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- 09.12.2019
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Leben für die Toten
Nomiia blickte zur Behausung der Skelette. Eine riesige Kuppel, erbaut aus Knochen aller Art. Früher hatte hier eine Stadt der Menschen gestanden.
Als sie gerade weitersprechen wollte, schlug ihr das Skelett ins Gesicht. Sie stolperte zurück und fiel. Spuckte Blut und einen Zahn auf den Boden. Auch auf ihren Weggefährten Ceeis schlugen sie ein, während zwei der knochigen Kreaturen ihn hielten und seine Arme auseinander zogen. Sein Kopf hing zur Brust, Blut lief das Hemd hinab.
Der Anführer, mit dem sie sprechen wollte, nahm sein Schwert von einem Untergebenen entgegen und ging hinter ihren Freund. Klapperte mit den Kieferknochen und machte eine Geste mit der freien Hand.
Nomiia verstand die Sprache der Skelette. „Noch eine Woche“, teilte ihr der Anführer mit. Er hob das Schwert und hielt es für einige Sekunden über dem Kopf, als würde er einen Triumph feiern. Dann ließ er die Klinge niedersausen und trennte Ceeis rechten Arm unterhalb der Schulter ab. Ihr Weggefährte schrie nicht, nur ein ohnmächtiges Wimmern entwich seiner Kehle. Bevor er nach vorne fiel, hob das Skelett erneut die Waffe und schlug auch seinen linken Arm vom Körper. Ceeis Augen schlossen sich, während er zu Boden ging in eine Lache seines Blutes.
„Verschwinde!“, deutete der Anführer. Nomiia sah ihn an. Er war über zwei Meter groß und hatte starke Knochen, zwischen denen kleine Käfer und Spinnen krabbelten. Durch die untergehende Sonne warf er einen langen Schatten. Die Augen waren schwarze Höhlen.
Die Gruppe der Knochenkrieger, wie sie von den Menschen genannt wurden, drehte sich um und ging zurück zu ihrer Behausung. Der Geruch von Verwesung wehte ihr entgegen.
Nomiia stand auf und nahm mit zitternden Händen Ceeis Schwert, das seitlich an der Satteltasche seines Pferdes befestigt war. Trotz ihrer Verfassung trennte sie mit einem gezielten Schlag seinen Kopf ab. Er würde nach seiner Verwesung nicht wieder auferstehen.
Bevor ihre Beine nachgeben konnten, stieg sie auf ihr Pferd und nahm die Zügel von Ceeis Wallach. Er würde ihr von alleine folgen, entlang des dunklen Flusses, aber zunächst musste sie ihn von seinem toten Freund wegführen.
Es dämmerte, als Nomiia sich vom Fluss entfernte und das Holztor der Stadt erreichte. Der Himmel färbte sich in sein übliches Orange, bevor die Nacht hereinbrach. Die Wachen auf der Umzäunung erkannten sie und öffneten das Tor.
Sie ritt hinein, Ceeis Walach folgte. Der Atem der Pferde und ihr eigener bildeten feinen Nebel in der kälter werdenden Luft. Ihr Vater, Voaan, lief zu ihr und blickte auf das reiterlose Pferd.
Nomiia schüttelte den Kopf. „Sie haben sich das Angebot nicht mal vollständig angehört. Ich habe sie noch nie so brutal erlebt. Sie haben …“ Ihre Stimme brach weg. Sie stieg ab und lehnte sich an ihren Vater, weinte an seiner Schulter.
„Tut mir leid“, sagte er und umarmte sie.
„Es ist nicht deine Schuld“, schluchzte sie. „Wir mussten es versuchen. Sie geben uns noch eine Woche, die Stadt zu verlassen.“
Nomiia saß in der Bibliothek. Das einzige Licht ging von den Kerzen auf dem Holztisch aus. Ihr Gesicht war geschwollen und schmerzte. Immer wieder fuhr sie mit der Zunge über die Stelle, an der ihr das Skelett den Zahn ausgeschlagen hatte. Beim Gedanken an Ceeis brutalen Tod zitterte sie und bekam eine Gänsehaut.
