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Karottenhosen

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16.06.2022
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Karottenhosen

Die Nacht war kurz und der Wecker erbarmungslos. Aus einem Halbschlaf von sorgenvollen Gedanken um die Zukunft gerissen, musste Anna sich eingestehen, der Versuch doch noch zur Ruhe zu kommen, war nun endgültig gescheitert. Sie schlüpfte in ihr Lieblingsshirt und glitt in die gemusterte Plunderhose vom »Schätzchen«, dem Second-Hand-Laden, der letzte Woche in der Innenstadt neu eröffnet hatte. Während sie die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammenband, beschloss sie, heute auf Wimperntusche zu verzichten. Sie half ihrer Tochter Lea beim Anziehen und steckte eine Brotdose mit Knäckebrot in die mittlerweile etwas klein anmutende Kindergartentasche.

Der Hinweg zog sich. Alle paar Meter blieb Lea stehen und beklagte sich über ihre Sandalen.
»Da, genau da, tut’s weh.« Lea deutete mit dem Zeigefinger auf ihren Knöchel.
»Aber gestern hast du die doch den ganzen Tag getragen. Da hat nichts gedrückt. Zeig’ mal her.«
Anna warf einen prüfenden Blick auf die Unterseite des Kinderschuhs, den ihre Tochter ihr entgegenstreckte.
»27. Passt doch. Letztes Jahr waren die noch zu groß, aber jetzt sind die genau richtig.«
»Aber Mama, die drücken! Die müssen wir wegschmeißen und neue kaufen«, ließ Lea in einem Ton der Selbstverständlichkeit verlauten, den nur das Kind einer Wegwerfgesellschaft anzuschlagen vermag.
Neben Ungeduld verspürte Anna nun auch einen leisen Anflug von Ärger aufsteigen. Halb versöhnlich, halb vorwurfsvoll entgegnete sie: »Lea, das kostet alles Geld. Vielleicht ziehst du morgen einfach wieder deine Turnschuhe an.«

Sehr darauf bedacht ihre Augenringe hinter der Sonnenbrille zu verstecken, verabschiedete Anna ihre Tochter mit einem Kuss und machte sich auf den Heimweg. Sie spürte, wie der Hunger sich immer mehr bemerkbar machte. Mit einem Ziehen im Magen machte sie Halt am Geldautomaten, der an der Seitenwand der nahegelegenen Bäckerei platziert war.
»Hoffentlich lässt er mich nicht wieder im Stich«, dachte sie noch, während sie die Karte in den Schlitz schob. Doch der Automat war ihr auch heute nicht gnädig. Behutsam strich sie über den Chip der Visa-Karte und versuchte es erneut. Nichts zu machen. Die EC-Karte wollte Anna der widerspenstigen Maschine jedoch nicht überlassen.
»Ich bezahle doch keine fünf Euro Gebühren für’s Abheben«, dachte sie und öffnete das Kleingeldfach ihres Portemonnaies. Mit freudigem Erstaunen stellte sie fest, dass dieses tatsächlich noch drei Zwei-Euro-Stücke enthielt. Ihr Frühstück war gerettet.

Während der Mann vor ihr ein belegtes Brötchen mit Lyoner bestellte, hatte Anna genügend Zeit die Auswahl der Bäckerei zu sondieren und grob zu überschlagen, wie weit sie mit dem Schatz in ihrem Kleingeldfach kommen würde. Sie verspürte ein heftiges Verlangen nach Karottenkuchen, doch dieser würde heute außerhalb ihrer Möglichkeiten liegen.
»Zwei Laugencroissants und ein Laugenweck, bitte.«
Annas Tonfall transportierte unfreiwillig die Erschöpfung, die sie gern verborgen hätte. Die Sonnenbrille hatte sie abgesetzt. Das gebot die Höflichkeit.
Die Dame hinter dem Verkaufstresen packte die bestellten Backwaren zusammen – Anna konnte gerade noch sagen: »Ja, gern alles zusammen in eine Tüte« – und verkündete mit einem Lächeln, das ehrlich freundlich wirkte:
»Das macht dann sechs Euro und fünf Cent.«
Annas Hirnwindungen wurden zu Klumpen aus Teig.
»Das darf doch nicht wahr sein«, murmelte sie mehr zu sich selbst und fummelte hilflos im Kleingeldfach ihres Portemonnaies herum.
»Wie viel haben Sie denn?«, fragte die Dame hinter dem Verkaufstresen vorsichtig.
»Ähm, sechs Euro. Ich habe ganz genau sechs Euro«, antwortete Anna verlegen und fügte noch stammelnd die Worte »Automat« und »Bargeld« hinzu.
Mit einer abwinkenden Handbewegung griff die Dame hinter dem Tresen in eine Porzellantasse neben der Kasse und bemerkte:
»Ach, bei fünf Cent mache ich mir gar keine Gedanken. Die nehme ich einfach aus meiner Trinkgeldkasse. Kein Problem.«
Erst jetzt registrierte Anna den Kunden zu ihrer Rechten. Genauer gesagt seine Hand, braungebrannt und von rauer Erscheinung, die neben ihr in Richtung Kasse ragte, zwischen den Fingern eine Zwanzig-Cent-Münze: »Hier, das sollte reichen, oder?«

