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Jenseits

Udo

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12.05.2007
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Jenseits

Mara starrte am hellichten Tag aus dem Fenster und sah nur Schwärze. Das Rütteln der U-Bahn machte sie schläfrig. Kaum eine Armeslänge entfernt zogen die Tunnelwände mit enormer Geschwindigkeit vorbei, doch sehen konnte man sie natürlich nicht. Vielleicht war es möglich die Hand auszustrecken, durch das Glas hindurch, und die Schwärze zu berühren. Mara versuchte es lieber nicht.

Quietschend hielt der Zug an, Menschen begannen auszusteigen. Mara blieb auf ihrem Platz und betrachtete die Reisenden. Ein chaotischer Vorgang, dutzende von Menschen versuchten zur gleichen Zeit auf den Bahnsteig zu gelangen. Sie drückten einander beiseite, setzten ihre prallen Einkaufstüten und Aktentaschen als Schutzschilde und Rammböcke ein. Andere waren etwas geschickter und passten zufällige Lücken genau ab, die sich nur für Sekundenbruchteile in der Masse öffneten, nur um wenige Schritte später wieder von der zäh fließenden Menge aufgehalten zu werden.

Mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen studierte Mara ihre Umwelt, als stünde sie Abseits des Geschehens. Vielleicht sogar draußen hinter der Scheibe. Wie diese Verhaltensforscher in ihren endlosen Tiersendungen über das, was sie die Wildnis nannten.

Ihr Leben verlief auf Schienen. Die Schienen, die sie in drei Stationen fast bis vor die Bürotür transportieren würden, setzten sich in unsichtbarer Form auch außerhalb der U-Bahn fort. Sie hatte immer wieder mit dem Gedanken gespielt, eines Tages einfach irgendwo anders auszusteigen. Vielleicht würden sich die Türen des Zuges in ein völlig anderes Leben öffnen. Die Schienen zu verlassen - das war ein Gedanke, der ihr gefiel.

Als sich die Doppeltüren zischend schlossen, war Mara gerade hindurchgegangen. Liverpool Street. Niemand beachtete die zierliche junge Frau, als sie durch die Menge lief. Es war nicht so, als wichen ihr die Menschen aus. Ganz gewiss hatte sie auch nicht die Statur, um eine Schneise durch den völlig überfüllten Treppenaufgang zu bahnen. Dennoch war Mara nach kurzer Zeit am Ausgang angekommen. Aus dem Schlund hinter ihr blies ein Luftstoß über sie hinweg, er roch nach Ruß und Äther.

Es war sehr hell. Die warme Julisonne hatte begonnen, den Asphalt aufzuheizen. Immernoch kamen unzählige Menschen hinter ihr die Treppe hinauf und rannten vorbei.

"Was machst du denn hier oben?" fragte eine krächzende Stimme. Mara starrte den Mann mit abwesender Miene an, sah beinahe durch ihn hindurch. Er war ein erbärmlich schmutziger Bettler. Seine langen, fettigen Haare wehten träge im Wind. Er zog die mehrfach geflickte Armeejacke aufwendig zurecht und kratzte hingebungsvoll an einem der vielen ominösen Flecken herum, so als wäre der Schmutz gerade erst entstanden.

"Ich wollte nicht unten bleiben" entgegnete Mara verwirrt. Der Platz, der Bürgersteig, die Straße waren nun fast menschenleer. Glitzernde blaue und rote Lichter spiegelten sich in den Augen des Penners. "Es ist so dunkel." reichte sie als Erklärung nach.

Mara konnte die Stadt spüren, sie war nicht - wie sie immer geglaubt hatte - ein wirrer Ameisenhaufen. Sie war wie ein gewaltiges Uhrwerk mit lebendigen Zahnrädern darin. Mara hörte sie ticken und sah, wie sich die Teile bewegten, jedes auf kleinen selbstgeschaffenen Bahnen.

Die Stimmen von Tausenden rauschten durch ihre Ohren, Menschen die mit ihren Familien telefonierten oder darauf warteten, dass das Besetztzeichen aufhörte. Die Straßen, eingefroren im Infarkt. Sand war im Getriebe. Chaotisch aber immernoch berechenbar und voller Regelmäßigkeit.

"Ich kann die Welt nur verstehen, wenn ich sie von außen betrachte." stellte Mara fest. Der Bettler nickte wissend und betrachtete mitleidig die aufgeregt mit ihren Telefonen hantierenden Geschäftsleute.

"Raus oder rein? Verstehen oder verändern?" fragte er schließlich. Mit einer beschwichtigenden Geste fügte er hinzu: "Beides geht leider nicht."

Mara lächelte mit Überzeugung und reichte ihm die Hand, als ein Feuerwehrwagen kreischend neben ihnen zum Stehen kam. Männer mit gelber Schutzkleidung und Druckluftflaschen auf dem Rücken liefen die Treppe hinunter, dem Rauch entgegen. Ein Polizist zog den einsam dastehenden Bettler am Ärmel und rief "Sie können hier nicht bleiben, gehen sie weiter!".

 
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Hallo Udo,

"Schöne Geschichte", würde ich jetzt sagen, wenn ich sie verstanden hätte. :D
Aber der Reihe nach. Dein Stil ist sehr gut, du ergehst dich nicht in Beschreibungen winziger Details sondern vermittelst ein Gefühl für das Ganze. Die Eindrücke deiner Protagonistin kommen gut rüber.
Einzig eine Sache gleich zu Beginn ließ mich stutzen:

Mara starrte am hellichten Tag aus dem Fenster und sah nur Schwärze.
Klar, mit "hellichter Tag" meinst du die Tageszeit. Doch finde ich es komisch, an einem Ort, wo es nicht hell ist, vom hellichten Tag zu sprechen. Nach meinem Empfinden ist in einer U-Bahn nie hellichter Tag - und wenn es 12 Uhr mittags ist und draußen die Sonne scheint.