Sie blätterte in dem schweren Buch, dessen alte Schrift sie kaum verstand. Ihre Mutter war auf einem guten Weg gewesen, die Schriftzeichen zu entschlüsseln, konnte Nomiia jedoch durch ihren frühen Tod wenig vermitteln.
Erneut kehrte sie zu der Zeichnung in der Mitte des Schriftwerks zurück, sie belegte eine Doppelseite. Innerhalb einer Stadt befanden sich zahllose Skelette und reckten die Arme zum Himmel. Darüber schwebten wolkenähnliche Wesen, kaum sichtbar. Rechts neben der Stadt entfernten sich Menschen mit ihrem Hab und Gut.
Sie glaubte zu verstehen, was die Zeichnung bedeutete, auch wenn sie nur wenige der Schriftzeichen drumherum lesen konnte. Jedoch hatte sie keinen Beweis und wusste nicht, welchen Schluss sie daraus ziehen sollte. Als würde ihr jemand eine Lösung für die Bedrohung der Skelette vor die Nase halten, aber sie war einfach nicht in der Lage, danach zu greifen.
Frustriert schlug sie das Buch zu und ging zu ihrem Vater.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Voaan.
„Die Geschöpfe, die aussehen wie kleine Wolken. Irgendetwas müssen sie bedeuten. Auch in vorherigen Zeichnungen tauchen sie immer wieder auf, mal kleiner, mal größer.“
„Deine Mutter glaubte, es wären Dämonen, die die Skelette befehligen.“
„Ich weiß, das sagte sie mir kurz vor …“ Nomiia strich sich die schwarzen, schulterlangen Haare zurück und schloss kurz die Augen. „Aber das glaube ich nicht. Es könnten eine Art Lebensgeister sein, die an einem Ort entstehen, an dem Menschen wohnen. Die stärker werden, je länger sie dort leben. Die wenigen Schriftzeichen, die ich verstehe, würden hierzu passen.“
Ihr Vater blickte sie an, setzte sich an den Küchentisch und begann, Tabak in seine Pfeife zu stopfen. „Und wenn es so wäre? Macht es einen Unterschied?“
„Das könnte es, glaube ich, aber … ich weiß noch nicht, warum.“
Voaan nahm eine Kerze und zündete damit ein kleines Holzstück an. Bewegte es in kleinen Bewegungen über dem Tabak in der Pfeife, inhalierte und entzündete sie so. „Es ist spät, wir sprechen morgen früh weiter“, sprach er durch den Qualm. „Geh ins Bett, du hast heute schlimmes erlebt und brauchst deine Ruhe.“
„Aber wir haben nicht mehr viel Zeit und …“
Ihr Vater hob die Hand. „Ich weiß, dennoch müssen wir ausgeruht und besonnen handeln. Morgen spreche ich zu den Einwohnern. Wir reden beim Frühstück weiter.“ Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und zog wieder an der Pfeife.
Nomiia blickte ihn noch einige Sekunden an und verließ dann den Raum. Sie wusste, das Gespräch war beendet.
Dünne Nebelschwaden zogen im ersten Tageslicht zwischen den Bäumen. Die Natur erwachte. Vögel zwitscherten und Nomiia bemerkte scheue Bewegungen hinter den Bäumen.
Sie war bereits tiefer in den Wald eingedrungen, als sie eins der Skelette entdeckte. Ein Späher. Sie durchstreiften das Land und suchten nach menschlichen Siedlungen, sofern ihr Volk das Verhalten dieser rätselhaften Wiedergänger verstand.
Noch hatte es sie nicht bemerkt, es bewegte sich von ihr weg. Nomiia nahm die Skizze, die sie angefertigt hatte, aus der Tasche ihres grünen Hemdes. Eine Kopie der Zeichnung aus dem Buch der Alten Sprache. Langsam schlich sie von Baum zu Baum, näherte sich dem Späher. Achtete darauf, mit dem Bogen, den sie in einer Schlaufe am Rücken trug, nirgendwo anzustoßen. Das Skelett hielt einen Speer in der Hand, sie wollte keine frühe Konfrontation riskieren. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, trat sie hervor und rief: „Halt!“
Das Skelett fuhr herum und blickte sie aus schwarzen Augenhöhlen an. Legte den Kopf etwas zur Seite und bewegte kaum erkennbar die Kiefer.