Angesichts dieser Mischung aus Freundlichkeit, Mitleid und Ungeduld – die Warteschlange in der Bäckerei hatte in der Zwischenzeit schließlich nicht aufgehört zu wachsen – wurde Anna der ganze Vorfall erst recht unangenehm. Ausgerechnet heute, in einem Erscheinungsbild, das ihr gerade furchtbar lächerlich anmutete. Die Augenringe, das in die Jahre gekommene T-Shirt, die schlabbernde Second-Hand-Hose. Niemand in dieser Szenerie konnte wissen, was sich hinter ihrem Aufzug verbarg. Von ihrem inneren Widerstand gegen die Wegwerfgesellschaft, deren übertriebener Konsum den Planeten zu zerstören drohte. Von der Altbauwohnung mit Fischgrätenparkett und den selbst gezogenen Tomatenpflanzen auf dem Südbalkon. Von ihrer Ehe mit Markus, von Lea, dem Ferienhaus auf Sylt und ihren gemeinsamen Spaziergängen in den Dünen. Von ihrem hart erarbeiteten Master-Abschluss in Wirtschaftsinformatik. Vom Los, die erste Akademikerin in ihrer Familie zu sein, gutes Geld zu verdienen und sich über andere Dinge den Kopf zerbrechen zu dürfen als über die nächste Mietzahlung. Doch wer sollte diese Nuancen ihres Seins hier und jetzt erkennen können? In diesem Augenblick war sie, davon war Anna jedenfalls überzeugt, bloß die Frau im zerknautschten Outfit, die ihren Einkauf nicht bezahlen konnte. »So wie Mama damals«, schoss es ihr durch den Kopf. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sehr sie es damals gehasst hatte, die abgetragenen Klamotten fremder Menschen tragen zu müssen. Am allerschlimmsten waren die Karottenhosen. Auf dem Schulhof sah sie sehnsüchtig all den schlackernden Schlaghosen nach, die fast schon höhnisch an ihr vorbeispazierten, während sich die Karottenhosen eng um ihre Waden spannten und ihre bleichen Knöchel präsentierten. Die Karottenhosen wurden zu einer Uniform, die allen unmissverständlich demonstrierte, welchen Verhältnissen sie entsprang. Und auch wenn es in Annas Leben längst keine Karottenhosen mehr gab, war das Gefühl der Scham noch äußerst präsent, das sie gerade angesichts der fehlenden fünf Cent, verbunden mit ihrem heutigen Erscheinungsbild, verspürte. In diesem Moment wurde ihr eine Sache klar: Wenn du in Armut aufwächst, kriecht dir diese in Mark und Bein und wird ein Teil von dir, den du mit keinem Geld der Welt abzuschütteln vermagst.

Annas Blick schweifte zum Kundendisplay. Sie stutzte.
»Oh, haben Sie mir etwa drei Laugencroissants berechnet? Ich hatte eigentlich nur zwei bestellt.«
Das hatte sie tatsächlich, dennoch kam ihr sofort der Gedanke, dies müsste vermutlich wie eine Ausrede wirken, um sich aus der unangenehmen Situation zu manövrieren.
»Achso?« – und während die Dame hinter dem Verkaufstresen das lästige dritte Laugencroissant mit der Zange aus der Papiertüte angelte, um es wieder in die freie Wildbahn der Auslage zu entlassen, bemerkte sie in einer Tonlage, die Anna als Mitleid deutete: »Dann bekommen Sie jetzt ja sogar etwas zurück.«
Eilig ergriff Anna die Tüte mit den Backwaren und das unverhoffte Rückgeld vom Verkaufstresen.
»Hier Ihre zwanzig Cent. Vielen Dank«, sprach sie zu dem hilfsbereiten Herrn neben sich, zog die Sonnenbrille wieder über die Augen und verließ fast fluchtartig die Bäckerei.

