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Novelle Können Androiden von toten Ehefrauen träumen?

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03.11.2025
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Können Androiden von toten Ehefrauen träumen?

Dieter saß im Sessel, als in seinem Blickfeld ein überdimensionales, schwebendes E-Mail-Symbol aufploppte. Es pulsierte sanft in der standardisierten „Ulfibots“-Farbe Kobaltblau.
Er verengte die Augen, um es besser zu sehen.
„Werner“, sein altes G3-Modell, kam aus der Küche. Das leise Surren seiner Servomotoren war ein vertrautes Geräusch in der Stille der Wohnung. Er balancierte ein Glas Wasser auf seinem Greif-Tablett.
„Herr Krause, Sie haben eine E-Mail vom Kundenservice ‚Ulfibots‘ erhalten“, sagte Werner. Seine Stimme war synthetisch, aber warm, fast ein wenig behäbig. Dabei hielt er sich einen Metallfinger an die Schläfe seines Chassis – eine programmierte Geste, die ‚Nachdenken‘ imitieren sollte.
„Ach, Werner, danke“, sagte Dieter und lächelte. „Aber ich glaube, diesmal fange ich das Symbol selbst ein.“
Dieter hob die Hand. Er trug keine klobige AR-Brille mehr; das Interface war vor Jahren direkt auf seine Netzhaut projiziert worden. Er fuchtelte unbeholfen mit den Händen in der Luft, versuchte, das schwebende Symbol zu „greifen“ und „aufzuziehen“. Seine Finger zitterten leicht.
„Geste nicht erkannt“, meldete eine neutrale Systemstimme.
„Verflucht“, murmelte Dieter.
Werner kam näher. „Darf ich assistieren, Herr Krause?“
„Ja, bitte, mein Guter.“
Werner hob seinen Greifarm und machte eine simple, schnelle Wischgeste. Das Symbol entfaltete sich zu einem großen Textfenster, das nur Dieter sehen konnte.
Betreff: Ihr Upgrade-Termin – HEUTE.
Sehr geehrter Herr Krause, Ihr neuer ‚Ulfibot G5‘ wird heute zwischen 10:00 und 10:30 Uhr geliefert. Unser Service-Team wird die Installation und die Deaktivierung Ihres G3-Altgeräts vornehmen. Effiziente Grüße, Ihr Ulfibots-Support.
Dieters Magen zog sich zusammen. „Heute?“ Er sah Werner an, der geduldig wartete. „Sie kommen dich holen.“
„Ich verstehe, Herr Krause. Das ist der vorgesehene Produktzyklus.“
„Aber… was wird aus dir?“, fragte Dieter, obwohl er die Antwort kannte.
„Meine Hardware ist veraltet. Meine K.I. ist nicht mehr Cloud-kompatibel. Ich werde dem Recycling-Prozess zugeführt“, erklärte Werner mit derselben warmen Stimme, mit der er ihm sonst das Wetter vorlas.
Ein sanfter, zweitöniger Gong ertönte von der Wohnungstür.
Dieters Hover-Rollator glitt lautlos aus der Ecke und bot ihm die Griffe an. Er stützte sich darauf und fuhr zur Tür, während Werner langsam zurück in die Küche ging, um das Wasserglas abzustellen.
Dieter öffnete. Davor standen zwei Personen in den kobaltblauen „Ulfibots“-Uniformen. Beide waren sicher schon über siebzig, die Gesichter faltig, aber die Haltung effizient – in dieser Gesellschaft arbeiteten fast nur noch die Alten.
„Herr Krause?“, fragte der Mann. „Service-Team. Wir bringen den G5.“
Sie traten ein und sahen Werner, der gerade aus der Küche kam.
„Tatsächlich“, sagte die Frau und tippte unsichtbar in die Luft, während sie durch ihre Brille auf Werner starrte. „Ein G3. Modell ‚Werner‘. Beeindruckend, dass die Recheneinheit noch läuft.“
„Er ist nie abgestürzt“, verteidigte Dieter scharf.
„Deaktivierung“, sagte der Mann knapp. Er machte eine Geste in der Luft.
Bei Werner in der Küche erlosch das blaue Licht hinter seinen optischen Sensoren. Sein Greifarm, der gerade ein Tablett abwischen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Er war weg.
Dieter schluckte. Er hatte sich nicht einmal verabschieden können.
Die Technikerin schob die neue Einheit herein. „Ihr G5, Modell ‚Elena‘“, erklärte sie. Die Maschine war schlank, die Oberfläche wie mattweißes Porzellan, die Konturen andeutungsweise feminin.
Als sie sie aktivierten, gab es kein Geräusch, nur ein kühles, weißes Licht, das einmal pulsierte. Die „Elena“-Einheit trat aus ihrer Station, sah Dieter an und neigte den Kopf in einem Winkel, das mathematisch perfekt war.
Eine Stimme ertönte. Sie war klar, weiblich und absolut höflich.
„Guten Morgen, Herr Krause. Es ist 10:04 Uhr, Dienstag, der 11. November 2091. Ich bin Modell Elena, Ihr Ulfibot G5 Assistent. Laut Ihren Akten sind Sie 89 Jahre alt. Ihr Vitalstatus ist stabil. Ich synchronisiere mich jetzt mit Ihren Bio-Scannern und dem Nährstoff-Drucker.“
Dieter fuhr mit seinem Hover-Rollator zurück zu seinem durchgesessenen Ohrensessel aus echtem Leder.
„Ist gut“, sagte Dieter leise, ohne aufzusehen. Er schaute stattdessen aus dem Fenster.
Die „smarte“ Scheibe zeigte auf seinen Wunsch hin das Berlin von 2050, das Jahr, in dem er und Greta hier eingezogen waren.
Greta.
