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Jenseits
Mara starrte am hellichten Tag aus dem Fenster und sah nur Schwärze. Das Rütteln der U-Bahn machte sie schläfrig. Kaum eine Armeslänge entfernt zogen die Tunnelwände mit enormer Geschwindigkeit vorbei, doch sehen konnte man sie natürlich nicht. Vielleicht war es möglich die Hand auszustrecken, durch das Glas hindurch, und die Schwärze zu berühren. Mara versuchte es lieber nicht.
Quietschend hielt der Zug an, Menschen begannen auszusteigen. Mara blieb auf ihrem Platz und betrachtete die Reisenden. Ein chaotischer Vorgang, dutzende von Menschen versuchten zur gleichen Zeit auf den Bahnsteig zu gelangen. Sie drückten einander beiseite, setzten ihre prallen Einkaufstüten und Aktentaschen als Schutzschilde und Rammböcke ein. Andere waren etwas geschickter und passten zufällige Lücken genau ab, die sich nur für Sekundenbruchteile in der Masse öffneten, nur um wenige Schritte später wieder von der zäh fließenden Menge aufgehalten zu werden.
Mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen studierte Mara ihre Umwelt, als stünde sie Abseits des Geschehens. Vielleicht sogar draußen hinter der Scheibe. Wie diese Verhaltensforscher in ihren endlosen Tiersendungen über das, was sie die Wildnis nannten.
Ihr Leben verlief auf Schienen. Die Schienen, die sie in drei Stationen fast bis vor die Bürotür transportieren würden, setzten sich in unsichtbarer Form auch außerhalb der U-Bahn fort. Sie hatte immer wieder mit dem Gedanken gespielt, eines Tages einfach irgendwo anders auszusteigen. Vielleicht würden sich die Türen des Zuges in ein völlig anderes Leben öffnen. Die Schienen zu verlassen - das war ein Gedanke, der ihr gefiel.
Als sich die Doppeltüren zischend schlossen, war Mara gerade hindurchgegangen. Liverpool Street. Niemand beachtete die zierliche junge Frau, als sie durch die Menge lief. Es war nicht so, als wichen ihr die Menschen aus. Ganz gewiss hatte sie auch nicht die Statur, um eine Schneise durch den völlig überfüllten Treppenaufgang zu bahnen. Dennoch war Mara nach kurzer Zeit am Ausgang angekommen. Aus dem Schlund hinter ihr blies ein Luftstoß über sie hinweg, er roch nach Ruß und Äther.
Es war sehr hell. Die warme Julisonne hatte begonnen, den Asphalt aufzuheizen. Immernoch kamen unzählige Menschen hinter ihr die Treppe hinauf und rannten vorbei.
"Was machst du denn hier oben?" fragte eine krächzende Stimme. Mara starrte den Mann mit abwesender Miene an, sah beinahe durch ihn hindurch. Er war ein erbärmlich schmutziger Bettler. Seine langen, fettigen Haare wehten träge im Wind. Er zog die mehrfach geflickte Armeejacke aufwendig zurecht und kratzte hingebungsvoll an einem der vielen ominösen Flecken herum, so als wäre der Schmutz gerade erst entstanden.
"Ich wollte nicht unten bleiben" entgegnete Mara verwirrt. Der Platz, der Bürgersteig, die Straße waren nun fast menschenleer. Glitzernde blaue und rote Lichter spiegelten sich in den Augen des Penners. "Es ist so dunkel." reichte sie als Erklärung nach.
Mara konnte die Stadt spüren, sie war nicht - wie sie immer geglaubt hatte - ein wirrer Ameisenhaufen. Sie war wie ein gewaltiges Uhrwerk mit lebendigen Zahnrädern darin. Mara hörte sie ticken und sah, wie sich die Teile bewegten, jedes auf kleinen selbstgeschaffenen Bahnen.
Die Stimmen von Tausenden rauschten durch ihre Ohren, Menschen die mit ihren Familien telefonierten oder darauf warteten, dass das Besetztzeichen aufhörte. Die Straßen, eingefroren im Infarkt. Sand war im Getriebe. Chaotisch aber immernoch berechenbar und voller Regelmäßigkeit.
"Ich kann die Welt nur verstehen, wenn ich sie von außen betrachte." stellte Mara fest. Der Bettler nickte wissend und betrachtete mitleidig die aufgeregt mit ihren Telefonen hantierenden Geschäftsleute.
"Raus oder rein? Verstehen oder verändern?" fragte er schließlich. Mit einer beschwichtigenden Geste fügte er hinzu: "Beides geht leider nicht."
Mara lächelte mit Überzeugung und reichte ihm die Hand, als ein Feuerwehrwagen kreischend neben ihnen zum Stehen kam. Männer mit gelber Schutzkleidung und Druckluftflaschen auf dem Rücken liefen die Treppe hinunter, dem Rauch entgegen. Ein Polizist zog den einsam dastehenden Bettler am Ärmel und rief "Sie können hier nicht bleiben, gehen sie weiter!".