- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Kleiner Junge
Mit lautem Knall rutscht die Tür in den Rahmen. Akira rennt in den hinteren Garten des kleinen Hauses und wirft sich auf die Bank unter dem alten Sauerkirschbaum. Hier erst gestattet er sich selbst einige Tränen, die schon den ganzen Nachmittag in seinen Augen brennen.
Er hasst die Welt. Ja ganz sicher, tut er das. Er ist zwar jung, noch nicht einmal ein richtiger Mann, und das weiß er auch, aber bereits jetzt hat er allen Grund die Welt zu hassen. Er hasst diesen Baum und die Bank, auf der er sitzt. Er hasst den Garten, das Haus und heute hasst er sogar seine Mutter.
„Du bist doch erst dreizehn! Noch viel zu jung für so etwas.“, hat sie ihm einfach nur geantwortet, als Akira ihr eben seine Probleme erzählte. Danach hat sie gelächelt, ihm das schwarze Haar verwuschelt und einen Tee gebracht. Dabei hasst Akira Tee. Heute hasst Akira alles.
Eigentlich fing der Tag so schön an. Es hätte ein Tag besser als jeder andere werden können, denn es gab einen Plan in seinem Kopf. Es hatte ihn gegeben. Und Shinji spielte dabei die wichtigste Rolle.
Shinji ist ein Mädchen aus der Nachbarschule. Sie wohnt mit ihren Eltern in der Stadt, nicht wie Akira am Rand in der Nähe des Hafens. Aber immerhin lächelte sie ihm neulich zu, als sie sich wie sonst auch auf dem Weg zu ihren Schulen begegneten.
Das Lächeln hat ihn in ihren Bann gezogen, sein Herz mit tausend Gewichten beschwert und ihn tief in Liebe zu ihr versinken lassen.
Akira liebt Shinji. Es ist ein tiefes, warmes Gefühl der Anspannung. Elektrisierendes Kribbeln durchzieht seinen ganzen Körper, und er möchte aufspringen, rennen und tanzen zugleich. Er durchwacht einen schwerelosen Traum, der ihn hoch hinauf fliegen lässt. Ja, ganz sicher liebt er Shinji. Nur heute Abend hasst er sie auch noch zusätzlich. Er hasst sie dafür, dass sie sie ist und er er.
Am frühen Nachmittag wollte er sie auf dem Rückweg wieder treffen. Normalerweise begegnen sie sich zu dieser Zeit nicht, da Akira dann immer zum Sportunterricht muss. Aber das Fach hat er zugunsten Shinjis heute einmal ausfallen lassen. Wenn seine Mutter davon Kenntnis bekäme, würde es sicherlich Ärger geben. Daran jedoch verschwendet Akira nicht einen einzigen Gedanken. In seinem Verstand ist dafür auch gar kein Platz mehr, denn seit jenem kurzen Moment des scheuen Lächelns auf Shinjis Lippen füllt sie all sein Denken aus.
Welch grausames Schicksal ihm die Götter auferlegen, denkt er sich. Heute hasst er auch die Götter.
Im Park unter einem großen Baum hatte er sie endlich eingeholt. Sie war nicht allein gewesen, doch darauf konnte Akira nicht achten. Er hatte sich ihr und den anderen Mädchen in den Weg gestellt und erst einmal gewartet. Gewartet auf eine weitere Idee.
Am Morgen schien Akiras Plan noch einen Sinn zu ergeben. Ganz klar war er ihm vorgekommen, einfach und unfehlbar. Er hatte sie stellen wollen, tief in ihre wunderschön mandelförmigen Augen blickend. Dann hätte sie ihn wieder anlächeln müssen und er hätte ihr gesagt, dass er sie liebe. Als natürlichste Reaktion erwartete Akira daraufhin Shinjis Gegenliebe, oder zumindest ihre Zuneigung. Viel Erfahrung mit Mädchen besaß er allerdings noch nicht.
So war es leider nicht gekommen. Shinji vernichtete seinen Plan bereits im Ansatz.
