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Kopfüber

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14.05.2022
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Kopfüber

Das Papier in ihren Händen ist feucht. Ihre Finger sind durchgehend damit beschäftigt, es zusammen- und wieder auseinander zu falten. Noch ein paar Mal mehr und man kann die Schrift zwischen all den Knickfalten nicht mehr lesen. Sie weiß auswendig, was dort geschrieben steht – dank tagelangem Starren auf die Kühlschranktür, wo der Flyer bis heute morgen hing. Je näher das fett gedruckte Datum gerückt war, desto öfter hatte sie mit dem Kühlschrankgriff in der Hand vergessen, warum sie ihn öffnen wollte.
Das Datum ist heute, die Uhrzeit in wenigen Minuten erreicht. Und sie kann noch immer nicht glauben, dass sie hier ist.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nicht herzukommen. Sie hätte auf dem Sofa liegen und sich rentnermäßig von einer dieser Freitagabend-Talkshows einlullen lassen können, um sich von der Woche zu erholen. Aber manche Entscheidungen fällt man, ohne dass man selbst etwas davon mitbekommt. Dann sieht man sich selbst dabei zu, wie man wie fremdgesteuert in die Bahn steigt, wie man den Namen einer Station hört, wie man auftsteht und aussteigt, wie man in einer Schlange zwischen kulturinteressierten Stadtmenschen steht, wie man einen Saal betritt, sich setzt, auf einen Vorhang starrt.
Neun Jahre ist es her. Neun Jahre lang nichts gesehen, nichts gehört und vor allem nicht aufgehört, an sie zu denken. Vor zwei Wochen dann ein Umschlag in der Post. Ohne Absender. Nur dieser Flyer mit einem winzigen Post-It:

Meine erste Hauptrolle, Momo. Würde mich freuen, wenn du kommst.
P.S.: Jedes Wort kam kopfüber.

Der Türrahmen von Niekes Zimmer hatte damals so eine Stange. Ständig hing sie dort wie ein Affe und sagte Zeilen für irgendeine Rolle in der Theater-AG auf, mit hochrotem Kopf und hervortretender Ader auf der Stirn. Ihre Erklärung: Die Worte, die beim Lesen nach unten rutschten, mussten eben wieder hoch in den Kopf kommen, wenn sie sie wieder haben wollte. Sowas Bescheuertes. Mona saß dabei mit Zetteln im Schoß auf Niekes Bett, korrigierte sie beim Aufsagen und stellte fest, wie fremd ein verkehrtherumes Gesicht mit der Zeit aussah, selbst wenn man es noch so gut kannte.

Der Saal füllt sich mit gedämpften Stimmen und deren Körpern, die sich auf der Suche nach ihren Plätzen ducken und entschuldigen. (Links von ihr das typische Deutschlehrer-Gesicht: ein grauer Herr mit unmoderner Brille und Schnäuzer, rechts von ihr ein zurechtgemachtes Paar, vielleicht in ihrem Alter.) Ihre Hand hält noch immer nicht still. Erst recht nicht jetzt, als die Lichter sich verdunkeln und alles Gemurmel verebbt. Ihre schwitzige Haut saugt vermutlich gerade die restliche Druckerschwärze auf. Es ist vollkommen still, aber das Ding in ihrer Brust schlägt so laut, dass es in ihren Ohren pulsiert. Neun Jahre. Verdammt nochmal.
Der Vorhang geht auf.
Als die ersten drei Schauspieler die Bühne betreten, schaut sie panisch von einem zum anderen und ist fast erleichtert, dass es sich bei keinem von ihnen um Nieke handelt. Dann versucht sie, ihre Sinne auf das zu konzentrieren, was aus ihren Mündern kommt. Eine hoffnungslose Angelegenheit.
Zweite Szene. Neue Schauspieler. Nieke betritt die Bühne. Ihr Blick geht durch den Raum. Gehört das zum Spiel? Mona hält die Luft an, jeder Muskel verkrampft sich. Ihre Blicke treffen sich.

 

@Rob F
Hallo Rob, danke dir für das Feedback!

Du hast schon recht, vielleicht hätte man bis zum Schluss noch mehr erzählen können. In meinem Kopf war es auch fast eher sowas wie ein Prolog statt einer Kurzgeschichte, wahrscheinlich war mein Problem dann auch, dass ich selbst noch nicht genau genug weiß, was danach kommen könnte. Wobei das offene Ende natürlich gewollt ist, ob jetzt als erster Teil von mehr, um die Spannung anzuhalten, oder als KG für die eigene Interpretation.
Und das Problem mit den zwei "sie's" hab ich irgendwie oft und bin dann selber von der Überlegerei genervt, wann man zum Verständnis besser den Namen nennt und wann nicht... bin allerdings auch kein Fan von der Ich-Perspektive. Schwierig :-)

Viele Grüße
Lisa

 

Moin @Tapete,

also Geschichte gelesen und deine Antwort auf @Rob F's Beitrag. Und genau da finde ich das, was mir ein wenig fehlt:

wahrscheinlich war mein Problem dann auch, dass ich selbst noch nicht genau genug weiß, was danach kommen könnte.
Nicht das Ende ist das Problem, aus meiner Sicht, sondern was DAVOR etwas zu sparsam dargestellt ist. Mit dem Ende, den Blicken, die sich treffen, kann ich gut leben. Dann, wenn diese Blicke eine beschriebene Spannung auflösen, einen Knoten entwirren. Dazu müsste ich aber beide besser kennenlernen. Du hast da was im Kopf, was zwischen beiden geschah oder sich entwickelte, aber das hast du uns nicht alles mitgeteilt. So habe ich das Gefühl.

Das ist, so habe ich in letzter Zeit - auch woanders - den Eindruck, ein Hauptproblem. Nicht das Ende, sondern der Weg dorthin. Schreibtechnisch sehe ich da keine Hindernisse. Hier und da kann man schrauben, etwa:

Dann sieht man sich selbst dabei zu, wie man wie fremdgesteuert in die Bahn steigt, wie man den Namen einer Station hört, wie man auftsteht und aussteigt, wie man in einer Schlange zwischen kulturinteressierten Stadtmenschen steht, wie man einen Saal betritt, sich setzt, auf einen Vorhang starrt.
Lange Sätze finde ich gut. Aber dann müssen sie fließen ...
Dann sieht man sich selbst dabei zu, wie man fremdgesteuert in die Bahn steigt, den Namen einer Station hört, aufsteht und aussteigt, in einer Schlange zwischen kulturinteressierten Stadtmenschen steht, endlich den entscheidenden Saal betritt, sich setzt und auf einen Vorhang starrt.
Hier kann ich einfach so durchlesen ...

Doch alles in allem ist da Spannung und ich will mehr wissen über das, was da NICHT steht.

Grüße
Morphin

 

@Morphin Hi, auch dir danke für's Feedback! Sehe ich alles ein und finde es hilfreich. Werde da nochmal drüber gehen, wenn mehr daraus wird. Wenn man selbst mehr weiß, ergibt sich die "längere Strecke" bis zum Ende wahrscheinlich automatisch...

Gruß, Lisa

 

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