Sie hielt die Zeichnung vor sich und ging näher heran. Machte Gesten mit der freien Hand, in der Hoffnung, dass sie verständlich waren. „Braucht ihr die Lebensgeister? Von uns Menschen?“
Der Knochenspäher verharrte einige Sekunden regungslos, sah sie weiter an. Dann betrachtete er mit einer leichten Kopfbewegung die Skizze. Begann, zwischen ihr und dem Papier hin- und herzusehen. Zeigte sich so Unsicherheit bei diesen Kreaturen? Anstatt zu antworten, holte er mit dem Speer aus und ließ ihn nach vorne schnellen.
Nomiia hatte damit gerechnet und schritt ihm entgegen. Etwas zur Seite, weg von dem Speer, der ihre Hüfte streifte. Sie ließ das Papier fallen und umgriff den Hinterkopf des Skeletts. Griff mit der anderen Hand einen Pfeil aus ihrem Köcher und hielt ihn dem Angreifer vors Auge. Er wusste um seine Verletzlichkeit und blieb ruhig.
Sie vollführte erneut die Gesten für das Wort "Lebensgeister", mehrmals nacheinander mit der Hand, in der sie den Pfeil hielt. Erst als sie erneut die Spitze vor seine Augenhöhle hielt, nickte es kurz. "Ja?", fragte Nomiia durch eine kurze Bewegung nach. Wieder eine Bestätigung.
Zufrieden zog sie den Pfeil etwas zurück, wartete kurz ... und stach ihm damit in die Augenhöhle. Sie spürte einen Widerstand, drückte fester. Die Schwärze im Inneren des Schädels zerplatzte wie eine Seifenblase. Das Skelett stürzte in sich zusammen. Welche Kraft auch immer sie antrieb, bei dieser Kreatur war sie zerstört.
Sie betrachtete die Überreste, die nach Verwesung stinkenden Knochen. Schon jetzt kaum noch vorstellbar, dass diese vor Kurzem noch eine Bedrohung waren. Einige Meter hinter sich hörte sie Schritte und das Rascheln von Pflanzen. Drehte sich um, ein weiteres Skelett lief auf sie zu, ein Kurzschwert in der Hand. Nomiia griff instinktiv nach dem Bogen und gleichzeitig nach einem Pfeil. In einer fließenden Bewegung legte sie an, der Knochenkrieger war nur noch wenige Meter entfernt. Versuchte gar nicht erst, in Deckung zu gehen. Sie zielte, hielt die Luft an und ließ die Bogensehne los. Der Pfeil zischte davon und traf die rechte Augenhöhle, die Schwärze darin verschwand. Die Knochen trennten sich voneinander, fielen ihr vor die Füße und gegen die Beine.
Erst nach einigen Sekunden bemerkte sie, dass sie noch immer die Luft anhielt und stieß den Atem aus. „Das war knapp“, flüsterte sie und machte sich auf den Heimweg.
Ihr Vater saß schon am Frühstückstisch, der Duft von frischem Kaffee kam ihr entgegen. „Wo warst du?“, fragte er.
„Frische Luft schnappen und … ich wollte sehen, wie ein Skelett hierauf reagiert.“ Sie legte die Zeichnung auf den Tisch.
„Du hast … bist du …“
„Warte!“ Nomiia hob beschwichtigend die Hand. „Wenn meine Theorie stimmt, dann werden sie uns nicht töten. Sie brauchen uns, die Lebensenergie, die wir abgeben. An Orten, an denen wir verweilen.“
„Sie töten immer wieder! Was redest du denn?“, fragte Voaan.