„Was willst du denn?“, hatte sie ihn gelangweilt gefragt und dabei nur verständnislos angeschaut, ganz ohne das scheue Lächeln, während die beiden anderen Mädchen im Hintergrund kicherten.
Von seinen Lippen war lediglich ein zögerndes „Ich mag dich ganz doll.“ gekommen, begleitet von kaltem Schweiß und feuchten Händen, woraufhin die dummen Mädchen noch lauter lachten.
„Du magst mich ganz doll?“, war Shinjis spöttische Antwort. „Das tut mir ja schrecklich Leid, aber ich spiele nicht mehr mit kleinen Jungen!“ Dann hatte auch sie gelacht und ihn schroff zur Seite gedrückt.
Nicht mehr spielen mit kleinen Jungen! Er ist kein kleiner Junge mehr, nicht mehr seit diesem Lächeln. Aber irgendwie hat sie doch mit ihm gespielt. Nun ist er abgestürzt aus seinem schönen Traum, und dafür hasst er jetzt Shinji.
Die Sonne hängt schon dicht über dem Horizont. Sich ein Herz fassend, steht Akira von der Bank auf und geht wieder hinein ins Haus. Die Mutter sitzt im großen Hauptraum vor dem Fujkempfänger und hört die kaiserlichen Nachrichten, wie sie es jeden Abend macht.
Akira versucht über den Flur zu schleichen, doch sie bekommt es mit. Neugierig ruft sie seinen Namen durch die dünnen Papierwände und fragt lachend, ob er sich mittlerweile beruhigt hat. Sie nimmt ihn nicht ernst. Genauso wenig wie Shinji. Akira hasst heute alle Frauen.
Wieder verschwimmt die verhasste Welt vor seinen Augen, und weitere Tränen rennen über Akiras Wangen. Sie tropfen leise auf den Holzfußboden und hinterlassen salzige Flecken. Plötzlich will er einfach nur weg von hier. Er beginnt zu laufen, und immer schneller wechseln seine Füße. Mit einem gewaltigen Sprung verlässt er die Tür. Hinter ihm liegt das Lachen der Mutter, das Lachen Shinjis, wie sie ihn stehen lässt und mit ihren Freundinnen einfach davongeht.
Akira hört erst auf zu rennen, als er bereits die Spitze des kleinen Berges über dem Hafenbecken erreicht hat. Er dreht sich um und sieht die vielen hundert Kerzenscheinlichter in den tief unter ihm liegenden Fenstern der Häuser. Sie flackern wie die Sterne des beginnenden Nachthimmels.
Er kann nicht zurück. Diese Nacht nicht. Zu viele Probleme warten dort unten auf ihn.
Hinter der Bergspitze liegt versteckt in einer Senke ein kleiner Tannenhain. Ein Bild der Schönheit. Akira hat heute keine Augen dafür. Aufkommende Müdigkeit fängt den Jungen ein. Ein warmer Augustwind streichelt sanft die grünen Gräser unter den Bäumen. Er umgarnt Akira mit einem Hauch Hoffnung von Geborgenheit. Flache Mooshügelchen dienen ihm als willkommene Kopfkissen. Dann fallen auch schon seine Augen zu. Er wünscht sich noch schnell einen Traum über seinen Vater, der sich schon lange nicht mehr gemeldet hat, und sogleich entführt ihn tiefer Schlummer in eine andere, bessere Welt.
Am nächsten Morgen erwacht Akira unruhig. Morgendliches Licht kitzelt seine Augen. Aus der Stadt klingen entfernt helle Glocken. Erschrocken springt er auf und überlegt.
„Ich habe verschlafen!“, stellt er ängstlich fest. Nur langsam sickern die Erinnerungen des Vortages zurück in seine Gegenwart. Mit einem Mal ist der unbestimmte Hass des gestrigen Nachmittags zurück. Nun erinnert er sich wieder, und die Gefühle lodern von Neuem auf. Shinji! Er eilt auf die Hügelspitze und blickt hinunter in die Stadt.
