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Komm, zeig dich!

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15.12.2017
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Komm, zeig dich!

Eckehardt Vonderhöh war angekommen: Auf seinem Teppich vor dem Sofa. Er fand sich in misslicher Bauchlage. Entweder er riskierte einen Hexenschuss oder er ertrug sein Übergewicht, das schmerzlich auf seiner strammen Erektion lastete. Das Eigenleben der Dinge um ihn her beschielte er durch das Grün einer Flasche, die er am Vorabend sorgsam entkorkt beim Plattenspieler abgestellt hatte. Inhaltslos lag sie dicht vor seinen Augen und filterte das grelle Morgenlicht. Behutsam drehte er das Becken und zog ein Knie an. Zeig dich! hatte er sich in seinem Traum rufen hören. Bis auf diese letzten Worte war seine Erinnerung verblasst, blockiert. Kein Bild. Nichts. Weg. Komm, zeig dich!
Die in der Auslaufrille der Schallplatte gefangene Nadel tropfte ihm einen schlurfenden Ton auf die Schläfen. Vom Plattencover zwinkerte ihm der von einem übermannshohen Reisigbündel gebeugte, vor blätternder Tapete abgebildete Alte zu. Vonderhöh erwartete den Moment, in dem der Greis seinen knorrigen Stock heben und „komm mit“ flüstern würde. „Ich wäre dabei“, meinte Vonderhöh und erschrak über das Metallene seiner inneren Stimme, die ihm immer verächtlicher dreinredete. Die Fernbedienung stoppte das quälende Klopfen.
Sein Handy dudelte. Vonderhöh blickte zum Rand des Couchtischs, zu hoch für den erlahmten Arm. Er setzte sich auf, wenngleich dabei der Kopf zu bersten drohte. Nun hatte der Anrufer aufgegeben. Der schale Geruch aus dem Weinkelch auf dem Tisch verstärkte den Ekel, den Vonderhöh für sich und seinen Zustand empfand. Tabletten würden helfen. Gleich zwei Dragées schüttelte er aus der Packung, die er von der Tischplatte gefischt hatte. Der laue Schluck aus einer Wasserflasche genügte ihm zum Spülen. Von der Anstrengung benommen, erwartete er die Wirkung des Medikaments, das ihm eine heitere Passivität bescheren sollte.
Dr. Jakinski hatte ihm eine Erinnerung an seinen Termin am Nachmittag auf die Mailbox gesprochen. Immerhin ein Grund, um aufzustehen. Beträchtliche Mengen Leergutes verengten den Gang zur Küche hin. Er bediente die Espressomaschine. Die Tabletten wollten nicht wirken. Vonderhöh fühlte sich bleiern und zugleich in den Tag hineingetrieben.
Die Beule in seiner Hose hatte sich im Einklang mit seinem Traum verflüchtigt. Unter der Dusche legte er sich das schlaffe Glied auf die Hand. Während ihm das heiße Wasser über die Haut lief, mochte sich keine Sympathie zwischen Objekt und Betrachter einstellen. Vonderhöh spürte die Entfremdung zwischen sich und dem gleichgültig wirkenden Muskel, obwohl dieser doch ein Teil von ihm war, ein namenloser Kumpan, mit dem er so manches Abenteuer bestanden, und der ihn außer im Zustand der Volltrunkenheit nie im Stich gelassen hatte. Nichts verriet etwas von dem Ungehorsam und der Aufsässigkeit des männlichen Glieds, für die sich Montaigne sogar zu einem Plädoyer veranlasst gesehen hatte. In seinen Träumen erwies sich Vonderhöhs Libido als völlig intakt. Im Alltag schien sie ihm jedoch abhandengekommen zu sein, degeneriert. Sein Glied, für das er endlich einen Namen finden wollte, zeigte das Verhalten eines domestizierten Tieres, eines Katers etwa, dem der Reiz der Jagd abhandengekommen war, der sich mit ein paar gelegentlichen Streicheleinheiten begnügte, dafür mit einer oft zu sparsam dosierten Ladung an Glückshormonen geizte. Deren Mangel zog Vonderhöh immer tiefer ins Unglück, sodass er beständig trank und sank.