Auf dem Heimweg rief sie sich in Erinnerung, die zerkratzte Visa-Karte endlich ersetzen zu müssen. Gut, dass sie heute frei hatte. Und nachmittags würde sie dann mit Lea neue Sandalen kaufen gehen.

»Der Rest ist für Sie.«
In der Bäckerei war mittlerweile der hilfsbereite Herr an der Reihe.
»Das ist nett von Ihnen, vielen Dank«, sagte die Dame hinter dem Verkaufstresen mit einem Lächeln. Sie konnte jeden Cent gut gebrauchen. Ihre Kinder sollten endlich auch einmal das Meer sehen dürfen.

 

Hallo @Rob F,

vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Text zu lesen. Ich freue mich wirklich sehr über deine Anregungen.

Inhaltlich ist es der Tagesbeginn einer alleinerziehenden Mutter, die mit wenig Geld auskommen muss. Mir ist insgesamt nur nicht klar, welche Geschichte du hiermit erzählen möchtest, da es keine nennenswerte Entwicklung der Handlung und der Protagonistin gibt.
Oje, dein Kommentar zeigt mir, dass das, was ich mit dieser Geschichte zu erzählen versucht habe, leider so gar nicht herauskam... Mein Ziel war es, den Leser*innen zu suggerieren, dass es sich bei der Protagonistin um eine Frau handelt, die in Armut lebt, eventuell sogar alleinerziehend ist. Um am Ende aufzulösen, dass sie mittlerweile eben nicht mehr arm ist, ja vielleicht sogar ziemlich wohlhabend. Allerdings ist (bedingt durch ihre lange Vorgeschichte) die Armut immer noch ein Teil von ihr, obwohl sich die äußeren Bedingungen verändert haben.

Außerdem erklärst du recht viel, zu der Situation und den Gedanken der Frau. Das hat nur m.E. zur Folge, dass du den Lesern die Denkarbeit abimmst und verhinderst, dass sie sich selbst ein Bild von der Hauptperson machen. Wenn du an dem Text arbeiten möchtest, könntest du ihn deutlich reduzieren. Beschreibe hauptsächlich Handlungen und Dialoge, vielleicht das ein oder andere zur Umgebung (z.B. zu ihrer Wohnung) und vermittle auf diese Art, was du zeigen möchtest. Anstatt wie bisher den Lesern jedes Detail zu erläutern.

Ich werde mit dieser Anregung (und deinen anderen Punkten) im Hinterkopf den Text definitiv nochmals überarbeiten. Vielen Dank für deine Zeit und Mühe. Deine Anmerkungen sind für mich wirklich sehr wertvoll.

Viele Grüße,
Frau Lyoner

 

Hallo @fraulyoner.
Ich find's super, wenn Protagonisten nur rudimentär beschrieben werden. Sollen die Leserinnen und Leser sich doch ihren Herrn X oder Frau Y (im Rahmen meiner Vorgaben als Autor) selbst vorstellen. Dann allerdings gibt es häufig das Problem, dass man zu wenig über die Figuren erzählt und die Leser:innen nicht mehr so ganz mitkommen. (Ich kenne das Problem nur zu gut ;-)
Ich kann mir Anna gut vorstellen: Jung, etwas zerknautscht, weil schlecht und zu wenig geschlafen, die morgendliche Hetze und die quengelige Tochter. Sie ist in einem prekären Umfeld aufgewachsen und deshalb erkennt sie in den "drückenden Sandalen" sich selbst in Karottenhosen wieder.
Dann aber habe ich Probleme:

Sie verstand nicht, wieso ihrer Tochter die drückenden Sandalen nicht schon gestern aufgefallen waren, wo sie diese doch den ganzen Tag über getragen hatte, und spürte Ärger in sich aufsteigen angesichts dieser Selbstverständlichkeit der Austauschbarkeit jeglicher Dinge.
Das kann nicht stimmen. Dazu ist der Absatz mit den Hosen auf dem Schulhof zu prominent.