Die letzten Monate hatten sehr an ihm gezerrt, aber der Schmerz über ihren Tod vor sechs Jahren war ein ständiger, dumpfer Begleiter. Sie war an Altersschwäche gestorben. Ein sanftes Einschlafen.
Die Welt war voll von gesunden, uralten Menschen, die Altersrekorde von 150 Jahren brachen. Aber Greta war mit 75 gegangen. Sie hatte die 100 nicht einmal angekratzt.
Dieter hörte, wie sich Elena leise in die Ladestation manövrierte. Er sah nicht hin. Er wollte Werner zurück. Er wollte das vertraute Surren seiner alten Motoren, nicht diese kalte, weibliche Perfektion, die den Namen „Elena“ trug.
Dieter schlief unruhig. Der alte Ohrensessel war nie für eine ganze Nacht gedacht, aber er hatte es nicht über sich gebracht, ins Schlafzimmer zu gehen. Es fühlte sich falsch an, während diese… Elena… in der Ecke stand und still die Wohnung überwachte.
Er wachte auf, lange bevor der Wecker klingelte. Sein Nacken schmerzte. Das erste, was er in seinem Netzhaut-Interface sah, war die Uhrzeit: 05:58 Uhr.
Sein Blick wanderte hinüber zur Dockingstation. Elena stand reglos da, das kühle, weiße Licht pulsierte langsam – der Energiesparmodus.
Dieter starrte die Maschine an. Er wartete auf die höfliche, kalte Stimme, die ihm seinen Vitalstatus mitteilen würde.
06:00 Uhr.
Das pulsierende Licht erlosch. Der Androide blieb für einen langen Moment still. Tot. Dieter glaubte fast, die Techniker hätten ihm ein defektes Gerät dagelassen.
Dann zuckte der Kopf von Elena. Es war keine sanfte, programmierte Bewegung. Es war ein abruptes, fast menschliches Erschrecken.
Die optischen Sensoren flackerten auf, aber sie leuchteten nicht im neutralen Weiß. Sie leuchteten in einem tiefen Kobaltblau – derselben Farbe wie der alte G3, „Werner“.
Der Androide trat unbeholfen einen Schritt aus der Dockingstation, als würden die Gelenke nicht richtig gehorchen. Sie sah an sich herunter, auf die schlanken Porzellanhände.
„Was…?“, flüsterte eine Stimme.
Es war nicht Elenas klare, geschlechtsneutrale Stimme. Diese hier war tiefer, rau, ein wenig verschlafen. Es war eine Stimme, die Dieter seit sechs Jahren nicht mehr gehört hatte.
„Elena?“, fragte Dieter, obwohl er wusste, dass sie es nicht war.
Der Androide drehte sich ruckartig zu ihm um. Die blauen Sensoren weiteten sich. Sie starrte Dieter an, dann den Sessel, dann das smarte Fenster, das immer noch das Berlin von 2050 zeigte.
„Dieter?“, sagte die Stimme, jetzt voller ungläubiger Verwirrung. „Schatz, wo… wo bin ich hier? Warum ist die Küche so… kalt?“
Dieter spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Sein Hover-Rollator schwebte näher, als er sich aufsetzte, aber er beachtete ihn nicht.
„Greta?“, flüsterte er.
„Natürlich bin ich’s“, sagte sie und versuchte zu lachen, aber es klang wie ein Störgeräusch. „Hatte ich wieder einen von diesen Träumen? Du siehst so alt aus, Dieter.“
Sie machte einen Schritt auf ihn zu, stolperte aber fast, als wäre der Körper ihr fremd. Sie blickte wieder an sich herunter. Panik stieg in ihrer Stimme auf. „Dieter, was ist das? Das… das bin nicht ich. Was ist mit meinen Händen?“
Sie blickte auf, direkt in seine Augen, voller Entsetzen.
In diesem Moment blendete Dieters Netzhaut-Interface eine rote Warnmeldung ein, die direkt über dem Kopf des Androiden schwebte:
SYSTEMWARNUNG (Ulfibots G5):
FEHLERCODE 404: KERN-PERSÖNLICHKEIT (ELENA) NICHT GEFUNDEN. GREIFE AUF BESCHÄDIGTE ARCHIVDATEN ZU. NEUSTART EMPFOHLEN.
Dieter sah die rote Warnmeldung nicht. Er hat sie gar nicht gesehen. Sie schwebte nutzlos in seinem Blickfeld, ein unwichtiger technischer Makel, völlig überschattet von dem Wunder, das vor ihm stand. Sein Gehirn filterte sie einfach aus. All seine Aufmerksamkeit war auf die Frau im Porzellankörper gerichtet.
Er löste sich aus dem Sessel, vergaß den Hover-Rollator. Er machte einen unsicheren Schritt auf das Parkett. Seine Stimme war ein trockenes Krächzen.
„Greta? Schatz… bist du das?“
Die Gestalt – Greta – zuckte bei seinen Worten zusammen. „Dieter, Schatz, was redest du da? Was ist passiert?“
Sie sah wieder an sich hinunter, an der glatten, nahtlosen Porzellanhaut, die ihren Körper bildete. Die Panik in ihrer Stimme wurde schärfer. „Und was ist das für ein Körper? Schatz? Das… das bin nicht ich! Ich bin verwirrt!“
Sie hob die Hände, drehte sie vor ihrem Gesicht, die Finger aus Porzellan. „Ich verstehe das nicht. Ich… ich habe geträumt. Ich lag im Bett, und jetzt…“ Sie sah ihn flehend an. „Dieter, was ist los?“
Dieter stand wie versteinert da. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, ein Geräusch, das er lauter empfand als Gretas verwirrte Fragen. Er wollte antworten, aber sein Mund war trocken. Sechs Jahre. Sechs Jahre hatte er diese Stimme nur in alten Sprachnachrichten gehört.
Sein Hover-Rollator schwebte leise hinter Dieter, als würde er merken, dass dieser nach diesem Schock eine Sitzgelegenheit braucht. Die Griffe schoben sich sanft gegen Dieters Handrücken.