„Grrr! Was willst du?“ Vonderhöh knurrte und fauchte, packte seinen Schwanz wie man ein Tier beim Nacken packte, watschte ihn ab und schob dessen Schlaffheit auf die Nebenwirkungen des Medikaments, das Vonderhöh bei Laune hielt. „Was uns fehlt, ist Leidenschaft!“ Indem er abließ, war er sich gar nicht mehr so sicher, ob er sich neues Leiden schaffen wollte.
In einer Apotheke auf der Berger Straße löste Vonderhöh ein Rezept ein und versorgte sich mit einem Vorrat an Stimmungsaufhellern, von denen er zwei einnahm und sie zu pappigem Mehl zerkaute. Sonnenbebrillt trat er durch den Torbogen zum Günthersburgpark. Anleinpflicht für Hunde. Das war neu. Grober Kies knirschte unter seinen Schritten durch den Park.
Um ein fünf mal fünf Schritte breites Schachfeld hatten sich die ersten Spieler zusammengetan. Zwei von ihnen führten kniehohe Holzfiguren gegeneinander. Jugos, die er politisch korrekt als Serben, Kroaten oder Bosnier hätte bezeichnen müssen. Jugos also, zumal er es ja für sich behielt.
„Servus Ecki!“ Er wurde am Sakko gezupft. „Ich wusste, dass du wiederkommst.“
Vonderhöh hatte Jacksons Rock-n-Rollstuhl nicht kommen hören. Jackson, dessen wahren Namen er nicht kannte, sah nach noch weniger als bei ihrer letzten Begegnung aus, als würde er von der aufgedunsenen Trommel unter seinem T-Shirt unaufhaltsam eingesogen. Vonderhöh ergriff die Bügel des Rollstuhls und schob ihn neben eine Holzbank, wo ihnen die Sonne zu gleichen Teilen ins Gesicht scheinen konnte.
„Oh, was Feines.“ Jackson nahm die angebotene Zigarette. Sie sahen den Jugos beim Spiel zu und der, ja, der was? Was hatte Vonderhöh da vor sich? Einen Krüppel, einen Invaliden? Ein Wrack, das sich nicht sonderlich gesprächig gab? Vielleicht hat er beim letzten Mal alles erzählt, was es über ihn zu sagen gibt, dachte Vonderhöh. Jackson, ehemaliger Rock- und Bluesgitarrist. Nacht für Nacht mit britischen Blueslegenden auf Tour. Bis seine Frau die Schnauze voll und sich einen Spürbaren gesucht hatte, einen, der ihr im Bett den kalten Hintern wärmte. Von da an einsam, spielte sich der Blues ganz von selbst. Gin, eine Menge Gin half dabei. Aber niemals Drogen! Keine Drogen. Nur Gin, reinen Gin. Dann hatte ihn das Schicksal mitten im Solo niedergestreckt. Ein paar reizende Hüftschwünge gegen den Lichtmast bei der Bühne hatten genügt, um einen Scheinwerfer zu lockern. Von der Decke ins Kreuz, zwei Wirbel zertrümmert. Die Versicherung zahlte nicht, der Veranstalter ging Pleite und Jackson in ein Wohnheim der AWO.
Rock im Stuhl, das kam dann nicht so gut. Aus. Und dann kam noch die Sache mit der Leber - genetisch. Das gab‘s ja, dass man ein schwaches Organ erbte, ein Stück schwammiges Gewebe, das von innen her wie ein launischer Marder zubiss. Jackson bat um eine neue Zigarette, die er an der ersten entzündete.
