht selbst ebenfalls willst. Und jetzt sag mir, was du bist – sofern du es überhaupt weißt! Dass du fast sechzehn bist, am sechsten Mai Geburtstag hast, in Deutschland geboren und hier bei einem Pater Matthaeus lebst – das weiß ich alles. Aber ist es nicht so, dass du manchmal, vor allem, wenn du wütend bist, Dinge tust, die du sonst nicht tun könntest? Und die jemand anderes nicht tun könnte? Veränderst du dich nicht manchmal?“ John wagte sich auf dünnes Eis, aber er musste es versuchen, wollte er herausfinden, über welche Fähigkeiten der Junge verfügte.
Marcel starrte ihn an. „Ja“, sagte er langsam. „Da ist was dran. Aber woher wissen Sie so viel über mich?“
„Das will ich dir erzählen, und darum bin ich hier. Aber du kannst mich ruhig duzen und John nennen, wir sind nämlich verwandt – wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne.“ Er konzentrierte sich, um bei seinem Grinsen einen Fangzahn aufblitzen zu lassen.

Innerhalb der nächsten halben Stunde erzählte John Marcel alles, was er über die drei Welten wusste, über den Knochen, seine Experimente und das Schriftstück, welches er in den Klosterruinen gefunden hatte. Er sagte auch, dass er einige einflussreiche Menschen im Vatikan bestochen hatte, um den Aufenthaltsort von Pater Matthaeus herauszubekommen. Das war es ihm wert gewesen.
Marcels Augen begannen zu leuchten, als er von der Möglichkeit hörte, durch die Unterwerfung der jenseitigen Welt absolute Macht zu erlangen, und er verstand, warum der Besitz der fehlenden sechs Schriftstücke so wichtig war. Und dass sie dafür Marcs habhaft werden mussten.

„Marcel ...“ John sah den Jungen scharf an. „Wie viel weiß dein Pater Matthaeus ?“
Marcel zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich vermute, dass er zumindest etwas ahnt – er hat herausgefunden, dass meine Eltern nicht von Einbrechern getötet wurden, und einmal habe ich ihm gegenüber die Beherrschung verloren. Und soviel ich weiß, hat er in der Bibliothek etwas gesucht, aber er hat nie darüber erzählt.“
John nickte. „Wir werden ihn befragen!“
Marcel runzelte die Stirn, aber dann verstand er.

Als Pater Matthaeus am nächsten Tag um sechzehn Uhr in die Wohnung kam, wurde er bereits erwartet. Schneller, als er realisieren konnte, was vorging, saß er bereits gefesselt auf einem Stuhl. Nur kurz hatte er versucht, sich zu wehren, woraufhin sein aufgeschlitztes Hemd sich zunehmend mit Blut vollsog. Marcel war so aufgeregt, dass er sich beherrschen musste, um sein äußeres Erscheinungsbild nicht vollständig aufzugeben.
John beobachtete ihn zunehmend fasziniert. Nie hätte er sich vorstellen können, dass dieses Gen sich in angeborener Form so stark durchsetzen konnte, und er grübelte, welche Fähigkeiten Marc haben mochte.
Matthaeus erwies sich als wenig mitteilungsfreudig; der vierte gebrochene Finger bewog ihn jedoch dazu, über die von ihm in der Bibliothek gefundenen Schriften Auskunft zu geben, und den vollständigen Inhalt verriet er, als sein linkes Auge ihn vom Tisch aus anstarrte. Danach ging es sehr schnell. Zwar bedauerte John, der Wut über seine Enttäuschung zu schnell nachgegeben und dem Pater kurzerhand das Genick gebrochen zu haben, statt seiner Lust am Quälen mehr Raum zuzugestehen; andererseits wollte er keine Zeit mehr verlieren.