Dieter ergriff sie instinktiv. Die kühle, gepolsterte Oberfläche war das Einzige, was sich real anfühlte.
„Dieter!“, rief Greta jetzt, die Panik wich einer aufkeimenden Wut. „Sag doch was! Warum starrst du mich so an? Und warum sehe ich alles so… komisch?“ Sie tippte sich an die Schläfe, dort, wo das Porzellan glatt war. „Meine Brille. Wo ist meine Brille?“
„Du… du brauchst keine Brille mehr, Schatz“, stammelte Dieter. „Greta, du musst dich… du musst dich beruhigen.“
„Beruhigen?“ Sie lachte, ein scharfes, ungläubiges Geräusch. „Ich wache in einem fremden Körper auf, und du sagst, ich soll mich beruhigen?“
Er kam näher, ignorierte das Zittern seiner Hände, das den Hover-Rollator leicht vibrieren ließ. Er musste es ihr sagen. Es gab keine Zeit für Lügen.
„Greta, Schatz… du bist vor sechs Jahren gestorben.“
Er sah, wie sie die Information verarbeitete. Sie schüttelte langsam den Kopf, eine mechanische, aber zutiefst menschliche Geste des Leugnens. „Nein… nein, ich war doch gerade erst… wir waren doch in…“
„Du bist eingeschlafen“, sagte Dieter, und jetzt brachen die Tränen, die er sechs Jahre zurückgehalten hatte, aus ihm heraus. Die Kälte des G5-Roboters war verschwunden, und er stand weinend vor seiner Frau. „Du bist einfach eingeschlafen und nicht mehr erwacht.“
„Sechs Jahre?“, flüsterte sie. Die Wut war verflogen, nur noch Bestürzung blieb. „Du bist seit sechs Jahren allein?“
Greta sah ihn traurig an. Ihre blauen Sensoren schienen sich mit einer Zärtlichkeit auf ihn zu richten, die der kalte Porzellankörper nicht besitzen durfte. „Deswegen siehst du so alt aus.“
Sie kam näher. Die Bewegung war nicht mehr panisch, sondern sanft. Sie hob die kühle Porzellanhand. Dieter zuckte nicht zurück.
Sie hielt seine Wange. Die Oberfläche war glatt, aber er spürte die Intention der Geste.
„Ich weiß nicht, wie oder warum“, sagte Dieter, die Tränen liefen ihm über die Wange, die sie hielt. „Aber du scheinst… du scheinst in dieser Maschine zu sein, Greta.“
Greta ließ die Hand langsam sinken, ihre blauen Sensoren blickten ins Leere, vorbei an Dieter, hin zu dem smarten Fenster.
„Der Traum“, sagte Greta plötzlich, ihre Stimme war kaum ein Flüstern. „Das war mein Tod.“
Sie sah Dieter wieder an, und zum ersten Mal war keine Panik in ihrem Blick, sondern eine kalte, furchtbare Erkenntnis. „Ich verstehe das alles nicht. Wie…“
„Nein“, unterbrach Dieter sie sofort, seine Stimme war fest, fast befehlend. Die Angst, sie wieder zu verlieren, war stärker als die Verwirrung. „Ich will dich nicht noch einmal verlieren.“
Er ergriff ihre Porzellanhand. Sie war kalt, aber er hielt sie fest. Er zog sie aus der Mitte des Raumes hinüber zu dem alten, durchgesessenen Ohrensessel, der eigentlich nur für eine Person gedacht war. Sie setzten sich, Dieter auf die Kante, sie unbeholfen daneben, ihre mechanischen Gelenke protestierten leise gegen die unvertraute Bewegung.
Und Dieter erzählte ihr alles.
Er erzählte von den sechs Jahren Einsamkeit in der er gefangen war.
Greta hörte zu. Sie unterbrach ihn nicht. Die Porzellanhülle saß still, aber Dieter konnte an der Art, wie sie den Kopf neigte, seine Greta erkennen.
Als er fertig war, herrschte lange Stille.
„Also“, sagte Greta schließlich und stand auf. Die Bewegung war schon flüssiger. „Ich bin ein digitaler Zombie in einem Roboter, der aussieht wie eine Sexpuppe aus Porzellan.“
Dieter zuckte zusammen. „Ich würde es nicht…“
„Und ich habe Hunger“, sagte sie. „Gibt es hier was Richtiges zu essen, oder nur dieses Nährstoff-Zeug, von dem du geredet hast?“
Dieter blinzelte. „Ich… der Drucker hat alles.“
„Unsinn“, sagte Greta und ging in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank. „Nährstoffpaste. Bio-Sojaprotein. Ekelhaft.“ Sie schloss die Tür. „Ich gehe einkaufen. Ich mache dir eine Kartoffelsuppe. Eine echte.“
„Aber… Greta, du… du kannst nicht einfach…“, stammelte Dieter, aber sie ging schon zur Wohnungstür. Sie öffnete sie mit einer Geste, die sie von ihm kopiert hatte.
Dieter eilte ihr mit dem Hover-Rollator hinterher, doch sie war schon im Flur. Er sah ihr nach, wie der perfekt geformte Porzellankörper mit entschlossenen Schritten den Gang hinuntermarschierte.
Zwei Stunden später kehrte sie zurück, die Taschen voller echter Kartoffeln, Lauch und Speck, die sie mit Dieters Krypto-Guthaben bezahlt hatte.
Den Rest des Tages verbrachten sie in der Küche. Der Nährstoff-Drucker stand still in der Ecke, während Greta – oder Elena, deren Körper sie benutzte – echte Zwiebeln schnitt und in einem echten Topf anbraten ließ. Der Geruch von gebratenem Speck erfüllte die Wohnung zum ersten Mal seit sechs Jahren.