Geschäftiges Treiben füllt die Straßen mit Leben. Die Fischer des Hafens bereiten ihre kleinen Boote für die zweite Ausfahrt vor. Und die Händler am nahen Markt bauen Stände auf, die mit dem frischen Fang belegt werden sollen. Auf der hohen Turmuhr sieht Akira den großen Minutenzeiger gerade an der Acht vorüberziehen. Gut, etwas Zeit bleibt ihm noch. Seine Probleme sind nicht gelöst, aber er will sich nicht weitere mit wiederholtem Fernbleiben vom Unterricht aufhalsen.
Nur Shinji will er heute morgen nicht begegnen. Sie ist bestimmt schon in der Schule. Er hasst sie noch immer. Doch sind diesen Morgen auch jene anderen Gefühle zurückgekehrt. Das Kribbeln und die unendliche Leichtigkeit. Die Liebe zu Shinji ist unverändert, denkt er sich, bedrückt und froh zugleich.
Derweil er so gedankenversunken über die Stadt hinwegschaut, bemerkt er, dass sein Magen hungrig knurrt.
In der Nähe eines der Nadelbäume sprießen saftige Pilze aus dem Boden. Gierig greifen seine Hände nach ihnen.
Den dritten Pilz verschlingt er gerade und tastet schon nach dem vierten, da blendet ein greller Schein seine Augen.
Für einen Augenblick glaubt Akira, die Sonne wäre explodiert. Doch ein neues Licht geht diesen Morgen über der Stadt auf. Die Luft um den Jungen herum scheint mit Millionen Grad zu brennen. Ihm fällt es schwer zu atmen. Ein gewaltiger Knall droht ihm mit einem Mal das Trommelfell zu zerreißen. Für einen Moment ist Akira wie betäubt. Heißer Wind weht ihn auf den Rücken und er starrt in einen roten Himmel. Kurz darauf ist die brennende Strahlung und der Donner vorbei, und die Konturen des Nadelhains kehren zurück. Ein Sturm braust über die Bergspitze hinweg. Reißt Erde, Gras und Äste mit sich, indessen liegt Akira geschützt in der Senke. Ihm wird ein kurzer Augenblick der Ruhe gegönnt, dann kehrt der Sturm aus der anderen Richtung zurück und bedeckt ihn mit dem erbeuteten Dreck.
Wie er Minuten später aufsteht, fallen Schwaden aus Staub von seiner Kleidung und gesellen sich zum Rest, der die umliegende Gegend wie ein Leichentuch überzieht. Gleichmaßen überlagert ein dumpfes Gefühl Akiras Sinne, verschleiert ihm die Sicht, den Geschmack und den Geruch. Unsicher auf den Füßen stapft er erneut auf die Bergspitze zu. Als er sie erreicht, ist er sprachlos von dem Bild, das sich ihm darbietet.
Dort, wo eben noch die Fischer an den Netzten ihrer Boote arbeiteten, ist nun nichts mehr. Der Markt der Händler ist verschwunden, genauso wie der Rest des Viertels. Akiras Schule gibt es nicht mehr. Ein Feuersturm hat sie in Asche verwandelt. Ein kleiner Haufen Asche sind nun auch sein Haus, der Baum im Garten und die kleine Bank darunter.
Akira sieht ein totes Feld vor sich, und ihm wird klar, dass Mutter, Shinji und alle anderen ebenfalls verbrannt sind. Verbrannt in einer Sekunde des Lichts. Kein Lachen ist mehr dort und kein Lächeln. Alle seine kleinen Probleme wurden auf einen Schlag zunichte gemacht. Alles Glück ist vergangen. Die Welt, in der er bis eben noch gelebt hat, ist weg, und alles, was er liebt, nunmehr tot. Kein Fünkchen Hass ist übrig. Kein irgendwas. Nur Staub und Asche sind ihm jetzt geblieben.
Während er leichengrau den Pfad am Berg hinuntertaumelt, breiten sich die Feuer in den hinteren Teilen Hiroshimas weiter aus. Sie werden noch Jahrzehnte wüten.