Noch am gleichen Abend flogen sie nach Deutschland. Marcel drängte darauf, sofort in die Zwischenwelt zu wechseln, aber John weigerte sich: Unter keinen Umständen wollte er sich den dort lebenden Geschöpfen bei Nacht stellen.
So unauffällig, wie es ihm möglich war, beobachtete John den Jungen. Nur kurz hatte Marcel ihn während der Befragung andeutungsweise seine wahre Gestalt erkennen lassen, und er brannte darauf, ihn in der ihm zustehenden Welt zu erleben, wenn keine Zwänge ihn und seine Kräfte mehr behindern würden.
Auf eine seltsame Art war Marcel ihm ähnlich: Wie er kannte er kein Mitleid, empfand eine sinnliche Lust bei jeder Form von Grausamkeiten und gierte nach Macht. Und dadurch hatte John ihn in der Hand, denn ohne ihn würde Marcel nur schwerlich die Möglichkeit bekommen, sein wahres Naturell auszuleben. Diese Möglichkeit würde John ihm auch nicht einräumen, aber das musste der Junge jetzt noch nicht wissen. Vorerst brauchte John ihn, um Marc zu fassen, die Wächterinnen zu vernichten und die jenseitige Welt zu unterwerfen. Danach hätten beide Jungen ihren Zweck erfüllt und konnten eliminiert werden.

Nach dem Frühstück, bei dem Marcel auf Brötchen und Marmelade verzichtete und statt dessen lieber seine Zähne in ein halbblutiges Stück Steak schlug, bewaffneten sie sich. Mehrere Messer, Schusswaffen und ausreichend Munition gaben John ein Gefühl der Sicherheit; den Gedanken an Kräfte, denen er mit derartiger Verteidigung nicht gewachsen sein könnte, verdrängte er. Er erzählte Marcel auch nichts weiter über die Wächterinnen und welche Kräfte diese einsetzen konnten, da er hoffte, dass der Junge ihnen überlegen war.

Sie wechselten an der gleichen Stelle in die Zwischenwelt, an der John bei seinem letzten Versuch die Verfolgung von Marc hatte aufgeben müssen: An der unsichtbaren Grenze.
Marcels Aussehen veränderte sich drastisch. Er wurde nicht größer, aber sowohl seine Schulterbreite, als auch sein Brustumfang nahmen in einer Weise zu, dass die Knöpfe seines Hemdes nachgeben mussten, seine Arme wurden etwas länger und überzogen sich mit rötlich-braunem Fell. Seine Fingernägeln mutierten endgültig zu Klauen und seine Eckzähne wurden so lang, dass sie über seine Lefzen hinausragten. Buschige, vorspringende Brauen beschatteten seine tiefliegenden, rötlich glühenden Augen, in deren Ausdruck keine Menschlichkeit mehr zu finden war.
John grinste zufrieden: Mit dieser Begleitung würden die Wächterinnen nicht rechnen, und er freute sich darauf, ihnen eine Überraschung zu bereiten, die sie nie wieder vergessen würden.

Im ersten Moment prallte auch Marcel von der Grenze zurück, aber der ihm eigene Jähzorn verlieh ihm die notwendige Kraft, um sie zu überwinden und John mitzunehmen.
„Da hinein?“, fragte er und deutete auf das Höhlenportal.
„Ja, da hinein“, bestätigte John.
Die Jagd konnte beginnen.

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Als sich Marc einige Stunden ausgeruht hatte, war er leise aufgestanden, um die dösenden Wächterinnen nicht zu wecken. Er war gebannt von der Schönheit und Farbenpracht der Höhle. Sonnenstrahlen durchdrangen unzählige, faustgroße Löcher, berührten den See und den Steinboden und ließen sie in allen Farben schillern. Die Decke leuchtete in einem intensiven Blau und Marc durchschritt langsam, staunend das riesige Gewölbe.
Er sah auch in den Nischen riesige Sonnenblätter, von denen er sich ein paar genommen hatte und die ihn über Nacht gewärmt hatten.

Lynn war schon eine ganze Weile wach, da ihre schmerzenden Wunden sie geweckt hatten. Ihre Kräfte waren noch nicht vollständig zurückgekehrt und sie fühlte sich schwach.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Cynthia sich aufgesetzt hatte. Sie sah auch nicht besser aus, als vor ein paar Stunden. Zwar waren die Falten verschwunden, aber die dunklen Ringe unter ihren Augen sagten alles. Mit zitternden Händen legte sie die vom Vorabend gepflückten Sonnenblätter, mit denen sie sich zugedeckt hatte, zur Seite.

Lynn schreckte aus ihren Gedanken auf. Irgendetwas stimmte nicht. Sie waren in Gefahr. Sie war sicher, dass John wieder zurückgekommen war. Doch hatte er jetzt einen Weg gefunden, die Grenze zu überqueren? Wenn ja, hatten sie nicht viel Zeit.
Sie blickten sich an und Cynthia nickte unmerklich. Mühsam erhoben sie sich von ihrem harten Lager und packten hastig ihre Habseligkeiten zusammen.