In diesem Moment wurde ihr eine Sache klar: Wenn du in Armut aufwächst, kriecht dir diese in Mark und Bein und umklammert dich dein Leben lang. Du kannst vielleicht die Armut verlassen, aber die Armut verlässt dich nicht.
Wieso wird ihr das angesichts eines fehlenden 5 Cent-Stücks klar. Offensichtlich ist sie in prekären Verhältnissen aufgewachsen, dann dürfte ihr diese Erkenntnis sicher schon sehr viel früher gekommen sein.
Ist sie jetzt arm ("Brotdose mit Knäckebrot", "Geldautomat") oder hat sie Geld (
Niemand hier in dieser merkwürdigen Szenerie konnte wissen, dass Anna diese Kleidung aus einem inneren Widerstand gegen die kapitalistische Wegwerfgesellschaft trug und nicht aus finanziellen Gründen.
)? Wenn nein, dann würde ich gerne wissen, weshalb sie nicht arbeitet, welchen Werdegang sie hat, ob es einen Kindsvater gibt, der gar nicht oder nur unpünktlich Unterhalt zahlt usw.
Wenn sie aber über – ausreichend – Geld verfügt, dann verstehe ich ihr Problem überhaupt nicht. Dann hätte ich erstmal nur ein Croissant gekauft, wenn Kunde und/oder Verkäuferin das Problem nicht so einfach gelöst hätten, wäre in die Bankfiliale gegangen und hätte die Fehlfunktion meiner Karte geklärt.

 

Ach wie blöd. Jetzt habe ich gerade erst deine Antworts auf Robs Kommentar gelesen. Da hätte ich mir meinen Sermon ja sparen können. Sorry.
(Übrigens zur Gucci-Sonnebrille: Ich habe bei Oxfam eine RayBan-Wayfarer für 20 € gesehen. Das ist der Hinweis auf Gucci auch nicht 100% schlüssig.)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @fraulyoner,
da bin ich schon. Und nochmal ein herzlich Willkommen für dich.

Ich fang mal gleich mit dem an, was ich gut fand, man kennt sich ja noch nicht und weiß nicht, wie der/die andere schreibt.
Also: Du schreibst sehr flüssig, klar und verständlich und abwechslungsreich und machst wenig Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler. Das ist leider Gottes keine Selbstverständlichkeit mehr, daher erwähne ich es. Eine solche Ausdrucksfähigkeit ist aus meiner Sicht jedoch eine Grundvoraussetzung zum Schreiben. Und die erfüllst du schon mal sehr gut.

Sehr gerne mochte ich die Idee, ihre frühere Armut an den Karottenhosen festzumachen. Ich kann mich noch gut an die Biester erinnern. Eine Zeitlang trug sie jeder und kaum ein Jahr darauf war man ein Modegrottenolm, wenn man immer noch in den Dingern rumlief. Der Titel passt auch gut dazu.

Wenn ich deine Geschichte richtig verstehe, schreibst du zu einem Ausschnitt aus dem Leben einer jungen Frau, an dem sie (mal wieder) bemerkt, dass die frühere Armut sie nicht loslässt, sie Scham fühlen lässt. Und das, obwohl sie sich heutzutage viel leisten kann/könnte, sie dies nur nicht tut, weil sie sich bewusst (vielleicht aufgrund ihrer früheren Erfahrungen) gegen übertriebenen Konsum und einen gewissen Lifestyle wendet. In diesem Ausschnitt überlegt sie es sich dann anders und zieht sie die Konsequenz, da bin ich mir unsicher, ob du das so meinst, dass sie ihre Tochter nicht zum "Opfer" ihrer Entscheidung machen will, sie nicht einem Karottenhosengefühl aussetzen will, sondern sie ihr die neuen Sandalen kauft.

Ich habe damit mehrere Schwierigkeiten.
Mein Hauptpunkt: Man merkt zunächst nicht, dass die Protagonistin heutzutage nicht mehr arm ist. Ich weiß nicht, ob es Absicht ist oder nicht, aber da führst du einen ein bisschen an der Nase rum. Zum Beispiel durch die nicht funktionierende Bankkarte. Erst am Ende wird es einem klar und die Geschichte löst sich anders auf, als man sie zunächst für sich liest. Und dieses Nasführen ist, in dem Fall, keine gute Idee.