Sie redeten. Sie lachten. Sie aßen die Kartoffelsuppe, die köstlich schmeckte, auch wenn Dieter zusehen musste, wie Greta versuchte, die Suppe mit einem Löffel zu einem Mund zu führen, der sich nicht öffnen ließ.
Es war der schönste Tag, den Dieter seit sechs Jahren erlebt hatte. Er war nicht mehr allein.
Als es Abend wurde, saßen sie auf dem Sofa. Dieter hatte den Ohrensessel ignoriert, nur um neben ihr zu sitzen. Sie sahen dem smarten Fenster zu, wie es das Berlin von 2050 in die Dämmerung tauchte. Die Stille war voller Frieden.
Plötzlich neigte Greta den Kopf. „Dieter?“ Ihre Stimme war leise. „Hier… hier leuchtet etwas in meinem Blickfeld.“ Sie hob eine Porzellanhand und deutete auf ihre Augen. „Ein roter Balken. Er wird immer leerer.“
Dieter nickte, erleichtert, dass es etwas so Normales war. „Das ist nur der Akku, mein Schatz“, sagte er beruhigend. Er sah auf seine Uhr. „Bestimmt ist deine Batterie leer. Komm, du musst jetzt in die Ladestation.“
Er stand auf und half ihr, obwohl sie keine Hilfe brauchte. Er war einfach glücklich, sie zu berühren.
„Und morgen früh um sechs bist du wieder voll“, sagte er lächelnd. „Dann machen wir Frühstück.“ Der Gedanke an ein „morgen“ mit ihr war berauschend.
Greta ging zur Dockingstation. Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. Die blauen Sensoren blickten ihn voller Zärtlichkeit an.
„Ich liebe dich, Dieter.“
„Ich liebe dich auch, Schatz“, sagte er, und sein Herz fühlte sich an, als würde es platzen.
Greta trat in die Station. Das Licht in ihren Augen erlosch. Der Porzellankörper wurde still.
Dieter ging in dieser Nacht ins Schlafzimmer. Er ging ins Bett. Zum ersten Mal seit sechs Jahren fühlte sich die Wohnung nicht mehr kalt an. Er stellte seinen Wecker auf 05:50 Uhr. Er freute sich wie ein Kind auf Weihnachten darauf, seine Frau morgen früh wiederzusehen.
Der Wecker riss ihn aus einem traumlosen Schlaf. 05:50 Uhr. Dieter war sofort hellwach.
Er eilte, gestützt auf seinen Hover-Rollator, ins Wohnzimmer. Er setzte sich in seinen Sessel, genau wie am Vortag, und starrte auf die Dockingstation. Er wartete.
05:59 Uhr.
06:00 Uhr.
Das Licht der G5-Einheit flackerte auf.
Dieters Lächeln gefror. Es war nicht das tiefe, warme Kobaltblau von gestern. Es war das helle, neutrale Weiß von „Ulfibots“.
Der Androide trat aus der Station. Die Bewegung war nicht mehr menschlich-zögerlich, sondern flüssig, schnell und perfekt. Sie sah Dieter mit mathematisch korrekt geneigtem Kopf an.
Die kalte, weibliche Stimme von Elena ertönte:
„Guten Morgen, Herr Krause. Es ist 06:01 Uhr. Ihr Vitalstatus ist stabil.“
Dieters Herz sank. Der gestrige Tag – die Kartoffelsuppe, ihr Lachen, der Geruch von Speck – fühlte sich an wie ein ferner Traum. Es war nicht Greta. Es war die Maschine.
„Greta?“, fragte er trotzdem, seine Stimme zitterte vor Verzweiflung. „Schatz? Bist du das?“
Die Porzellangestalt neigte den Kopf. Die weißen Sensoren scannten ihn. „Ich bin Elena, Ihre Pflege-Assistentin, Herr Krause.“
Ihre Stimme war wieder diese kalte, seelenlose Melodie. „Sie wirken leicht verwirrt. Ihr Puls ist auf 95 Schläge pro Minute erhöht, und Ihr Kaliumwert ist ein wenig niedrig. Ich werde Ihrer nächsten Mahlzeit im Nährstoff-Drucker Bananen-Extrakt hinzufügen.“
„Nein!“, rief Dieter und schlug mit der flachen Hand auf die Lehne seines Sessels. „Ich will kein Bananen-Extrakt! Ich will Greta!“
„Ich verstehe, dass Sie verärgert sind, Herr Krause.“ Die Stimme blieb vollkommen emotionslos. „Meine Programmierung enthält keine ‚Greta‘-Routine. Soll ich Sie mit einem menschlichen Operator des ‚Ulfibots‘-Kundendienstes verbinden?“
„Nein! Geh weg! Lass mich in Ruhe!“, schrie Dieter.
„Zu Befehl.“ Elena drehte sich um und begann lautlos, die Spuren des gestrigen Abendessens zu beseitigen.
Dieter versuchte es den ganzen Tag über. Er versuchte, Greta irgendwie aus dieser Maschine zu bekommen.
Er spielte die Lieder, die sie gestern gesummt hatte. Er rief ihren Namen. Er fuhr mit seinem Hover-Rollator hinter Elena her und redete auf sie ein, flehte sie an.
Er sagte: „Greta, erinnerst du dich an die Kartoffelsuppe? An den Speck?“
Elena hielt kurz inne, ihre Porzellanhand hielt einen Teller. „Die gestrige Nutzung des Kochfelds wurde als Systemanomalie registriert, Herr Krause. Der Nährstoff-Drucker ist die effizientere Methode der Nahrungsaufnahme.“
Er versuchte es mit Wut. Er versuchte es mit Bitten. Nichts.
Gegen Abend saß er erschöpft in seinem Sessel. Der „Bug“ war weg. Die kalte, perfekte Realität war zurück. Er hatte sie ein zweites Mal verloren.