„Wir müssen gehen, Marc“, rief Lynn und winkte ihn zu sich. Zu gerne wäre er noch geblieben, hätte Fragen gestellt, wie so eine Höhle entstehen konnte. Doch das hektische Flackern in Lynns Augen, das ihm nicht verborgen blieb, ließ ihn herbei eilen.
Auf dem Weg durch das Höhlenlabyrinth löcherte Marc die beiden Wächterinnen mit Fragen.
„Cynthia, wie hast du das mit dem Tornado gemacht?“, fragte Marc, während er sich an der Wand entlang tastete. „Nun ja“, murmelte Cynthia, die vor ihm ging. „Jeder, der in oder aus der Zwischenwelt kommt, hat die Gabe, sich Elemente zu Nutze zu machen. Ich beherrsche eben den Wind. Aber nur für kurze Zeit, denn sie haben auch ihren eigenen Willen und können sich schnell gegen einen selbst stellen, wenn man sie zu lange benutzt. Außerdem nehmen sie dir eine Menge Kraft, wie du ja gesehen hast.“
„Habe ich auch so eine Gabe?“ fragte Marc neugierig.
„Das wissen wir nicht. Wir werden noch sehen, was in dir steckt, Marc“, Brummte Lynn und stockte. „Wir sollten uns beeilen“, rief sie, als sie ein weit entferntes Brüllen vernahm. „Ist das John?“, ängstigte sich Marc und stoppte. „Keine Sorge, Marc, geh einfach. So schnell bekommen sie uns nicht“, flüsterte Lynn und schob ihn weiter. Hastig führte Cynthia sie sicher durch das große Höhlenlabyrinth.

Zusammen verließen sie die Höhle durch ein weiteres Tor und Marc hielt erstaunt inne, als er sah, was vor ihnen lag.
Vor dem Tor befand sich nur ein Sims von zwei Metern Breite, worauf die drei kaum Platz fanden. Marc presste sich an die Wand und ihm wurde übel, als er hinab sah. Unendlich tief schien der Abgrund zu sein. Er konnte die Baumspitzen dort unten nur erahnen. Auf der anderen Seite der Schlucht war ein schmaler Weg zu sehen, der in einen kleinen Hain führte.
Marc schwindelte und er presste sich noch enger an die Wand. „Keine Angst, Marc, wir bringen dich heile hinüber“, flüsterte Lynn beruhigend.
Sie ließ den Blick kurz über die Schlucht schweifen und drehte sich schließlich um. Mit einer schnellen Handbewegung ließ sie das Tor zu Fels werden, so dass man keinen Unterschied zur übrigen Wand erkennen konnte. Langsam strich Lynn über den kalten Stein und murmelte unverständliche Worte. Eiskristalle bildeten sich unter ihren Händen und breiteten sich blitzschnell über die Wand aus und erstarrten zu einem unwirklichen Gebilde, das so hart und kalt war, wie Stahl. Das würde die Verfolger noch ein wenig mehr aufhalten.

Marc presste sich noch enger an die Eiswand. Er war der Panik nahe, denn er hatte schon immer an Höhenangst gelitten. Es gab nur diese Schlucht, diesen schmalen Sims und keinen Weg hinüber. Übelkeit überkam Marc und er versuchte krampfhaft den Brechreiz zu unterdrücken. Cynthia strich ihm über den Arm und er merkte, wie er durch diese Berührung ruhiger wurde. „Wie kommen wir dort hinüber?“, fragte er und ließ den Blick irritiert umher schweifen.
„Konzentriere dich, Marc, dann siehst du es“, belehrte Lynn ihn und trat einen Schritt ins Nichts. Marc schrie auf, denn er glaubte, Lynn ins Bodenlose stürzen zu sehen, doch sie stand immer noch vor ihm, in der Luft, ohne Halt.
Cynthia lächelte Marc verschmitzt zu und trat auch einen Schritt vor. Marc versuchte sich zu konzentrieren und über der vermeintlichen unüberwindbaren Schlucht begann die Luft zu flimmern und er sah, wie sich eine lange Hängebrücke zur anderen Seite spannte.
Marc blinzelte ungläubig und musste nun auch lachen angesichts des Schabernacks, den Lynn und Cynthia mit ihm getrieben hatten.
Grinsend und in Gedanken ging er ein Schritt vor. Panisch schreiend fiel er ins Bodenlose. Doch bevor er in den Abgrund stürzen konnte, packten ihn die Wächterinnen im letzten Moment an den Armen und zogen ihn zu sich hinauf.
„Verdammt, Marc! Ich habe gesagt, du sollst dich konzentrieren!“, schimpfte Lynn laut und verbarg somit ihren Schreck.
Zitternd krallte sich Marc an Cynthias Overall fest und schob Panik und alle anderen Gedanken endgültig beiseite. Die Brücke war wieder da und er stand fest mir beiden Beinen auf ihr. Sie hatten die Hälfte der Brücke hinter sich gebracht, als sie zum zweiten Male ein wütendes Brüllen hinter sich hörten.
Lynn drehte sich um und ihre Besorgnis wuchs.