Dann ist es eigentlich sehr viel, was in deiner Geschichte angetippt, aber leider nicht so recht fühlbar wird:
1. Ihre Entscheidung zum Beispiel, sich gegen einen luxuriöseren Lebensstil zu entscheiden.
Dann werden 2. Versagensängste bzw. Sinnkrisen angetippt, die aber nie ausgeführt werden. Der Leser bezieht das natürlich auf ihre Armut und fühlt sich ein bisschen an der Nase herumgeführt.
3. Ihre übergroße Angst davor, was die Leute von ihr denken könnten, gleichzeitig wechselt sie noch nicht mal die Klamotten, in denen sie gepennt hat. Das wirkt widersprüchlich, ohne dass es für die Geschichte fruchtbar wird.
4. der Konflikt mit der Tochter, der dadurch entsteht, dass die Kleine die Entscheidung der Mutter ja mittragen muss. Aber auch das ist nicht so ganz klar, denn das Gequengel der Kleinen bezieht sich ja gar nicht auf alte oder unmoderne Schuhe oder darauf, dass andere Kinder gelacht hätten, sondern sie sagt, sie täten ihr weh, was die Mutter ihr nicht so ganz glauben kann. Das müsste man alles genauer herausarbeiten. Und: Ich weiß ja selbst nicht, ob ich die Sandalen sozusagen als Vergleichsmodell zu den Karottenhosen richtig interpretiere, also ob du es so meinst. Es wäre für mich stimmig, ist nur im Moment noch nicht klar genug herausgearbeitet.
Dann 5. der Wendepunkt in der Bäckerei, als sie fühlt, dass die Karottenhosen immer noch an ihr kleben, das gefällt mir im Prinzip ganz gut, wie du das machst. Es fällt ja auf, dass sie - eigentlich umgeben von freundlichen, hilfsbereiten Menschen - sich darüber gar nicht freuen kann, sondern ihr nur einfällt, dass man ihr Armut unterstellen könnte. Es ist überzeugend, ja fast selbstverstänlich, wenn sie tatsächlich arm ist, und das denkt man ja über lange Strecken in deiner Geschichte. Das ist sie ja aber gar nicht. Ich finde das recht spannend, dass sie sich so gar nicht von diesem Gefühl der Armut lösen kann. Wenn man weiß, sie hat sich bewusst gegen einen bestimmten Lebensstil entschieden, dann müssten ihr aber solche Situationen doch schon mal aufgefallen sein, dann muss sie sich doch in irgendeiner Weise mal damit auseinandergesetzt haben? Sie hat doch erst vor kurzem ein gebrauchtes Kleidungsstück gekauft. Se kennt das Gefühl also. Da müssten die Karottenhosen doch schon eher mal in den Sinn gekommen sein. Jedenfalls ist mir die Situation in der Bäckerei vor diesem Hintergrund nicht "hammerig" oder nicht deutlich genug. Sie wäre es vielleicht eher, wenn die Entscheidung, sich nicht den Kriterien der Wegwerfgesellschaft anzupassen, vorher schon klarer wäre und wenn die daraus folgenden Konflikte mit der Tochter deutlicher würden. Und irgendwas, was da in der Bäckerei passiert, das Karottenhosengefühl weckt. Vielleicht die Blicke der Leute noch deutlicher herausarbeiten? Das Gefühl der Scham?

Und noch eine Sache, ich hoffe, ich gehe dir nicht auf die Nerven mit meinen vielen Anmerkungen, ich würde in Geschichten, die wie deine ja sehr in der Anschauung, in der Szene leben, immer darauf achten, nicht zu viel zusammenzufassen oder zu behaupten, sondern mehr zu zeigen.

In Summe hatte sie vielleicht zwei Stunden geschlafen, sich immer wieder von einer Seite auf die andere gewälzt, gequält von Versagensängsten und Gedanken über die Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz.
Hier zum Beispiel. Das ist schon sehr allgemein, was sie da nachts nicht schlafen lässt. Das könnte man viel persönlicher machen, näher an die Figur rangehen.