Wie ich eingangs schon sagte: Die Handlung oder vielmehr deren Bedeutung erschließt sich mir nicht ganz. Gut, Mara will aus dem alltäglichen Einerlei heraus, kann es nicht mehr ertragen. Ich würde sagen, sie ist sogar schon aus dem Uhrwerk der Stadt raus, schließlich sagt sie, dass sie es von außen betrachte und so erscheint es auch dem Leser. Das Gespräch mit dem Penner ist da nur logisch, denn auch er hat keinen rechten Platz in dieser funktionierenden Welt.
Aber das Ende? In der U-Bahn ist etwas passiert, ein Unglück, aber welcher Natur ist es? Ich würde, einfach weil dies wohl zeitgemäß ist und zu der Wendung "Sand im Getriebe" passt, auf einen terroristischen Akt schließen und, weil es folgerichtig scheint, weiterhin darauf, dass Mara für diesen verantwortlich zeichnet.
Dazu passt in meinen Augen aber nicht, dass der Penner sagt:

"Raus oder rein? Verstehen oder verändern?"
"Beides geht leider nicht."
Denn Mara scheint zu verstehen, obwohl sie, nach meiner Deutung zu gleich aktiv wird und somit versucht, einen Wandel herbei zu führen.

Na ja, ein Bisschen Verwirrung bleibt mir erhalten, doch ich bleibe dabei: Die Geschichte ist wirklich gut.


Gruß,
Abdul

edit: Warum eigentlich die Rubrik Fantasy/Märchen? Wäre das nicht eher etwas für Gesellschaft?

 

Hallo Udo, willkommen auf kg.de.
Ich hab schon drei Mal versucht, deine Geschichte zu kommentieren, aber irgendwie schmert mir dabei immer der Rechner ab. Also - dieses Mal hoffentlich ohne:

In der U-Bahn passiert irgendein Unglück. Dein Penner ist irgendeine Kreatur des Jenseits, und deine Protagonistin löst sich um den Preis ihres eigenen Lebens von der normalen Welt. So weit, so gut - aber der Bruch zwischen den beiden Teilen ist, trotz deines durchaus schönen Erzählstils, etwas zu stark für meinen Geschmack... Vielleicht setzt du dich da noch mal dran?

Genau wie Abdul denke ich aber auch, dass diese Geschichte besser unter "Gesellschaft" oder vielleicht auch "Philosophisches" aufgehoben wäre.

ich wünsch dir noch viel Spaß im Forum!
gruß
vita
:bounce:

 

Hallo & vielen Dank für's Lesen der Geschichte! Ehrlich gesagt habe ich mit einer eher positiven Resonanz garnicht gerechnet :)

@Wahnsinniger Araber:

Mara starrte am hellichten Tag aus dem Fenster und sah nur Schwärze.
Mit den beiden Passagen, die du zitierst hatte ich auch große Schwierigkeiten, habe sie trotzdem mal drin gelassen. Ja, ich meinte die Tageszeit, wollte aber natürlich auch den Bruch zwischen Mara und der Welt darstellen: draußen ist es eigentlich hell, aber sie fährt durch die Dunkelheit.

Im Fall der beiden erwähnten Aussprüche des Penners bin ich gleichsam mit der Formulierung unzufrieden. Auf der einen Seite sind die Äußerungen vielleicht unnötig, da es Erkenntnisse sind, die Mara in diesem Moment auch selbst hat. Andererseits will ich verdeutlichen, dass sie vor die Wahl gestellt wird. Hm....

Deine Schlussfolgerungen bezüglich des Inhalts waren alle "richtig", sofern man das so sagen kann, da ja bewußt vieles offen gelassen wird. Lediglich, die Vermutung, Mara hätte den Anschlag verursacht, die hat mich etwas überrascht. Aber das ist sicher auch eine valide Interprätation. "Gedacht" war sie eigentlich als Opfer, aber es funktioniert in beiden Fällen.

Die Geschichte hat ein reales Ereignis als Hintergrund übrigens.

Ja, man hätte auch leicht eine andere Rubrik wählen können, doch aufgrund des starken übersinnlichen Aspekts habe ich mich dann dagegen entschieden (nicht zuletzt, weil es ja im Prinzip eine Ghost Story ist, wenn man es genau nimmt). Aber sicher, hier habe ich ganz viele Konzepte einfach zusammengeworfen.

@vita:

Ich kann gut nachvollziehen, dass der Bruch hart und seltsam rüberkommt. Naja, nehmen wir ruhig den Plural, es sind ja mehrere Brüche. Eigentlich geht es bei der ganzen Geschichte auch nur um Brüche auf verschiedensten Ebenen.

Mir ist leider nie klar geworden, wie ich alles in eine leichter verdauliche Form packen kann, ohne dass Aussagen verloren gehen, die mir wichtig sind. Ich werde allerdings noch ein wenig drüber nachdenken. Ansonsten kann ich nur sagen: vielleicht liegen dir ja meine zukünftigen Geschichten eher?

Tja, also ich habe nichts gegen eine Verschiebung in eine andere Rubrik, da verlasse ich mich mal auf euch - ihr seid schließlich schon länger hier :)

Vielen vielen Dank für das freundliche "Willkommen" und auf bald!

 

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