„Was sagt denn der Arzt?“
„Arzt?“
„Kann man da denn nichts machen?“
„Doch, doch,“ sagte Jackson, „ich arbeite daran.“
Vonderhöh bemerkte, wie ähnlich sie sich waren. Trüge er sein schütteres Haar auch auf Schulterlänge, dann sähen sie aus wie zwei Mönchskraniche mit silbrigem Ziergefieder. Auf jeden Fall aber würde Vonderhöh als der Jüngere von beiden durchgehen. Seine Züge wiesen weit weniger Gebrauchsspuren auf.
„Schon mal was von psychogenem Tod gehört, Ecki?“
„Nicht wirklich.“
„Voodoo?“
„Klar.“
„Man hat gemeint, das geht nur in primitiven Kulturen. Dass einer nur mit seinem Willen oder wegen dem Aberglauben eben, einen anderen umbringen kann. Oder sogar sich selbst - aber Sache ist, Ecki, dass das geht.“
„Dass sich einer mit dem Hirn umbringt?“ Seine Zweifel waren Vonderhöh anzusehen. „Weil einer das will?“
„Genau! Nicht nicht leben wollen, sondern wollen, sterben wollen! Verstehst du, Ecki? Wie der Panther hinter den Stäben, oder? Mehr so das Tier in uns - oder einfacher: fressen, saufen, ficken, tanzen ... wenn da nix mehr ist - das Leben ein Unglück. Warum also nicht das Ende als Glücks-Wunsch? Die Leute glauben doch auch, dass sie sich jeden Scheiß beim Universum bestellen können. Dein Parkplatz kommt, wenn du‘s nur wirklich willst. Verstehste? Warum also auch nicht Feierabend auf Bestellung? If you can dream it, you can do it! Verstehste? Also ich arbeite dran ...“
Die Jugos stritten. Immer die allzu verletzliche Ehre mit im Spiel. Machoscheiße, dachte Vonderhöh.
Der Park hatte sich belebt. Mütter schoben ihre Kinderwagen zum Spielplatz. Vonderhöh erinnerte sich der ersten Monate mit der kleinen Ciara, sah im Gedanken, wie er seine Tochter in das Netz der großen Schaukel legte, sie sanft in alle Richtungen schwang, während sie versuchte, ihr Gleichgewicht zu finden. Immer wieder wollte sie sich aufrichten, verlor den Halt und purzelte auf den von Windeln gepolsterten Hosenboden. Rollte auf den Rücken, schaute in den Himmel. Jetzt war sie achtzehn.
„Was geht bei dir denn eigentlich musikmäßig so ab?“, wollte Jackson wissen.
„Dies und das. Gestern bin ich mit Plant eingeschlafen.“
Jackson rückte seinen Rumpf zurecht und hob an.
There’s a lady who’s sure – all that glitters is gold ...ooh, it makes me wonder …
Sein gebeizter Ton wehte durch zerfledderte Stimmbänder, kraftvoll und doch sanft, bis sein Adamsapfel davongaloppierte.
„Robert Plant, geiler Sänger, gell?“
„Nein, Mann, du singst geil.“
„Ja, geile Stimme. Für Telefonsex reicht’s noch. Oder haste schon mal eine Rampensau im Rollstuhl gesehen? Verstehste, Ecki, verstehste?“ Jackson senkte Kinn und Stimme: “Hello Baby. Ficki, ficki?“ Zeigefinger und Daumen glitten zwischen die schmatzenden Lippen, ruckten unter lustvollem Saugen und brachten einen zerklüfteten Backenzahn hervor. „Da waren‘s nur noch drei ...“ Er hielt den maroden Zahn gegen das Licht, spie blutigen Schleim ins Gras und warf den Zahn in hohem Bogen ins Gebüsch neben der Bank. „Bin ja kompostierbar, organisch, ewiger Kreislauf, verstehste, Ecki? ...
ooh, it makes we wonder ...
Sie teilten die letzte Zigarette.
„Was glaubst du, Ecki, haben Engel Eier?“
„Und? Haben sie?“
„Schließlich haben sie ja auch Männernamen.“ Jackson drückte die Zigarette auf der Armlehne aus und entließ den Rauch aus seiner Brust.