„Ja, aber immer nur vereinzelt. Um uns Angst zu machen. Deswegen haben sie Ceeis vor meinen Augen so brutal zugerichtet. Siehst du das nicht? Ohne uns können sie nicht existieren!“
„Nomiia, bitte. Selbst wenn das stimmt, warum sollten wir den Kreislauf unterbrechen? Es wird viel Arbeit, aber wir werden woanders eine neue Stadt gründen und dort leben. Zumindest einige Jahre, so war es immer.“
„Aber vielleicht können wir es stoppen! Wir leben in ständiger Angst und wenn wir so weiter machen, wird es nie enden.“
Ihr Vater blickte sie an, atmete tief durch und schloss die Augen. „Und was schlägst du vor?“
„Wir bleiben hier, versammeln alle Einwohner auf dem großen Platz im Zentrum. Die Skelette werden keinen Kampf beginnen, es wird Zeit, ihnen entgegenzutreten. Eine friedliche Lösung finden.“
Voaan öffnete die Lider und nahm seine Tasse „Wenn du falsch liegst, gibt es ein Blutvergießen.“
„Denkt darüber nach. Wir werden in zwei Tagen abstimmen“, sagte Voaan zu den Einwohnern in der Stadthalle, nachdem er Nomiias Theorie und Vorschlag erklärt hatte.
Er wollte sich schon umdrehen und das Podest verlassen, als jemand rief: „Ich bin dafür!“ Einige Sekunden war es still, dann folgten weitere Zustimmungen: „Ich auch!“ „Ja!“ „Zu viele sind gestorben!“
Voaan sah zu seiner Tochter, die zu ihm aufs Podest kam „Wer dafür ist, hebe die Hand!“, rief sie in die Menge.
Nach und nach meldeten sich weitere Einwohner. Nomiia überblickte die Halle und ging von ungefähr zwei Drittel Meldungen aus. Alle anderen blieben ruhig, keiner sprach dagegen.
Voaan strich sich über den Bart. „Seid ihr euch sicher?“ Niemand senkte die Hand. „In Ordnung, ich … muss darüber nachdenken. Wir treffen uns hier in zwei Tagen wieder. Nun geht nach Hause.“
„Das ist alles zu überstürzt“, sagte Voaan und ging in der Küche auf und ab. Gestikulierte dabei mit seiner angezündeten Pfeife, der Qualm verteilte sich im Raum. „Du riskierst das Leben aller Einwohner!“
„Ich? Es war eine faire Abstimmung! Es würde ohnehin irgendwann dazu kommen, also können wir es auch jetzt riskieren.“
„Und hast du einen Plan?“
Nomiia lächelte. „Ja.“
Sie saß auf der Umzäunung in der Nähe des Stadttors und blickte auf die Gebäude ihrer Heimat. Die meisten waren bunt bemalt. Wie viel Freude und Zuversicht hier herrschte, trotz der ständigen Bedrohung, dachte sie.
Die Dämmerung begann, als sie die Skelette am Horizont sah. Etwa dreihundert, schätzte sie. Die bisher davon ausgingen, dass die Stadt verlassen war. Instinktiv berührte Nomiia mit ihrer Zunge die Zahnlücke. Und gab den anderen auf dem Zaun einen Hinweis per Handzeichen, ihre Posten zu verlassen und sich zum Stadtzentrum zu begeben. Auch sie selbst kletterte eine Leiter hinunter.
„Nun wird es ernst“, sagte jemand in ihrer Nähe.
„Ja“, flüsterte Nomiia und atmete tief durch. Die Kälte der bevorstehenden Nacht war schon zu spüren. Das Tor war nur angelehnt, die Skelette würden sich bald in der Stadt umsehen. Und eine Überraschung erleben.
Die meisten Bewohner befanden sich auf dem großen Platz im Stadtzentrum. Einige in den anliegenden Häusern an geöffneten Fenstern. Alle hatten Messer in der Hand.
Es herrschte eine gespenstische Stille, niemand sprach. Dann hörten sie das leise Klappern der Knochenfüße auf dem harten Boden. Es kam stetig näher, als würde etwas seine Fühler nach ihnen ausstrecken.