Lange würde das Tor nicht mehr halten. Schnell schob sie Marc weiter: “Geht so schnell wie möglich über die Brücke und wartet dort auf mich.“ Marc wollte protestieren, doch Cynthia riss ihn mit sich und sie rannten über die stark schwankende Brücke zum Waldrand und drehten sich um. „Halte die Brücke in deiner Vorstellung fest. Lynn braucht uns jetzt“, rief Cynthia, während sie sich schwer atmend auf ihn stützte

Lynn stand währenddessen breitbeinig in der Mitte der Brücke und sammelte ihre Kräfte. Sie wusste, es konnte nur John sein, der sie verfolgte. Doch es war ihr ein Rätsel, wie er durch das Tor gekommen war. In die Zwischenwelt konnte er immer schon wechseln, nur die Grenze vor dem Portal zu den Höhlen konnte er alleine nicht überwinden.
John hatte sich Hilfe geholt, das war klar, aber wen? Sie konnte das zweite Wesen mit ihren ausgeprägten Sinnen nicht erfassen. Sie wußte nur, er war noch gefährlicher für Marc, als dieser John.

Das Bersten des Tores, das sie mit einem Eisschutz belegt hatte, unterbrach ihre Überlegungen und sie konzentrierte sich nur noch darauf, die beiden Gestalten, die durch das Tor drangen, zurückzuhalten.
Viel konnte sie hier nicht bewirken. Sie war noch viel zu geschwächt, um sich auf einen offenen Kampf einzulassen, doch es gab immerhin jemanden, der ihr helfen konnte.

Lynn schloss die Augen und fing mit glockenheller Stimme in einer fremden Sprache zu singen an. Erst leise, dann immer lauter. Ihr Körper glänzte in der Sonne, wurde durchscheinender und nahm immer mehr eine rotgoldene Farbe an, je lauter sie sang.

Ein Schrei der von den Wänden widerhallte, durchdrang die Stille. Lautes Flügelschlagen wurde hörbar und Lynn verstummte. Sie drehte sich zu Seite und schaute über die Schlucht, wo ein riesiger Vogel, wie in Feuer getaucht, auf sie zusteuerte und sie ein paar Mal umkreiste. Goldrote Augen blitzten Lynn vertraut an und auf ein Zeichen von ihr segelte der Phönix in seiner rotgoldenen Pracht auf die beiden Verfolger zu. Mit seinem spitzen Schnabel und seinen scharfen Krallen versuchte er, die beiden Männer zu attackieren.

Lynn humpelte so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone, über die Brücke auf Marc und Cynthia zu. Hastig eilten sie durch den Hain und auf Marcs Frage hin, wie der Phönix denn zu besiegen sei, meinte Lynn nur mit einem verschmitzten Lächeln: “Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Mit einem leisen Lachen umrundeten die drei einen großen Felsen und standen schließlich vor der Siedlung der Wächterinnen.