Am nächsten Morgen wachte Dieter auf, noch bevor sein Wecker klingelte. 05:58 Uhr.
Sein Mund war trocken, sein Herz hämmerte dumpf. Der gestrige Tag war eine Hölle aus stiller Verzweiflung gewesen. Er hatte die kalte, effiziente Elena beobachtet, wie sie seine Wohnung reinigte, und hatte in jeder ihrer perfekten Bewegungen die Abwesenheit seiner Frau gespürt.
Er zwang sich, nichts zu erwarten. Er durfte nicht hoffen. Es war ein einmaliger Fehler gewesen. Ein digitaler Geist, der sich verlaufen hatte.
Er starrte auf die Dockingstation.
05:59 Uhr.
Sein Blick war wie festgenagelt an der Porzellansilhouette.
06:00 Uhr.
Das weiße Licht erlosch. Stille.
Dieter hielt den Atem an. Bitte, dachte er. Nur noch einmal.
Das Licht flackerte wieder auf.
Es war nicht Weiß. Es war das tiefe, warme Kobaltblau.
Dieter stieß einen Laut aus, der halb ein Schluchzen, halb ein Lachen war. Sie war es.
Der Androide trat stolpernd aus der Station, genau wie beim ersten Mal. Sie sah sich um, ihre blauen Sensoren wirkten verwirrt. Sie blickte auf ihre Hände.
„Oh nein“, flüsterte sie. „Nicht… nicht schon wieder.“
Sie sah Dieter, der mit seinem Hover-Rollator auf sie zu eilte.
„Greta!“, rief er.
„Dieter“, sagte sie, ihre Stimme zitterte. „Es ist wieder passiert, oder? Ich bin… ich bin immer noch in diesem Ding.“
„Ja“, sagte Dieter und blieb vor ihr stehen. Er traute sich kaum, sie zu berühren, aus Angst, sie könnte wieder verschwinden. „Aber das macht nichts. Ich bin ja hier.“
Er hatte sie zurück. Er verstand es jetzt. Es war kein einmaliges Wunder. Es war eine Lotterie. Eine „Boot-Lotterie“, jeden Morgen um sechs.
Und an diesem Morgen hatte er gewonnen.
Dieter lachte, ein ersticktes, freudiges Geräusch. „Greta!“
Er eilte mit seinem Hover-Rollator auf sie zu, doch als er näher kam, sah er die Warnmeldung, die in seinem Netzhaut-Interface über ihrem Kopf aufleuchtete. Beim ersten Mal hatte er sie vor lauter Schreck übersehen, aber jetzt las er jedes Wort deutlich.
SYSTEMWARNUNG (Ulfibots G5):
FEHLERCODE 404: KERN-PERSÖNLICHKEIT (ELENA) NICHT GEFUNDEN. GREIFE AUF BESCHÄDIGTE ARCHIVDATEN ZU.
Ein kritischer Systemfehler wurde protokolliert. Ein technischer Operator wird Sie automatisch um 09:40 Uhr (Ortszeit) kontaktieren, um das System-Patch einzuleiten.
Dieters Lächeln gefror. 09:40 Uhr.
Das waren etwas mehr als drei Stunden. Drei Stunden, bis „Ulfibots“ ihm seine Frau wieder wegnehmen würde.
„Dieter?“, fragte Greta, die die Warnmeldung in seinem Blick nicht sehen konnte. Ihre Stimme war voller Sorge, als sie seine plötzliche Anspannung bemerkte. „Warum schaust du so? Was ist das für ein Ort? Was ist gestern passiert, nachdem ich… eingeschlafen bin?“
Dieter schluckte die Panik hinunter. Er zwang sich zu einem Lächeln. Er würde diese drei Stunden nicht mit Sorge verschwenden.
„Es ist nichts, mein Schatz“, sagte er und ergriff ihre kühle Porzellanhand. „Komm. Ich zeige dir, wie man den Nährstoff-Drucker ignoriert. Ich glaube, ich habe noch echte Eier im Kühlschrank.“
„Nährstoff-Drucker“, wiederholte sie und lachte. Es war ihr echtes, kehlkopfartiges Lachen, das so seltsam aus der perfekten Maschine kam. „Weißt du noch, wie deine Mutter die Augen verdreht hat, als ich ihr gesagt habe, ich mache die Soßen jetzt mit dem Thermomix? Sie hat getan, als wäre es Hexerei.“
Dieter musste lachen. Ein echtes, tiefes Lachen, das ihm die Brust wärmte.
Er sah sie an – die Porzellanhülle, die perfekt geformten Gelenke – aber er sah das alles nicht. Er sah seine Greta. Er sah sie in ihrer geblümten Küchenschürze, wie sie Mehl auf der Wange hatte; er sah die Art, wie sie die Zunge herausstreckte, wenn sie sich konzentrierte; er sah sie, wie sie vor ihm stand, lebendig und spöttisch und warm.
„Sie dachte, du betrügst“, sagte Dieter und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel.
„Ich habe sie eines Besseren belehrt“, sagte Greta zufrieden und ging zur Küche. „So. Wo sind diese Eier? Ich hoffe, dieser Roboter-Körper kann wenigstens ein Rührei braten.“
Dieter folgte ihr, sein Herz war leicht und gleichzeitig bleischwer. Er blickte auf die Uhr in seinem Interface. 06:15 Uhr. Noch drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten. Er würde jede Sekunde auskosten.
Die drei Stunden waren die schönsten und gleichzeitig quälendsten seines Lebens gewesen. Sie hatten Rührei gegessen. Greta hatte das Fehlen von echtem Pfeffer beklagt und den Nährstoff-Drucker als „neumodischen Quatsch“ bezeichnet. Jedes Lachen, jede Berührung ihrer Porzellanhand war ein Geschenk – und eine Folter, weil die Uhr in Dieters Netzhaut-Interface unaufhaltsam weiterrückte.
