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Leben - Ein Abschiedsbrief
- Ein Abschiedsbrief -
Ich gehe niemals mit Schuhen über meinen Teppich.
Das hat nichts mit übertriebener Reinlichkeit zu tun, nein, ich will nur nicht, dass er mich unnötig Geld kostet. Haben Sie schon einmal in einer Reinigung einen ganzen Teppich reinigen lassen? Warum also nicht einfach vor der Tür die Schuhe ausziehen und in Socken gehen?
Ich will nicht, dass Sie denken, ich sei geizig. Das bin ich nicht, weiß Gott nicht. Ich lebe in einem Apartment direkt in New York City. Ich habe direkten Ausblick auf die Skyline und habe meine Wohnung von einem professionellen Innenarchitekten einrichten lassen. Von dem besten der Stadt. Sie müssen wissen, dass ich es mir leisten kann, so zu leben. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass ich es für pure Dummheit halte, sein Geld aus dem Fenster zu werfen, nur weil man zu faul ist, die Schuhe auszuziehen.
Ich bin ein erfolgreicher Börsenmakler und der heutige Tag war der beste des Monats für mich. Die Details interessieren Sie sicher nicht, aber ich habe ein brillantes Geschäft gemacht. Ein wirklich... brillantes Geschäft.
Ich war zufrieden mit meinem Leben.
Ich kam um 20.30 Uhr nach Hause. Das war vor ungefähr vier Stunden und es hätte mir nicht besser gehen können. Aber man glaubt ja nicht, was vier Stunden aus einem Menschen machen können.
Ich habe noch schnell einen kleinen Imbiss gegessen. Nur gesunde Sachen, ich achte auf meinen Körper.
Dann habe ich noch etwas ferngesehen und bin um ein Haar auf dem Sofa eingeschlafen. Ich habe es aber noch geschafft, mich ins Bett zu schleppen und während ich so da lag und an die Decke starrte, schien meine Müdigkeit aus dem Zimmer zu gleiten. An die Stelle drängten sich merkwürdige Gedanken... Gedanken, mit denen ich nicht fertig werde. Es begann damit, dass ich mich fragte, wie mein Leben so läuft. Tja, Sie werden denken, ich könne mich nicht beschweren, aber ich bin anderer Meinung. Kennen Sie das, wenn eine einzige Frage immer und immer wieder ihre Runden dreht und nicht aus dem Kopf verschwinden will? Bei mir war es die schlichte Frage “Warum?”.
Warum bin ich vor drei Jahren nach New York gezogen? Warum bin ich Börsenmakler geworden? Wozu der ganze Luxus und wozu der krankhafte Geiz? Ich kann darauf keine Antwort finden.
Ich habe noch schätzungsweise 55 Jahre vor mir…, wenn ich Glück habe. Und dann? Dann bin ich tot. Ich habe keine Angst vor dem Tod, es ist nur, dass die Tatsache, dass ich sterben werde, mir dieses “Warum?” mitgeliefert hat, wie diese Gratisgeschenke, die man bekommt, wenn man im Versandhauskatalog für mehr als 2000 Dollar einkauft.
Gut, ich werde also noch 55 Jahre leben und davon (wenn ich mich nicht allzu blöd anstelle) nur noch 20 als Börsenmakler arbeiten müssen. Ich träume davon, mich dann zur Ruhe zu setzen, irgendwo in Europa. Tja, und dann?
Dann bin ich in Europa, wunderbar. Es leben Millionen von Menschen in Europa, die genau so leben wie ich hier. Ist es denn da so viel anders? Warum sollte ich nach Europa gehen? Warum sollte ich morgen früh überhaupt aus diesem Bett aufstehen?
Ich werde ja doch irgendwann sterben.
Sie werden denken, dass es albern ist, aber haben Sie wirklich schon einmal darüber nachgedacht, was das Leben für einen Sinn hat? Es hat keinen, glauben Sie mir. Es ist, als würde man auf einem Drahtseil balancieren, von dem man wüsste, dass es irgendwann einfach aufhört. Warum also nicht gleich in die Tiefe springen?
Ich stecke so sehr in meinem Job, in meinem Alltag und in meinem Leben, dass ich zu vergessen drohe, wozu ich das alle mache. Ich verliere den Überblick. Auf einmal bin ich knapp 30 und beginne mich zu fragen, warum ich die letzten 30 Jahre gelebt habe. Für Erinnerungen? Um vor Kaminfeuern mit einem Weinglas in der Hand in alten Zeiten zu schwelgen? Warum erlebt man Dinge? Über all diese Fragen könnte man stundenlang philosophieren, aber wenn man alle Heuchlerei und Verdrängungswünsche abzieht, bleibt die kalte, glatte Wahrheit. Man lebt völlig umsonst. Nichts ist für ewig. Nichts hat Bestand. Ich habe krampfhaft versucht, erfolgreich zu sein, bis ich es wurde. Warum? Ich wollte etwas Besonderes sein, besser als die anderen, nicht in der Masse versinken. Doch es ist sinnlos. Im wahrsten Sinne des Wortes. Einfach sinnlos.
Sie werden denken, dass ich in zu großen Zeitspannen denke, aber es ist gewiss, dass eines Tages die Sonne, um die wir uns drehen, verlöschen wird. Das Ende allen Lebens. Und dann? Was hat es dann gebracht, dass ich hier und jetzt erfolgreich war?
Es sollte mich glücklich machen. Lebe für den Augenblick... wer tut das schon? Seien Sie ehrlich, Sie gehören auch nicht dazu. Was man auch tut, wohin man auch geht, man tut es auf lange Zeit gesehen umsonst. Vollkommen umsonst. Warum nimmt man Jobs an, bei denen man acht Stunden am Tag Dinge tut, die einem zuwider sind? Man tut die meisten Dinge im Leben doch nur, um andere Dinge zu bekommen. Aber warum? Warum halten wir an solch einem Leben fest? Sie sehen, dieses Warum führt in einen Teufelskreis, der spiralförmig auf die gleißend helle Mitte zusteuert. Die Wahrheit, die einzige Wahrheit, die bis zum Verlöschen der Sonne bestehen wird, ist die: es gibt kein Ziel.
Es gibt kein Ziel.
Es gibt kein Ziel.
Es gibt kein Ziel.
Am Ende ist man tot. Ich auch, Sie auch. Es hilft alles nichts und da ich mir dessen jetzt bewusst bin, gibt es für mich nur eine Möglichkeit mit dieser Situation, die alles und jeden betrifft, umzugehen. Ich werde das Drahtseil verlassen.