 
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Marc bestaunte fasziniert die Senke, die vor ihnen lag. Er war wie paralysiert, unfähig sich zu bewegen. Der Blick vom Rand dieses runden Kraters hinab ins Tal zu einem kleinen See war überwältigend. Üppige Vegetation bezeugte, dass aus dem Schlot des Vulkans schon seit Äonen kein geschmolzenes Gestein mehr an die Erdoberfläche gelangt war, lediglich die Struktur einiger verstreut liegender Lavabrocken wies auf Aktivitäten des Berges vor sehr langer Zeit hin. Die Siedlung bestand hauptsächlich aus locker verteilten, sandfarbenen Pavillon-Zelten, deren bunte Dächer weithin leuchteten. Ein großes, hellgrünes Gebäude aus Holz bildete das Zentrum der an sanft abfallender Kraterwand ansässigen Gemeinschaft. Warme Luft, die erfüllt war vom leisen Klang überirdisch schöner Stimmen umschmeichelte die drei wartenden Ankömmlinge und wirkte wie Balsam auf ihren angespannten Nerven. Dieser Ort strahlte vollkommene Ruhe aus. Eintauchen, sich dem Übermaß an Euphorie hingeben und alles Böse hinter sich lassen. Seelenfrieden finden. Marc drohte, in eine Art von geistigem Dämmerzustand abzugleiten, als er unsanft in die Wirklichkeit zurück geholt wurde. Cynthia zog ihn mit sich auf fünf Wächterinnen zu, die ihnen entgegen kamen. Auf halbem Weg trafen die beiden Grüppchen aufeinander, sich mehrmals höflich verbeugend.

„Die Heilerinnen stehen im Versammlungshaus bereit.“ Die Wächterin, die das sagte, schien die Sprecherin der Gruppe zu sein. Sie wandte sich direkt an Lynn. `Musstest du ihn hierher bringen? Das wird nicht ohne Folgen bleiben.`
Marc war sich sicher, dass sie bei den beiden letzten Sätzen die Lippen nicht bewegt hatte.
"Danke, Gwendolyn", entgegnete Lynn, "und sprich ruhig aus, was du sagen möchtest", mit einem breiten Lächeln: "er kann dich `hören`."
Die Blicke der Frauen ruhten teils bewundernd, teils skeptisch auf dem Jungen, der sie deutlich überragte. Marc kam sich vor wie ein Ausstellungsstück, das gleich versteigert werden sollte.
„Wir sind sicher, man hätte die Angelegenheit friedlicher regeln können", säuselte Gwen vorwurfsvoll, während die anderen Vier wie Tonfiguren daneben standen.
„Wie friedlich?“ Lynn legte den Kopf schief. „Hätte ich die Gestalten wegstreicheln sollen?“ Ihre Augenfarbe wechselte von gold- zu dunkelgrün.
„Dein Zynismus passt nicht hierher“, entgegnete die andere mit mildem Gesichtsausdruck. „Du siehst in allem zuviel Böses.“
„Und ihr nur das Gute. Es gibt Dinge, die sich eben nicht mit schönen Worten und Gesang aus der Welt schaffen lassen.“ Marc spürte, wie Lynn langsam die Beherrschung verlor.
"Manch einer unterschätzt die Macht der Vernunft. Dein Mangel an diplomatischem Geschick lässt immer wieder Situationen entstehen, die wir nicht gutheißen können. Aufgrund deiner Einmischung sind Dinge geschehen, deren Auswirkungen eine Gefahr für uns alle bedeuten." Gwens tadelnder Blick kam einer offenen Schuldzuweisung gleich.
„Ich geh mal kurz das Tier füttern“, presste Lynn zwischen zusammengebissenen Zähnen leise hervor. Trotzig drehte sie sich um und ging fort in Richtung Talsohle.
Die Anführerin blickte ihr nach und schüttelte resignierend den Kopf. Sie und die anderen vier Frauen verließen hoch erhobenen Hauptes den Platz.
"Ich bin froh, dass Lynn mir geholfen hat. Wer weiß, ob ich sonst noch am Leben wäre!", sandte Marc ihnen hinterher, ohne jedoch beachtet zu werden.

"Wird wohl eine Weile dauern, bis die Gemeinschaft über das weitere Vorgehen entschieden hat. Ich denke, das Beste wird sein, dir einen ruhigen Unterschlupf zu verschaffen." Nach einem Blick in die Runde kam Cynthia eine Idee. "Komm mit." Sie gab Marc ein Zeichen, ihr zu folgen. "So wie ich Lynn kenne, bleibt sie unten am See, um sich abzureagieren." Murmelnd mehr zu sich selbst: "Manchmal ängstigt mich ihre Art, mit den dunklen Kräften umzugehen."