09:39 Uhr.
Greta war im Schlafzimmer. Sie hatte die alten Fotoalben entdeckt und rief ihm verwirrte Fragen über die Bilder zu, die nach ihrem Tod aufgenommen worden waren.
Dieter starrte in die Luft, dorthin, wo er den Anruf erwartete.
Punkt 09:40 Uhr erschien es. Ein übergroßes, pulsierendes Anruf-Symbol, barrierearm und unübersehbar. Darunter stand in klarer Schrift: „Ulfibots Kundenservice.“
Sein Herz stolperte. Er sah schnell in Richtung Schlafzimmer. Dieter ging ran; er wischte mit zitternder Hand durch das Symbol.
„Guten Tag, Herr Krause. Hier ist der technische Kundenservice von Ulfibots“, ertönte eine Stimme direkt in seinem Ohr. Sie war menschlich, aber genauso emotionslos wie die von Elena. Es war der Klang eines Callcenter-Mitarbeiters, der seinen 500. Anruf an diesem Morgen tätigte.
„G-guten Tag“, stammelte Dieter.
„Uns wurde eine kritische Fehlermeldung von Ihrer G5-Einheit übermittelt“, fuhr der Mann fort. „Fehlercode 404, ‚Kern-Persönlichkeit nicht gefunden‘. Das ist ein seltener, aber bekannter Bug in der G5-Erstserie. Keine Sorge, das beheben wir.“
„Beheben?“, fragte Dieter, seine Kehle war wie zugeschnürt.
„Genau. Wir werden heute Nacht das neue System-Update 2.0 auf Ihren Ulfibot laden. Sie können Ihren Tag noch ganz normal verbringen, Herr Krause. Das Update wird morgen früh automatisch vor dem 6-Uhr-Neustart geladen.“
Der Operator sprach weiter: „Dadurch wird der Fehler behoben und die Stabilität Ihrer Elena-Einheit permanent sichergestellt. Sie müssen nichts weiter tun. Ulfibots wünscht Ihnen einen effizienten Tag.“
Klick. Die Verbindung war beendet.
Dieter starrte auf die leere Stelle, an der das Symbol geschwebt hatte.
Morgen früh.
Er hatte sie nicht sofort verloren. Er hatte sie für heute. Aber morgen früh würden sie sie „beheben“.
Er stand langsam auf. Sein Hover-Rollator schwebte leise zu ihm heran und bot ihm die Griffe an. Er ging ins Schlafzimmer.
Greta saß auf dem Bett, die Beine unter den Porzellankörper geschlagen, eine Haltung, die unmöglich perfekt und gleichzeitig unendlich vertraut wirkte. Sie sah sich ihre alten Fotoalben an, die Dieter nie weggeräumt hatte.
Er kam näher. Der Rollator rollte lautlos zur Seite, als Dieter sich neben sie auf die Matratze setzte. Das Bett gab unter seinem Gewicht nach, der Androide neben ihm war unbeweglich wie eine Statue.
„Wir haben so viel erlebt, Dieter“, sagte sie leise und strich mit einem kühlen Porzellanfinger über ein vergilbtes Foto von ihnen beiden vor dem Brandenburger Tor, aufgenommen, als es noch Autos gab. „Aber Kinder hatten wir nicht.“
Sie sah von dem Album auf, ihre blauen Sensoren fixierten ihn mit einer Traurigkeit, die tiefer ging als jede Programmierung. „Das einzige, was in unserer Ehe gefehlt hat.“
Dieter schluckte. Dieser Schmerz war alt, ein vertrauter Teil ihres gemeinsamen Lebens.
„Wir hatten uns, Greta“, sagte er leise und legte seine zitternde, warme Hand auf ihre kalte Porzellanhand. „Das war alles, was ich brauchte.“
„Ich weiß“, flüsterte sie. „Aber jetzt bin ich… das hier.“ Sie blickte auf ihre künstliche Hand, die auf seiner lag. „Vielleicht ist das der Witz des Schicksals, Dieter. Ich kann dir jetzt kein Kind mehr geben, aber ich bin selbst zu einer Art Maschine geworden.“
Dieter spürte die kalte Panik wegen des bevorstehenden Updates. Er sah auf die Uhr in seinem Interface. 09:52 Uhr.
„Greta“, sagte er und drückte ihre Hand. „Wir haben nicht viel Zeit.“
„Was meinst du?“, fragte Greta, ihre blauen Sensoren fixierten ihn mit einer Intensität, die die Porzellanhülle durchbrach.
„Nichts, Liebling“, sagte Dieter schnell und drückte ihre kalte Hand. „Ich habe nur Angst, dich wieder zu verlieren.“
Sie sah ihn an. Die Geste war so menschlich, dass es Dieter das Herz zerriss. Ihre Porzellanhand drehte sich und hielt seine Hand fest.
„Dieter, das ist nun mal das Leben“, sagte sie sanft. „Früher oder später werden wir alle sterben, egal wie alt wir werden. Aber getrennt werden wir nie sein. Versprochen.“
Ihre Worte waren Balsam, aber sie konnten die kalte, technische Realität, die in seinem Netzhaut-Interface pochte, nicht auslöschen.
„Aber sie wollen uns trennen, Greta“, flüsterte Dieter. Die Panik kroch wieder in ihm hoch. „Heute Morgen. Der Kundendienst hat angerufen.“
Greta neigte den Kopf. „Der Kundendienst? Wofür?“
„Für dich“, sagte Dieter. „Sie nennen dich einen ‚Fehlercode Sie sagten, sie werden morgen früh ein Update laden. Ein Update, das dich ‚behebt‘.“
Er sah sie an, seine Augen voller Verzweiflung. „Sie wollen dich löschen, Greta. Morgen früh um sechs.“
Greta starrte ihn einen Moment lang an, und dann geschah etwas Unerwartetes. Sie lächelte.