Nach wenigen Minuten erreichten die Knochenkrieger den Platz. Blieben stehen und beobachteten die unerwartete Menschenmenge. Blickten von einem zum anderen. Nomiia wusste nicht, was sie erwartet hatte. Irgendetwas wie Überraschung vielleicht, statt nur diese kalten Blicke. Aber wer wusste schon, wie diese Kreaturen dachten und fühlten.
Die Skelette begannen, sich um die Menschenmenge zu verteilen. Ohne dabei den Blick von ihnen abzuwenden. Als sie den Platz fast umstellt hatten, hoben die Einwohner die Messer und hielten sie sich an die Kehle.
Nomiia trat hervor und machte die ihr bekannte Geste für „Anführer“. Immer wieder, bis ihr ein großes Skelett mit einem Schwert in der knochigen Hand gegenübertrat. Sie glaubte, den Krieger zu erkennen, der Ceeis verstümmelt hatte. Versuchte, das Zittern zu unterdrücken, als sie ihn vor ihrem inneren Auge tödlich verletzt fallen sah. Die angefertigte Skizze vor sich haltend deutete sie mehrmals das Wort „Lebensgeister“ und zeigte auf die Einwohner.
Der Anführer blickte auf die Zeichnung und zeigte nach einigen Sekunden auf die Menschen und dann Richtung Stadttor. Nomiia schüttelte den Kopf. Darauf klapperte das Skelett mit dem Kiefer und deutete auf Voaan, der nicht weit entfernt stand. Zwei Knochenkrieger holten ihn aus der Menge und zogen seine Arme auseinander.
Der Anführer ging in seine Richtung. Eine alte Frau schritt in gebeugter Haltung hervor und blockierte den Weg. Ihre langen, grauen Haare hingen ihr ins Gesicht. Nomiia kannte nicht ihren Namen, erinnerte sich aber, dass ihr Mann vor einigen Wochen beerdigt wurde.
„Ihr tötet niemanden mehr“, sagte die Frau und strich sich mit der freien Hand die Haare zurück. Zeigte das Messer, das sie sich an die Kehle hielt. Das Skelett neigte den Kopf etwas zur Seite und hob sein Schwert seitlich vor sich.
„Niemanden“, wiederholte die Frau und trennte sich mit einem tiefen Schnitt die Kehle durch. Schloss die Augen und sank in die Knie.
Nomiia hielt sich die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Schrei. Der Anführer betrachtete die Frau, wie sie vor seine Füße fiel. Bevor er weiter zu Voaan gehen konnte, kam ein junger Mann mit nur einem Arm aus der Menge. Auch er hielt sich ein Messer an die Kehle.
„Wartet!“, rief Nomiia. Sie deutete dem Anführer: „Ich braucht uns, wir wissen es. Das Sterben muss enden.“
Der große Knochenkrieger trat ihr entgegen, berührte mit seinem Schädel fast ihren Kopf. Nomiia hielt ihm stand. „Was wollt ihr?“, fragte er schließlich durch seine Gestik.
Sie zeigte es ihm.
***
Wieder näherte sich der Anführer, berührte fast ihren Kopf. Für einen Moment war kein Geräusch auf dem Platz zu hören. Dann begann es. Die Einwohner nahmen die Messer von ihren Kehlen und stachen auf die Skelette ein. Versuchten, die Augenhöhlen zu treffen. Nomiia sah zu ihrem Vater, gerade als ihm einer der Knochenkrieger den rechten Arm abschlug. Er fiel zur Seite, versuchte trotz der stark blutenden Wunde davon zu kriechen. Sie lief zu ihm, wollte ihm helfen, als ihr Oberkörper in Schmerzen aufflammte. Die blutige Spitze eines Speers ragte aus ihrer Brust.
Schweißgebadet wachte sie auf und blickte sich hektisch um. Durch das Licht des Halbmondes konnte sie nur Umrisse erkennen. Niemand war zu sehen, bis ihr Vater zu ihr lief und sie in den Arm nahm.