„Michael und wie heißt der andere, der Türsteher?“
„Gabriel“.
„Dem würde ich nämlich gerne in seine Eier treten, wenn er meint, ich hätte in seinem Club nix zu suchen. Rock-n-Roll! Verstehste? Ich geh‘ da rein“.
„Und ich geh‘ uns Kaffee holen.“ Vonderhöh nahm den Weg zu einem Kiosk, das gerade seine Läden öffnete und erstes Publikum unter einer riesigen Platane anzog. Vielleicht erinnerte sich der füllige Grieche noch an ihn, den Hausmann, an den Mann mit der süßen Tochter, die von allen beachtet wurden. Schau doch, wie toll er mit dem Kind umgehen kann! Bewundernde Blicke, die bisweilen in Zweideutigkeit abglitten. Was für ein heißer Vater! Wortlose Offerten, vor denen er die Flucht ergriffen hatte. Schließlich war er ja ein verheirateter Mann gewesen. Und im Nachhinein bedacht, ein Idiot der verpassten Gelegenheiten. Plump und schlüpfrig hätten seine Avancen sein müssen.
Das Angebot auf der Tafel war ganz auf die Kundschaft abgestimmt: Koffeinfreier Latte Macchiato. Und wenn manche könnten, dann würden sie laktosefrei stillen, dachte Vonderhöh und bestellte zwei doppelte Espressi. „Zum Mitnehmen.“ Die Bedienung war neu, der Grieche nicht da.
Wäre es rechtens, einem Säufer einen Cognac zu spendieren? „Was meinen Sie?“, fragte er eine sahnehäutige, von Östrogen verstrahlte, so eine blasse, sommersprossige, deren Erdbeernippel er fast schmecken konnte.
„Cognac zum Kaffee, meine ich.“
„Ist das nicht ein bisschen früh am Tag?“ Aber er sei ja alt genug, meinte sie.
Alt? Das tat weh. Eckehardt Vonderhöh, so einer von der netten Sorte! Vertrauenswürdig. Schlimmer noch: Harmlos! Sicher sah man ihm seine Schlappheit schon an. Keinen Sexappeal, keine Ausstrahlung. Glanz nur noch in seinen fettigen Strähnen. Wir brauchen mehr Leidenschaft, dachte er.
Er kaufte einen Flachmann der einzigen Branntweinsorte.
„Schade, dass ich erwartet werde ...“
Das klang vielsagend, hatte Esprit. Doch der Effekt blieb aus. Sie wünschte ihm viel Vergnügen bei seiner Verabredung.
Ob sie sich über seine erhitzten Ohrläppchen amüsierte?
Gestürzt von weißer Dame und Turm lag der schwarze König am Rand des Spielfeldes. Die Jugos standen um Jacksons Rollstuhl versammelt. Vonderhöh schob einen von ihnen beiseite und drückte ihm beide Kaffeebecher in die Hände.
„Scheiße. Typ kaputt,“ sagte der Jugo.
Als Vonderhöh das Lächeln auf Jacksons Gesicht sah, wusste er: Vor der Himmelspforte musste sich gerade der Erzengel krümmen, japste nach Luft und presste die Hände zwischen die Beine, derweil Jackson auf die ganz große Bühne trat - tosender Beifall aus allen Wolken. … oh it makes me wonder …
Die Sirene verstummte in dem Moment, in dem der Rettungswagen in den Park einfuhr. Zu schnell, viel zu schnell! Vonderhöh trat aus dem Kreis, rannte dem Wagen entgegen. Sein rechter Fuß glitt über Hundekot. Die Bänder um den Knöchel hatten Mühe, das Gelenk beisammenzuhalten. Theatralisch anmutend sank er ins Gras. Gleich bremste der Wagen. Ein Sanitäter kam auf ihn zu gerannt und beugte sich über ihn.