Cynthia führte ihren Begleiter den gekiesten Hauptweg hinab zu Lynns Zelt. Links neben diesem wuchs eine mannshohe Pflanze mit handflächengroßen, bepelzten Blättern und einem armdicken Stengel, dessen Ausläufer eine purpurne Blüte in Form einer Königskrone zierte.
"Du solltest sie begrüßen", flüsterte Cynthia und registrierte amüsiert Marcs unsichere Mimik. Um ihn zu ermuntern, trat sie an das Gewächs heran, strich mit zarten Bewegungen in Wuchsrichtung der feinen Härchen über die Blätter. Was auch immer diese Lebensform empfand, sie bebte leicht.
"Das ist eine Chimafelida", erklärte sie dem erstaunten Jungen. "Ein Zwischending aus Pflanze und Lebewesen. Sie mag es, wenn man sie berührt." Marc zog es jedoch vor, seine Hände hinter dem Rücken zu verschränken.
Das Zelt war rund, in sich geschlossen und doch eine Einheit, die mit ein paar Handgriffen geöffnet werden konnte. Ein Gebilde aus Stoff, leicht, aber erstaunlich stabil. Cynthia zog an zwei breiten Bändern eine der vielen Bahnen hoch, fixierte diese an extra für diesen Zweck installierten Haken und ermöglichte so einen Blick ins Innere der spartanisch bestückten Behausung.
"Dies ist Lynns persönliches Refugium. Dient lediglich zum Schlafen. Mehr Platz brauchen wir für unsere wenigen Besitztümer nicht, da sich der Hauptanteil unseres Lebens in der Harmonie der Gemeinschaft abspielt." Sie machte eine einladende Handbewegung. "Mach es dir gemütlich, sei unser Gast."

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Lynn war ihren Zorn losgeworden und schlenderte entspannt am See entlang, als Gwendolyn in Begleitung zweier Schwestern ihren Weg kreuzte.
"Ich habe dir eine Botschaft des Rates zu übermitteln, Lynntrionaneansáidaíthí. Die Gemeinschaft bittet dich, bis auf Weiteres im alten Baumhaus zu bleiben." Das war eindeutig ein Befehl und keine Bitte.
"Und wenn die Psychopathen hier auftauchen?"
"Dann werden wir mit ihnen reden und sie von ihrem etwaigen Vorhaben abbringen. Wir glauben jedoch nicht, dass hier irgendjemand erscheinen wird." Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sich die Delegation wieder. Lynn war den Tränen nahe. Ein Ausschluss aus der Gemeinschaft, noch dazu zu diesem Zeitpunkt, erschien ihr denkbar ungerechtfertigt.
"Aber ihr habt keine Ahnung, wie gefährlich diese Teufel sind! Lasst mich...", rief sie den drei Frauen nach, doch ihre Worte erreichten diese bereits nicht mehr.

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Marc schätzte den Durchmesser des Pavillons auf circa vier Meter. Einziger größerer Einrichtungsgegenstand war eine Liegestatt, eine Art Bahre, die ihm gegenüber an der Zeltwand stand. Rechts davon befand sich eine mittelgroße, liebevoll bemalte Truhe, daneben ein Musikinstrument, das ihn entfernt an eine Harfe erinnerte. Ein Tischchen und ein kleiner Hocker reduzierten zusätzlich den beengten Raum. Marc setzte sich, um gleich darauf feststellen zu müssen, dass seine ohnehin sehr eng gewordene Hose unangenehm zwickte. Den Gedanken, den Reißverschluss zu öffnen, verwarf er, noch bevor er ihn zu Ende gedacht hatte. Cynthia, die Zeugin seiner Bemühung geworden war, sich einigermaßen unauffällig aus dieser peinlichen Lage zu befreien, kam ihm lächelnd zu Hilfe. Sie forderte ihn auf, sich auf das Bett zu legen. Aus dieser Perspektive heraus fielen ihm Gewebebahnen auf, die innen quer auf den Stoff aufgenäht waren und senkrecht abgesteppt die Funktion von Taschen erfüllten. Neugierig warf er einen Blick in die aufgereihten Fächer und entdeckte Kämme, getrocknete Blüten, seltsam geformte Steine und den Rosenkranz des Paters, der ihn magisch anzog. Seine rechte Hand näherte sich bereits dem begehrten Objekt, als ihm Cynthia zuvor kam.

 
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