Noch ein Beispiel:

Der Hinweg zog sich, da die Tochter sich fortwährend über die drückenden Sandalen beklagte. »Ich brauche neue Sandalen, die müssen wir wegschmeißen« – ließ sie in einem Ton der Selbstverständlichkeit verlauten, den nur das Kind einer Wegwerfgesellschaft anzuschlagen vermag. Anna, in einem leisen Anflug von Ungeduld angesichts des sich ziehenden Hinwegs, entgegnete halb versöhnlich, halb vorwurfsvoll: »Vielleicht ziehst du morgen dann einfach wieder deine anderen Schuhe an.« Sie verstand nicht, wieso ihrer Tochter die drückenden Sandalen nicht schon gestern aufgefallen waren, wo sie diese doch den ganzen Tag über getragen hatte, und spürte Ärger in sich aufsteigen angesichts dieser Selbstverständlichkeit der Austauschbarkeit jeglicher Dinge.
Die Tochter bleibt namenlos und blass, ist ja aber ein wichtiger Teil der Geschichte, denn Anna beschließt ihr wegen der Erkenntnisse in der Bäckerei Schuhe zu kaufen. Also müsste gerade hier in diesem Abschnitt der Konflik viel deutlicher werden. Da ist kein Gespräch zwischen beiden, kein Aneinanderreiben, kein ausgearbeiteter Konflikt, sondern eher zusammenfassende Gedanken.
Ich habe mal alles eingefettet, was berichtend und nicht szenisch ist, das müsste es aber aus meiner Sicht dringend werden.

So viel mal, freu mich auf weitere Geschichten von dir, bis die Tage
Novak

 

Hallo @fraulyoner ,

mein Kommentar überschneidet sich mit mehreren bereits vorhandenen Kommentaren, ich habe jedoch noch mal eine etwas andere Sichtweise.

Ich habe den Eindruck, dass du den Leser mit dem Ende überraschen wolltest und dazu die Szenen konstruiert hast. Mein Problem ist, dass diese Konstruktion spürbar ist, weil du eine gewisse Sichtweise zu sehr erzwingst. Dadurch sind verschiedene Abläufe nicht glaubwürdig. Zusätzlich baust du verschiedene Elemente ein, die die gewünschte Lesart fördern aber sonst nichts zur Geschichte beitragen, was den Eindruck macht, den Leser zu einer Fehleinschätzung zu bringen.
Im Detail:

sich immer wieder von einer Seite auf die andere gewälzt, gequält von Versagensängsten und Gedanken über die Bedeutungslosigkeit ihrer Existenz.
Versagensängste und eigene Bedeutungslosigkeit widersprechen sich irgendwie. Wenn ich meine Existenz bedeutungslos finde ist es mir doch egal ob ich versage, schließlich ist es nicht wichtig was ich tue. Du referenzierst auch im Text nicht mehr auf diese Gefühle und damit kann es eigentlich weg.
Beim Zusammenbinden ihrer Haare beschloss sie, heute keine Wimperntusche aufzulegen. Es erschien ihr wenig sinnvoll.
Den letzten Satz könnte man getrost weglassen.
Ich brauche neue Sandalen, die müssen wir wegschmeißen« – ließ sie in einem Ton der Selbstverständlichkeit verlauten, den nur das Kind einer Wegwerfgesellschaft anzuschlagen vermag.
Im Wissen um den gesamten Text: Kinder spiegeln unser eigenes Verhalten. Sie ist nicht ein Kind der wegwerfgesellschaft sondern das dieser Mutter. Wenn die Mutter so kontra Konsum geht, muss entweder deutlicher werden, dass die Tochter neue Schuhe erzwingen will oder der Konflikt ist deplatziert, weil die Tochter nicht auf wegwerfen getrimmt ist.
Sie verstand nicht, wieso ihrer Tochter die drückenden Sandalen nicht schon gestern aufgefallen waren, wo sie diese doch den ganzen Tag über getragen hatte
Na ja, Kinder wachsen ja eigentlich in Schüben und nicht konstant, bis zum Kindergarten sollte ihrer Mutter das aufgefallen sein. Falls du hier anspielen wolltest, dass sie ihrer Tochter nicht glaubt, und die Tochter einfach nur neue Schuhe will, musst du das deutlicher machen. Es wäre dann wohl auch ein ewig präsenter Konflikt zwischen den beiden.
nachdem fast achtzehn Stunden (inklusive einer Nacht der Schlaflosigkeit) zwischen ihr und der letzten Mahlzeit lagen.
Ist das wichtig? Dass es genau 18 Stunden sind? Außer um den Leser auf die Fährte des sich kein Essen leisten zu können zu bringen?
Gedankenverloren betrat sie den stickigen SB-Bereich der Bank.
Und hier kommt mein richtiges Logikproblem. Sie ist in einer Bank und ich kann keine Zeitnot erkennen. Warum geht sie nicht, ...