„Sind Sie der Notfall?“
„Wie man‘s nimmt.“ Willig ließ er sich aufsetzen und jammerte. Noch nie hatte er einen Schmerz fast freudig ertragen. Sein Lamento vergrößerte Jacksons Vorsprung. Vonderhöh fühlte Teil von etwas Gewaltigem zu sein, etwas zwischen Leben oder Tod; von etwas, das man ohne nachzudenken wagte.
„Chef! Hier!“, rief der Jugo mit den Pappbechern dem Sani zu und deutete mit dem Kinn auf den leblosen Körper im Rollstuhl.
„Sie bleiben einfach sitzen! Klar?“ Der Retter eilte zum verzögerten Einsatz.
Hinter den Rücken der Gaffer humpelte Vonderhöh aus dem Park. Da helfen keine Schilder, dachte er, derweil er den Hundekot von der Schuhsohle an einem Mauersockel abstrich.
Sein Weg glich dem wirren Muster seiner Gedanken, dem er folgte, bis die Sonne im Zenit stand. Der Fuß war angeschwollen und Vonderhöh entschied sich für die U-Bahn. Die U 4 brachte ihn zur Station Westend. Er nickte den Polizisten vor der Synagoge zu. An der Pforte einer Villa suchte er nach dem Namensschild. Dr. Genoveva Jakinski, Psychologin und Psychotherapeutin. Automatischer Einlass, kein Personal am Empfang.
Er wartete zwischen einer Reihe klischeehafter Bauhaussessel und betrachtete einen ins Matisseblau stürzenden Ikarus, dem das knallrote Herz zu flattern schien. Dr. Jakinski voraus, kam ihm eine aufgeregt gestikulierende Frau entgegen. Ihre Stimme wog schwer wie die goldenen Reifen und Ringe, die Hals und Finger zierten. Ein orientalisch anmutender, türkisfarbener und von Goldfäden durchzogener Schal rahmte ihr herbes, vornehmes Gesicht. Ihre Haut schimmerte zwischen olivfarben und kupfern. Sie schämte sich ihrer Tränen nicht. Als sie ihn bemerkte, schlug ihr Blick ins Gebieterische um. Ihre schwarzen Augen schienen ihn zu durchschauen, ja zu entblößen, so dass Vonderhöh ein paar Anläufe benötigte, bis er ihrem Blick standhielt. Sie warf sich einen leichten Mantel über, wobei ihr Körper einen Hauch von Aprikosenduft verströmte. Sie blieben wortlos bis sie ging.
Frau Dr. Jakinski begrüßte ihn und entschuldigte sich für ihr organisatorisches Missgeschick. Patienten sollten sich nicht begegnen, Diskretion sollte gewahrt bleiben. Mit einem ausgestreckten Zeigefinger über ihren Lippen gab sie Vonderhöh zu verstehen, dass er sich die ihm anzusehende Frage nach der rätselhaften Erscheinung ersparen könne. Eher beiläufig, mit dem Signieren einiger Formulare beschäftigt, erkundigte sie sich nach der Ursache der düsteren Gedanken, die ihn quälten.
Genoveva Jakinski, wildes Mädchen, Ex-Kommunardin - sit in, teach in, petting. Weißgraue Strähnen durchzogen ihr dunkles Haar. Er beobachtete sie, bis sie ihre Notizen beendet hatte. Wie gut kannte sie die Frau im Schleier? Was war der Grund für die Tränen? Ob man die Hundescheiße unter seinen Sohlen riechen konnte? Ob sie …
„Aber bitte, machen sie sich’s bequem, Herr Vonderhöh.“
„Da?“, fragte er mit Blick auf die Couch, die mit einer sandfarbenen Decke überworfen war. Er zögerte. Sollte er sich da hinlegen – Nieder-Lage? Ein Eingeständnis?
Er bevorzugte einen der beiden Ledersessel, die anscheinend ohne therapeutischen Zweck beieinanderstanden. Er zog sein Sakko zusammen, kreuzte die Beine und bedankte sich für das Glas Wasser, das sie ihm in Reichweite auf das Fenstersims stellte.