„Es ist in Ordnung, nichts ist passiert.“ Er wiegte sie hin und her, als wäre sie noch ein Kind. Sie ließ es zu, klammerte sich an ihn.
„Ich hoffe, dass unser Pakt hält. Das Töten aufhört“, sagte Nomiia, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.
„Ich glaube daran, sie wissen nun von unserer Kenntnis. Und unserem Mut, zu handeln.“
Sie löste sich von ihm. „Viele andere wissen es nicht.“
„Bist du sicher?“, fragte Voaan.
Nomiia verstaute die Skizzen in der ledernen Satteltasche und stieg auf ihr Pferd. „Ja. Es wird verloren gehen, wenn wir unser Wissen nicht verbreiten.“ Sie blickte zu den ersten Häusern der neuen Stadt. Und lächelte, als sie einen Jungen sah, der bereits eine der Wände bunt bemalte.
„Wann wirst du wiederkommen?“
„Ich … weiß es nicht. Tut mir leid. Aber ich werde wiederkommen.“ Sie musste die Reise beginnen, bevor sie es sich anders überlegte und setzte ihr Pferd in Bewegung.
„Nomiia?“
Sie drehte sich zu ihm, ohne anzuhalten.
„Pass auf dich auf. Ich bin stolz auf dich.“
„Danke, ich auch auf dich. Halte die Stellung.“
Ihr Pferd begann zu traben, ging in einen Galopp über. Entfernt am Horizont sah sie ihr altes zu Hause. Die Skelette hatten bereits begonnen, ihre Kuppel aus Knochen zu bauen. Zukünftig würden sie sich hoffentlich ohne Gewalt mit den Menschen verständigen.
Nach einer guten Stunde erreichte sie eine hölzerne Brücke und überquerte den dunklen Fluss.
Als sie gerade weitersprechen wollte, schlug ihr das Skelett ins Gesicht. Sie stolperte zurück und fiel. Spuckte Blut und einen Zahn auf den Boden. Auch auf ihren Weggefährten Ceeis schlugen sie ein, während zwei der knochigen Kreaturen ihn hielten und seine Arme auseinander zogen. Sein Kopf hing zur Brust, Blut lief das Hemd hinab.
Der Anführer, mit dem sie sprechen wollte, nahm sein Schwert von einem Untergebenen entgegen und ging hinter ihren Freund. Klapperte mit den Kieferknochen und machte eine Geste mit der freien Hand.
Nomiia verstand die Sprache der Skelette. „Noch eine Woche“, teilte ihr der Anführer mit. Er hob das Schwert und hielt es für einige Sekunden über dem Kopf, als würde er einen Triumph feiern. Dann ließ er die Klinge niedersausen und trennte Ceeis rechten Arm unterhalb der Schulter ab. Ihr Weggefährte schrie nicht, nur ein ohnmächtiges Wimmern entwich seiner Kehle. Bevor er nach vorne fiel, hob das Skelett erneut die Waffe und schlug auch seinen linken Arm vom Körper. Ceeis Augen schlossen sich, während er zu Boden ging in eine Lache seines Blutes.
„Verschwinde!“, deutete der Anführer. Nomiia sah ihn an. Er war über zwei Meter groß und hatte starke Knochen, zwischen denen kleine Käfer und Spinnen krabbelten. Durch die untergehende Sonne warf er einen langen Schatten. Die Augen waren schwarze Höhlen.
Die Gruppe der Knochenkrieger, wie sie von den Menschen genannt wurden, drehte sich um und ging zurück zu ihrer Behausung. Der Geruch von Verwesung wehte ihr entgegen.
Nomiia stand auf und nahm mit zitternden Händen Ceeis Schwert, das seitlich an der Satteltasche seines Pferdes befestigt war. Trotz ihrer Verfassung trennte sie mit einem gezielten Schlag seinen Kopf ab. Er würde nach seiner Verwesung nicht wieder auferstehen.