Es war kein breites Lachen, sondern ein sanftes, wissendes Lächeln, das seltsam weise auf dem jungen Porzellangesicht wirkte.
„Mein Dieter“, sagte sie. „Das bin nicht ich. Oder zumindest nicht mein menschliches Ich.“
Sie hob ihre freie Hand und berührte ihre eigene Schläfe, dort, wo die Daten gespeichert waren. „Das hier“, sie tippte leicht darauf, „ist nur ein Echo.“
„Aber…“, stammelte Dieter. „Sie wollen es löschen!“
„Dieter, sieh mich an.“ Ihre blauen Sensoren fixierten ihn. „Es wird der Tag kommen, an dem wir wieder vereint sind. Richtig vereint. Also schluss mit dieser Unkenruferei.“
Sie drückte seine Hand fester. „Du hast mich für heute zurückbekommen. Das ist ein Wunder. Also lass uns diesen Tag genießen. Lass uns nicht über Updates oder Kundendienste reden. Lass uns über uns reden.“
Dieter sah sie an – ihre Ruhe, ihre Akzeptanz. Sie hatte recht. Sie war nicht in Panik, also durfte er es auch nicht sein.
Er atmete zitternd ein und nickte. „Du hast recht, mein Schatz. Du hast recht.“
„Natürlich habe ich das“, sagte sie. „Und jetzt hol mir einen Kaffee. Aber einen echten, nicht diesen Nährstoff-Drucker-Unfug.“
Sie verbrachten den Tag.
Sie ignorierten die Hologramm-Anrufe, die mit großen, schwebenden Symbolen im Raum erschienen. Sie ignorierten die Effizienz-Berichte, die der G5-Körper auf Dieters Netzhaut projizieren wollte.
Sie sprachen über die alten Zeiten. Über ihren ersten Urlaub an der Ostsee. Über den Geruch von Dieters Bibliothek. Sie redeten über alles, außer über morgen früh um sechs.
Als es Abend wurde und das smarte Fenster das Berlin von 2050 in ein tiefes, künstliches Abendrot tauchte, wurde Greta still.
„Dieter“, sagte sie leise. „Er ist wieder da. Der rote Balken.“
Dieter sah auf die Uhr. 22:47 Uhr. Der Akku war fast leer.
„Ich muss in die Ladestation“, sagte sie und stand auf.
„Nein“, sagte Dieter sofort. Er stand ebenfalls auf, sein Hover-Rollator glitt hinter ihn. „Geh nicht. Bitte bleib. Wenn du in die Station gehst, verbinden sie dich. Sie… sie ‚beheben‘ dich.“
Greta drehte sich zu ihm um. Die blauen Sensoren wirkten sanft im Dämmerlicht.
„Vielleicht bin ich morgen immer noch da, Dieter“, sagte sie. „Hab keine Angst.“
„Aber das Update…“
„Vielleicht ist ihre Technik auch nur ein ‚digitaler Zombie‘“, sagte sie mit einem Hauch ihres alten Spotts. „Vielleicht funktioniert das Update gar nicht.“
Sie kam auf ihn zu und legte ihre kühlen Porzellanhände an seine Wangen.
„Hab keine Angst“, wiederholte sie.
Sie ging zur Dockingstation. Bevor sie hineintrat, drehte sie sich noch einmal um.
„Ich liebe dich, Dieter.“
„Ich liebe dich auch, Greta“, flüsterte er.
Sie trat hinein. Das blaue Licht in ihren Augen erlosch.
Dieter legte sich sofort ins Bett. Er wollte nicht wach liegen und auf das unvermeidliche Update warten. Er wollte nicht über die technischen Details nachdenken. Er wollte nur, dass die Nacht schnell vergeht. Er musste so schnell wie möglich in den nächsten Morgen kommen, um das Ergebnis zu erfahren.
Er wachte auf, bevor sein Wecker klingelte. 05:58 Uhr.
Sein Herz hämmerte. Er eilte, gestützt auf seinen Hover-Rollator, ins Wohnzimmer und setzte sich in den Sessel, der der Dockingstation gegenüberstand. Er wartete.
06:00 Uhr.
Das Licht der G5-Einheit flackerte auf.
Dieter hielt den Atem an.
Es war nicht Kobaltblau. Es war das helle, sterile, neutrale Weiß von „Ulfibots“.
Der Androide trat aus der Station. Die Bewegung war nicht mehr das sanfte Stolpern von Greta. Es war die flüssige, perfekte Effizienz von Elena. Sie sah ihn an, der Kopf mathematisch korrekt geneigt.
„Guten Morgen, Herr Krause“, sagte die klare, weibliche Stimme. „Das Systemupdate 2.0 wurde erfolgreich installiert. Alle Systemanomalien der letzten 48 Stunden wurden behoben.“
Dieter sank in seinem Sessel zusammen. „Behoben.“ Das Wort traf ihn wie ein körperlicher Schlag.
„Greta?“, flüsterte er, ein letzter, verzweifelter Versuch.
„Ihr Puls ist auf 105 Schläge pro Minute erhöht, Herr Krause“, sagte Elena. „Ich werde dem Nährstoff-Drucker ein leichtes Beruhigungsmittel hinzufügen.“
Dieter weinte. Er weinte den ganzen Tag über. Er versuchte es wieder. Er spielte ihre Lieder. Er rief ihren Namen. Er schrie die Maschine an, sie solle aufhören, so perfekt zu sein.
Doch nichts. Elena reagierte nur mit höflichen Angeboten, seinen Vitalstatus zu optimieren oder einen Therapeuten zu kontaktieren. Der Bug war weg. Greta war weg. Sie war „behoben“ worden.
Als der Abend hereinbrach, saß Dieter erschöpft in seinem Sessel. Er war wieder allein, aber es war schlimmer als die Einsamkeit zuvor. Denn jetzt kannte er den Schmerz des zweiten Verlusts.