Sie setzte sich ihm gegenüber. Wie sich seine Nöte denn äußerten, wollte sie wissen.
Er sei reizbar und immerzu müde.
Deprimiert?
Nein, nur müde - von einer Depression weit entfernt - einfach müde. Schlaff wollte er nicht sagen.
„Medikamente?“
„Ja.“ Stille. Warten. „Fluvoxamin.“
Notiz.
„Träume?“
Nein. Man musste ja nicht gleich mit der Türe ins Haus oder mit dem Problem auf die Couch fallen.
„Trinken?“
In Maßen. Was bitteschön, hatte das mit seinem Problem zu tun?
„Libido?“
„Libi-was?“
„Was ist denn Ihr Problem?“
„Das sollen Sie mir doch sagen.“ Er spürte, dass er ihr ein Angebot machen musste. „Ach ja, da ist dieser Alte. Kennen Sie Led Zeppelin?“
Schon mal gehört, früher.
„Der Alte auf der Plattenhülle - jedenfalls, der schaut mich immer so an. Diese Platte müssen Sie wissen. Ich habe sie schon so lange. Jetzt höre ich sie wieder. Oft. Stairway To Heaven. Und manchmal denk ich... “
Ooh, it makes me wonder …, dacht er.
Das klang ziemlich schwachsinnig, fand er.
„Das macht Ihnen Angst?“
„Nein. Eigentlich nicht – nein.“
Beide verfielen in Schweigen, zäh wie Teig.
„Herr Vonderhöh. Wieso sind Sie hier?“
Sollte er wirklich? Gleich? Sie kannten sich ja kaum. Musste man sich denn gleich anbiedern oder gar seine Seele auskotzen? Mann, Frau Doktor!
„An mir soll’s nicht liegen.“ Damit erklärte Dr. Jakinski die Sitzung für beendet. „Sie müssen schon wollen, Herr Vonderhöh.“
„Wollen?“ - Wollen, Willen! Leidenschaft! Wir brauchen mehr Leidenschaft! dachte er.
„Ich komme wieder – ich ruf’ an – bestimmt.“, sagte er. Kaum war er vor die Türe getreten, verlangte es ihn nach einer Zigarette. Er entsann sich der letzten, der mit Jackson geteilten. Starker Abgang, dachte Vonderhöh. Wie tief musste er sinken, um so stark wie Jackson zu werden? Mit welcher Leichtigkeit sich der aus dem Leben geschlichen hatte. Psychogen eben, weil er es so wollte.
Ooh, it makes me wonder …
Vonderhöh atmete durch und wünschte sich den Hauch von Aprikose zurück, mit dem er hätte die Witterung aufnehmen können. Er kam am Brunnen vor der Alten Oper vorbei - unter dem in goldenen Lettern eingemeißelten Sinnspruch Dem Guten, Wahren und Schönen. Zwei Straßenzüge weiter, Taunusstraße rechter Hand, Puff, Bar, Bordell, Döner, Puff, Casino, Puff. Rucksacktouristen strichen um die Dildo-Shops und bestaunten technische Entwicklungen auf dem Gebiet der Lustbereitung, eigener wie fremder.
Vonderhöh wich einem Trupp aufgebrachter Demonstrantinnen aus, die zu einer Nuttenbefreiungsaktion angetreten waren. „Lies mal, du Wichser.“ Eine Frau mit Plästinenserschal hielt ihm ein Flugblatt entgegen. „Grins nicht so blöd, Mann!“
Vonderhöh wechselte die Straßenseite. Dort stieß er auf einen muslimischen Familienverband, der im Sündenpfuhl des Bahnhofsviertels unterwegs war. Der Tschador diente den Frauen als Schutzmantel gegen den Atem des Iblis, gegen den Fluch der bösen Dschinn, die aus dem Höllenrot der Peepshows über den Gehsteig wehten. Es hätte Vonderhöh nicht gewundert, wenn sie unter ihren Gewändern Gummistiefel gegen den teuflischen Morast getragen hätten. Quietschgelbe stellte er sich vor und lachte dem polygamen Anführer entgegen.