»Hoffentlich lässt mich der Geldautomat heute nicht wieder im Stich« – dachte sie noch, während sie die Karte in den Schlitz schob, doch ihre Befürchtung bewahrheitete sich. Der Geldautomat war ihr auch heute nicht gnädig
... wenn ihre Karte nicht funktioniert - der bankautomat hat damit nix zu tun, und sie wird auch nicht dem automaten die Schuld geben - direkt weiter in die Bank.
dem in die Jahre gekommenen T-Shirt und der gemusterten Plunderhose, die sie sich erst vor zwei Wochen im Second-Hand-Laden gegönnt hatte.
Na ja. Also eigentlich muss heute niemand mehr Abgetragenes im Second-Hand-Laden kaufen, den meisten Sachen dort sieht man das Second-Hand nicht mal an. Wenn sie eine gemusterte Plunderhose gekauft hat, dann weil sie drauf steht und dann würde ihr die Hose jetzt nicht negativ auffallen. Und wenn sie dieses Konzept selbst gewählt hat und freiwillig verfolgt, dann weiß sie auch was neutrale Basics sind und warum die nicht als un die Jahre gekommen wirken.
Auf dem Heimweg rief sie sich in Erinnerung, endlich bei der Bank nachfragen zu müssen, warum ihre Visa-Karte immer wieder für Probleme sorgte, und dachte außerdem darüber nach, in welches Geschäft sie heute Nachmittag mit ihrer Tochter gehen könnte, um neue Sandalen zu kaufen.
Und hier die Auflösung, eigentlich hat sie gar keine Geldnot.
Meine erste Interpretation war, dass sie halt einfach Sandalen kaufen wird, weil sie das immer so bei ihrer Tochter macht, mit dem Selbstverständnis einer shoppenden Frau die Geld hat.
@Novak s Interpretation könnte allerdings - nachdem ich ihren Kommentar gelesen habe - auch passen, das ist mir dann allerdings zu klein geraten im Fluss der Holzhammer-Erkenntnis.
Aber: wie zahlt sie denn? Wir wissen ja, dass ihre Karte nicht funktioniert.

Grüße
Feurig

 

@Rob F @Wortmann @Novak @feurig

Ich bin geradezu überwältigt von euren ausführlichen Kommentaren. Das war wirklich ausgesprochen hilfreich, sowohl die Hinweise auf Logikbrüche als auch stilistische Anmerkungen, und ich konnte meine Geschichte an vielen Stellen überarbeiten.
Beim Überarbeiten kam mir noch eine weitere Wendung in den Sinn – jetzt der letzte Absatz der Geschichte – bei der ich allerdings noch überlegen muss, ob ich diese drin lasse oder wieder entferne. Vielleicht ist das alles ein bisschen zu viel des Guten.

Ich hoffe, die Überarbeitung hat dazu geführt, dass nun klarer wird: Die Protagonistin ist eigentlich gut situiert, aber übt sich bewusst in Verzicht. In der Bäckerei wird sie jedoch durch das fehlende Geld an ihre Vergangenheit und den unfreiwilligen Verzicht erinnert.

Ich kann mir Anna gut vorstellen: Jung, etwas zerknautscht, weil schlecht und zu wenig geschlafen, die morgendliche Hetze und die quengelige Tochter.

@Wortmann Das Wort "zerknautscht" hat mir so gut gefallen, dass ich es in meinen Text einbauen musste.

Wenn sie aber über – ausreichend – Geld verfügt, dann verstehe ich ihr Problem überhaupt nicht.

@Wortmann Es gibt in der Tat eigentlich auch gar kein Problem. Das Problem findet nur in ihrem Kopf statt.

(Übrigens zur Gucci-Sonnebrille: Ich habe bei Oxfam eine RayBan-Wayfarer für 20 € gesehen. Das ist der Hinweis auf Gucci auch nicht 100% schlüssig.)

@Wortman Guter Punkt. Habe den Markennamen einfach komplett gestrichen.