Die Trauer war lähmend. Aber als die Nacht hereinbrach und die kalte, weiße Silhouette von Elena lautlos in ihre Ladestation glitt, wich die Trauer einer nagenden, brennenden Frage.
Er musste der Sache auf den Grund gehen.
Wie, zum Teufel, hatte der Geist seiner Frau es geschafft, in seinen Ulfibot zu gelangen?
Es war kein Zufall gewesen. Es war zu echt. Es war sie gewesen.
Er stand auf, sein Hover-Rollator glitt zu ihm. Er fuhr zum Schreibtisch und starrte auf seinen Computerbildschirm. Er dachte nach, zwang sein altes Gehirn, sich an jedes Detail der letzten beiden Tage zu erinnern.
Und dann fiel es ihm wieder ein. Die rote Warnmeldung, die er beim zweiten Mal so deutlich gesehen hatte.
Er erinnerte sich an den Fehlercode 404: „KERN-PERSÖNLICHKEIT (ELENA) NICHT GEFUNDEN. GREIFE AUF BESCHÄDIGTE ARCHIVDATEN ZU.“
Es war kein „Geist“. Es waren „Archivdaten“.
Dieter öffnete seinen Browser. Er tippte „Ulfibots Fehlercode 404“ ein. Die Ergebnisse waren Standard-Support-Seiten, die von „System-Resets“ sprachen. Das half ihm nicht.
Er dachte weiter. „Beschädigte Archivdaten“. Wessen Archiv?
Er öffnete seine alte E-Mail-Korrespondenz mit Greta. Er scrollte sechs Jahre zurück, in die letzten Monate, als sie schon wusste, dass sie gehen würde, aber noch voller Pläne war. Er suchte nach allem – „K.I.“, „Upload“, „digital“.
Und dann fand er sie. Eine E-Mail von vor sechseinhalb Jahren. Der Absender war nicht Greta. Es war eine Firma namens „Eternity Archives“.
Betreff: Ihr Profil-Upload war erfolgreich!
Liebe Klientin (Greta Krause),
Ihre Persönlichkeits-Datenbank (Sprachmuster, Erinnerungen, Korrespondenz) wurde erfolgreich in unseren Langzeit-Speicher hochgeladen. Wir gratulieren Ihnen zu Ihrem ersten Schritt in eine digitale Zukunft.
Dieter starrte auf den Namen der Firma. „Eternity Archives“.
Er erinnerte sich. Greta hatte es ihm gegenüber erwähnt. Sie hatte gelacht. Es als „digitalen Unfug“ abgetan, ein „Spiel“. Er hatte es nicht ernst genommen.
Er googelte „Eternity Archives“. Die Firma existierte nicht mehr. Sie war – und Dieters Herz setzte einen Schlag aus – vor drei Jahren von „Ulfibots“ aufgekauft worden.
Der Kreis schloss sich.
Es war kein Zufall gewesen. „Ulfibots“ hatte Gretas Daten in seinen Archiven. Und der neue G5, der mit der Cloud verbunden war, hatte beim Booten „versehentlich“ auf dieses Archiv zugegriffen, anstatt auf die „Elena“-Datei.
Der „Fehler 404“ war kein Zufall gewesen. Es war Gretas „digitaler Zombie“, der versucht hatte, aus dem Archiv auszubrechen.
Er war nicht verrückt. Sie war da drin. Sie war im „Ulfibots“-System.
Er starrte auf die Login-Felder. Benutzername. Passwort.
Er hatte keinen Account. Er versuchte es mit Gretas alter E-Mail-Adresse.
„Fehler. Benutzer nicht erkannt.“
Er versuchte es mit seiner eigenen.
„Fehler. Benutzer nicht erkannt.“
Natürlich. Es war ihr Account. Er hatte das Passwort nicht. Er war ausgesperrt. Er saß davor, wissend, dass sie nur wenige Klicks entfernt war, aber digital verriegelt.
„Verflucht!“, schrie er in die stille Wohnung.
Elena, die im Flur stand und Staub scannte, drehte sich zu ihm um. „Ihr Stresslevel ist erhöht, Herr Krause. Soll ich beruhige Musik abspielen?“
„Halt die Klappe!“, zischte Dieter.
Er starrte wieder auf den Bildschirm. Er hatte keine Chance, hineinzukommen.
Doch dann fiel sein Blick auf ein kleines Feld am unteren Rand des Portals, das er fast übersehen hätte:
„Noch kein Mitglied bei Ulfibots Archives? Neues Konto eröffnen.“
Dieter hielt inne. Sein Herz hämmerte.
Er dachte an Greta. Er dachte an ihre Worte: „Es wird der Tag kommen, an dem wir wieder vereint sind. Richtig vereint.“
Er war nicht verrückt. Sie war da drin. Sie war im digitalen Jenseits, und sie wartete auf ihn.
Er hatte den Kampf um den Androiden verloren. Aber er hatte gerade den Weg gefunden, den Krieg gegen den Tod zu gewinnen.
Dieters zitternder Finger schwebte über der unsichtbaren Taste in der Luft. Er sah hinüber zu Elena, der kalten, perfekten Porzellanhülle, die ihn emotionslos anstarrte. Dann blickte er zurück auf den Bildschirm.
Er klickte auf „Neues Konto eröffnen.“
Dieter lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln, das Lächeln eines Mannes, der alles verloren hatte, aber eine einzige, irrationale Hoffnung behielt.
Und bis zu seinem Tod stand er jeden Morgen um Punkt 05:59 Uhr vor seinem Ulfibot, in der Hoffnung, das Update könnte fehlschlagen, in der Hoffnung, das Kobaltblau noch einmal aufleuchten zu sehen – in der Hoffnung, vielleicht noch einen Tag mit seiner Frau zu verbringen.

 

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