Am Eingang zum Crazy Sexy rempelte ihn ein Freier in Nadelstreifen an, weil dieser noch mit der Montage seines protzigen Armbandchronometers beschäftigt war.
„Schönes Teil. Tik-tak.“ Vonderhöh verweilte an der Schwelle nach Sodom und Gomorrha. Auf eine erhöhte Pillendosis hätte er verzichten sollen. Der Gaumen trocknete aus und die Aufheller sorgten für ein mentales Zwischenhoch, dass ihm die Mundwinkel zuckten und er aussah, als flirte er mit jedem Freier, der ihm aus dem Crazy Sexy entgegentrat. Bis sich ein Mann, etwa gleich groß wie breit gebaut, in Bomberjacke und Kickboxerhose aus einer russischsprachigen Versammlung am Kotflügel einer Luxuslimousine löste und sich breitbeinig, mit einer Hand im Schritt, auf den Entzückten zu schob. Mit affig gekrümmtem Arm bedeutete der Lude, dass Vonderhöhs Amüsement auf Kosten der Geschäfte gehe. „Väpissdisch, Altherr! Chopp, chopp!“ Russisch gefärbtes Hessisch, Hussisch, dachte Vonderhöh.
Eine Spur von Aprikosenduft stieg ihm in die Nase und von dort aus wohlig ins Gedärm. Vor dem Crazy Sexy drehte sie sich kurz um, versicherte sich, dass ihr niemand gefolgt war, übersah ihn und nahm ihren Schal beim Eintreten ab. Sie trug ihr rotgetöntes Haar burschikos kurz geschnitten, bot ihm einen grazilen Hals dar und verschwand im Gebäude.
Unzählige Türen links wie rechts. Eine süßliche Melange aus Gleitmitteln, Duftspendern und Desinfektionssprays überdeckte die Fährte. Auf der Oberfläche des Kloakenstromes zirzten die Sirenen. Nimm mich! Nein, mich! Indessen versuchte er rudernd das Ende des Flurs zu erreichen. Frau Lunas Mandelaugen. Thai-Massage? Vonderhöh stieß das Mondgesicht beiseite. Latina-Flüche und slawische Verwünschungen droschen auf ihn ein. Die Pestwelle brach am Ende des Ganges. Eine Klinke bot Halt. Sackgasse. Zeig dich! Und das Schild da? Das machte doch keinen Sinn! Auch Anfängern behilflich. Mit jedem Schritt erschien ihm die lüsterne Welt vertrauter, als habe er sie bereits tausendmal geträumt. Im diffusen Licht ein Schatten, ihre schlanke Silhouette, im Puff, dritte Etage, Vorderbau. Er folgte ihr. Sie verschwand in einem Zimmer, vor dem ihn ein Schwarm blendend geschminkter Münder zu umzingeln drohte. Ein Leiberknäuel aus Lackleder, Haut und Strass teilte sich vor ihm und schob ihn vor sich her. Vonderhöh sah sich umringt von wohlgelaunten Transen, zwitterhafte Wunderwesen, oben Frau unten Mann. Der Unterleib, lieblich, von allem Animalischen, von bocksbehaarter Mannsgewalt befreit. Glieder, zart und appetitlich wie kräftiges Lendensteak, fein gesalbt und glattrasiert. Vonderhöhs namenloser Kamerad regte sich freudig wie ein verloren geglaubter Artgenosse, der zu seiner Herde gefunden hatte.
Ihre geöffnete Bluse offenbarte handliche, silikonfreie Brüste. Vonderhöh bewunderte den wohlgeformten Reichtum, der ihm zwischen ihren Schenkeln entgegenwuchs, sich zwischen ihren schmalen Hüften aufrichtete, um ihm die Richtung vorzugeben. „Komm, zeig dich!“ sagte sie und tätschelte das Lager neben sich. Sie hieß Fereni, wie die persische Süßspeise. Seinen Schwanz nannte sie Zob, wie in Tausendundeine Nacht. Vonderhöh ließ sich sinken, gab und nahm, und kostete reichlich.