Bevor ihre Beine nachgeben konnten, stieg sie auf ihr Pferd und nahm die Zügel von Ceeis Wallach. Er würde ihr von alleine folgen, entlang des dunklen Flusses, aber zunächst musste sie ihn von seinem toten Freund wegführen.
Es dämmerte, als Nomiia sich vom Fluss entfernte und das Holztor der Stadt erreichte. Der Himmel färbte sich in sein übliches Orange, bevor die Nacht hereinbrach. Die Wachen auf der Umzäunung erkannten sie und öffneten das Tor.
Sie ritt hinein, Ceeis Walach folgte. Der Atem der Pferde und ihr eigener bildeten feinen Nebel in der kälter werdenden Luft. Ihr Vater, Voaan, lief zu ihr und blickte auf das reiterlose Pferd.
Nomiia schüttelte den Kopf. „Sie haben sich das Angebot nicht mal vollständig angehört. Ich habe sie noch nie so brutal erlebt. Sie haben …“ Ihre Stimme brach weg. Sie stieg ab und lehnte sich an ihren Vater, weinte an seiner Schulter.
„Tut mir leid“, sagte er und umarmte sie.
„Es ist nicht deine Schuld“, schluchzte sie. „Wir mussten es versuchen. Sie geben uns noch eine Woche, die Stadt zu verlassen.“
Nomiia saß in der Bibliothek. Das einzige Licht ging von den Kerzen auf dem Holztisch aus. Ihr Gesicht war geschwollen und schmerzte. Immer wieder fuhr sie mit der Zunge über die Stelle, an der ihr das Skelett den Zahn ausgeschlagen hatte. Beim Gedanken an Ceeis brutalen Tod zitterte sie und bekam eine Gänsehaut.
Sie blätterte in dem schweren Buch, dessen alte Schrift sie kaum verstand. Ihre Mutter war auf einem guten Weg gewesen, die Schriftzeichen zu entschlüsseln, konnte Nomiia jedoch durch ihren frühen Tod wenig vermitteln.
Erneut kehrte sie zu der Zeichnung in der Mitte des Schriftwerks zurück, sie belegte eine Doppelseite. Innerhalb einer Stadt befanden sich zahllose Skelette und reckten die Arme zum Himmel. Darüber schwebten wolkenähnliche Wesen, kaum sichtbar. Rechts neben der Stadt entfernten sich Menschen mit ihrem Hab und Gut.
Sie glaubte zu verstehen, was die Zeichnung bedeutete, auch wenn sie nur wenige der Schriftzeichen drumherum lesen konnte. Jedoch hatte sie keinen Beweis und wusste nicht, welchen Schluss sie daraus ziehen sollte. Als würde ihr jemand eine Lösung für die Bedrohung der Skelette vor die Nase halten, aber sie war einfach nicht in der Lage, danach zu greifen.
Frustriert schlug sie das Buch zu und ging zu ihrem Vater.
„Wie kommst du darauf?“, fragte Voaan.
„Die Geschöpfe, die aussehen wie kleine Wolken. Irgendetwas müssen sie bedeuten. Auch in vorherigen Zeichnungen tauchen sie immer wieder auf, mal kleiner, mal größer.“
„Deine Mutter glaubte, es wären Dämonen, die die Skelette befehligen.“
„Ich weiß, das sagte sie mir kurz vor …“ Nomiia strich sich die schwarzen, schulterlangen Haare zurück und schloss kurz die Augen. „Aber das glaube ich nicht. Es könnten eine Art Lebensgeister sein, die an einem Ort entstehen, an dem Menschen wohnen. Die stärker werden, je länger sie dort leben. Die wenigen Schriftzeichen, die ich verstehe, würden hierzu passen.“
Ihr Vater blickte sie an, setzte sich an den Küchentisch und begann, Tabak in seine Pfeife zu stopfen. „Und wenn es so wäre? Macht es einen Unterschied?“
„Das könnte es, glaube ich, aber … ich weiß noch nicht, warum.“
Voaan nahm eine Kerze und zündete damit ein kleines Holzstück an. Bewegte es in kleinen Bewegungen über dem Tabak in der Pfeife, inhalierte und entzündete sie so. „Es ist spät, wir sprechen morgen früh weiter“, sprach er durch den Qualm. „Geh ins Bett, du hast heute schlimmes erlebt und brauchst deine Ruhe.“
„Aber wir haben nicht mehr viel Zeit und …“
Ihr Vater hob die Hand. „Ich weiß, dennoch müssen wir ausgeruht und besonnen handeln. Morgen spreche ich zu den Einwohnern. Wir reden beim Frühstück weiter.“ Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und zog wieder an der Pfeife.