Wenn ich deine Geschichte richtig verstehe, schreibst du zu einem Ausschnitt aus dem Leben einer jungen Frau, an dem sie (mal wieder) bemerkt, dass die frühere Armut sie nicht loslässt, sie Scham fühlen lässt. Und das, obwohl sie sich heutzutage viel leisten kann/könnte, sie dies nur nicht tut, weil sie sich bewusst (vielleicht aufgrund ihrer früheren Erfahrungen) gegen übertriebenen Konsum und einen gewissen Lifestyle wendet. In diesem Ausschnitt überlegt sie es sich dann anders und zieht sie die Konsequenz, da bin ich mir unsicher, ob du das so meinst, dass sie ihre Tochter nicht zum "Opfer" ihrer Entscheidung machen will, sie nicht einem Karottenhosengefühl aussetzen will, sondern sie ihr die neuen Sandalen kauft.

@Novak Ganz genau. Ihr freiwilliger Verzicht, der nicht zum unfreiwilligen Verzicht der Tochter werden soll. Vielleicht könnte ich den daraus resultierenden Konflikt in ihr auch noch mehr ausbauen.

Ich weiß nicht, ob es Absicht ist oder nicht, aber da führst du einen ein bisschen an der Nase rum.

@Novak Es ist Absicht. ;-) Es ging mir auch ein bisschen um das Thema, dass wir andere Menschen oftmals aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes beurteilen, schnell in Bewertungen kommen, ohne den Mensch dahinter zu kennen.

1. Ihre Entscheidung zum Beispiel, sich gegen einen luxuriöseren Lebensstil zu entscheiden.
Dann werden 2. Versagensängste bzw. Sinnkrisen angetippt, die aber nie ausgeführt werden. Der Leser bezieht das natürlich auf ihre Armut und fühlt sich ein bisschen an der Nase herumgeführt.
3. Ihre übergroße Angst davor, was die Leute von ihr denken könnten, gleichzeitig wechselt sie noch nicht mal die Klamotten, in denen sie gepennt hat. Das wirkt widersprüchlich, ohne dass es für die Geschichte fruchtbar wird.

@Novak Das waren richtig hilfreiche Punkte.
Ich habe die Versagensängste durch Zukunftsängste ersetzt. Das kann sowohl eine persönliche Angst von "Alles wird immer teurer, ich verdiene zu wenig" suggerieren als auch eine allgemeine Zukunftsangst, was Klimawandel, Kriege etc. angeht.
Das mit den Schlaf-Klamotten stimmt. War vielleicht etwas too much. Habe das umgeschrieben und lasse Anna sich anziehen.

Die Tochter bleibt namenlos und blass, ist ja aber ein wichtiger Teil der Geschichte, denn Anna beschließt ihr wegen der Erkenntnisse in der Bäckerei Schuhe zu kaufen.

@Novak Das hat mir zum Nachdenken gebracht und ich habe der Tochter einen Namen verliehen, was sich jetzt auch für mich irgendwie stimmiger anfühlt beim Lesen.

Ich habe mal alles eingefettet, was berichtend und nicht szenisch ist, das müsste es aber aus meiner Sicht dringend werden.

@Novak Ja, das ist leider etwas, womit ich mir noch / immer wieder schwer tue. Ich neige sehr zu berichtendem Schreiben.

Versagensängste und eigene Bedeutungslosigkeit widersprechen sich irgendwie. Wenn ich meine Existenz bedeutungslos finde ist es mir doch egal ob ich versage, schließlich ist es nicht wichtig was ich tue.

@feurig Da hast du völlig recht. Ist mir irgendwie gar nicht aufgefallen.

Und hier kommt mein richtiges Logikproblem. Sie ist in einer Bank und ich kann keine Zeitnot erkennen. Warum geht sie nicht, wenn ihre Karte nicht funktioniert - der bankautomat hat damit nix zu tun, und sie wird auch nicht dem automaten die Schuld geben - direkt weiter in die Bank.

@feurig Ja, das wird tatsächlich nicht klar, stimmt. Der Automat hängt nun an der Wand neben der Bäckerei.

 

He, du hast ja echt ein schnelles Händchen!!! Wahnsinn.
Kurzes Feedback zur Überarbeitung: Viel, viel klarer und stringenter jetzt.
Viel Spaß noch bei uns und aufs nächste Lesen.

 

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