 
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Hola @HenryFunk,

willkommen im Klub! Deinen Text finde ich sehr interessant – weniger vom Inhalt her, sondern wegen Deiner überragenden Art zu schreiben, und besonders wegen der Zwiespältigkeit, mit der er auf mich wirkt.
Rasant geschrieben, ohne Frage. Da denke ich tatsächlich an einen rasenden Reporter. Was dem alles einfällt, wie brillant er das umsetzt und aneinander reiht! Wortreichtum, jede Menge Humor, Weltläufigkeit – alles da. Alle Achtung. Da sind sicherlich schon einige Tausend an Meilen auf Deinem Schreibtacho. Auf mich wirkt das professionell. Und es ist fehlerfrei!

Wenn ich im Sinne einer Kritik etwas anmerken dürfte, dann ist das die Rückseite der professionellen Schreibart: Die überrumpelt mich.
Als Normal-Leser kommt mir in den Sinn, dass hier entweder jemand ein gut sortiertes Hirn oder einen gut sortierten Zettelkasten hat. Es folgt Gag auf Gag.
Es gibt ja die Redewendung ‚Schlag auf Schlag’; eine bunte Abfolge von unterhaltsamen Bildern und Szenen. Leicht vorstellbar, dass Du auf diese Weise auch ein dickes Buch schreiben könntest – so ein Text lässt sich wie ein Endlos-Teleskop in die Länge ziehen.
Wie lange der Leser bei der Stange bleibt, ist offen.
Mir ging es so, dass ich nach rauschendem Start und anfänglicher Begeisterung

HenriFunk schrieb:
(Eine Klinke bot Halt.)
langsam die Aufmerksamkeit verlor, weil im bunten Reigen nichts signalisierte, dass sich etwas entwickelt – in welche Richtung auch immer.

Weil sich aus meiner Sicht nichts entwickelt, ist auch das Ende beliebig. Wo und wie der Text zu Ende geht, spielt demzufolge keine Rolle.

Auch wenn ich Deine ‚Schreibe’ mag, z.B. der letzte Satz ...

Vonderhöh ließ sich sinken, gab und nahm, und kostete reichlich.
..., vermeine ich aber auch eine Spur Eitelkeit des Autors wahrzunehmen, wie er versucht, dem Leser zu imponieren
HenriFunk schrieb:
(von bocksbehaarter Mannsgewalt befreit).
Vielleicht hab ich für so etwas eine besondere Empfindlichkeit, nur ist es so, dass sich auf diese Weise keine Tiefe erzielen lässt. Zu pointenreich ist der Text, als dass mich außer einem hohen Amüsierfaktor noch andere Emotionen überkommen (könnten).
Und den tag ‚Philosophisches’ finde ich nicht unbedingt notwendig. Aber möglich, dass ich etwas nicht registriert habe.

Lieber HenriFunk, in Deinem Text geht wirklich die Post ab. Meine Quengeleien beruhen auf meinem persönlichen Leseeindruck – und der ist unmaßgeblich.

Schöne Grüße!
José

 
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Josè, vielen Dank für Bedenkenswertes. Dein Eindruck trügt nicht: ich fabuliere einfach gerne. Ich hoffe einen Weg zu finden, an der "Dramaturgie" meiner Geschichten zu arbeiten (darum bin ich ja diesem Forum beigetreten). Hierzu ist konstruktive Kritik sicher hilfreich. Wobei ich allerdings das Gefühl habe, dass sich auch in dieser Geschichte schrittweise alles langsam aneinanderreiht, indem einer findet, was er braucht und die Bilder nicht wahllos gewählt sind, die ihn dorthin führen ... nochmals Danke! Gerne mehr von dir ...

 

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