Nomiia blickte ihn noch einige Sekunden an und verließ dann den Raum. Sie wusste, das Gespräch war beendet.
Dünne Nebelschwaden zogen im ersten Tageslicht zwischen den Bäumen. Die Natur erwachte. Vögel zwitscherten und Nomiia bemerkte scheue Bewegungen hinter den Bäumen.
Sie war bereits tiefer in den Wald eingedrungen, als sie eins der Skelette entdeckte. Ein Späher. Sie durchstreiften das Land und suchten nach menschlichen Siedlungen, sofern ihr Volk das Verhalten dieser rätselhaften Wiedergänger verstand.
Noch hatte es sie nicht bemerkt, es bewegte sich von ihr weg. Nomiia nahm die Skizze, die sie angefertigt hatte, aus der Tasche ihres grünen Hemdes. Eine Kopie der Zeichnung aus dem Buch der Alten Sprache. Langsam schlich sie von Baum zu Baum, näherte sich dem Späher. Achtete darauf, mit dem Bogen, den sie in einer Schlaufe am Rücken trug, nirgendwo anzustoßen. Das Skelett hielt einen Speer in der Hand, sie wollte keine frühe Konfrontation riskieren. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, trat sie hervor und rief: „Halt!“
Das Skelett fuhr herum und blickte sie aus schwarzen Augenhöhlen an. Legte den Kopf etwas zur Seite und bewegte kaum erkennbar die Kiefer.
Sie hielt die Zeichnung vor sich und ging näher heran. Machte Gesten mit der freien Hand, in der Hoffnung, dass sie verständlich waren. „Braucht ihr die Lebensgeister? Von uns Menschen?“
Der Knochenspäher verharrte einige Sekunden regungslos, sah sie weiter an. Dann betrachtete er mit einer leichten Kopfbewegung die Skizze. Begann, zwischen ihr und dem Papier hin- und herzusehen. Zeigte sich so Unsicherheit bei diesen Kreaturen? Anstatt zu antworten, holte er mit dem Speer aus und ließ ihn nach vorne schnellen.
Nomiia hatte damit gerechnet und schritt ihm entgegen. Etwas zur Seite, weg von dem Speer, der ihre Hüfte streifte. Sie ließ das Papier fallen und umgriff den Hinterkopf des Skeletts. Griff mit der anderen Hand einen Pfeil aus ihrem Köcher und hielt ihn dem Angreifer vors Auge. Er wusste um seine Verletzlichkeit und blieb ruhig.
Sie vollführte erneut die Gesten für das Wort "Lebensgeister", mehrmals nacheinander mit der Hand, in der sie den Pfeil hielt. Erst als sie erneut die Spitze vor seine Augenhöhle hielt, nickte es kurz. "Ja?", fragte Nomiia durch eine kurze Bewegung nach. Wieder eine Bestätigung.
Zufrieden zog sie den Pfeil etwas zurück, wartete kurz ... und stach ihm damit in die Augenhöhle. Sie spürte einen Widerstand, drückte fester. Die Schwärze im Inneren des Schädels zerplatzte wie eine Seifenblase. Das Skelett stürzte in sich zusammen. Welche Kraft auch immer sie antrieb, bei dieser Kreatur war sie zerstört.
Sie betrachtete die Überreste, die nach Verwesung stinkenden Knochen. Schon jetzt kaum noch vorstellbar, dass diese vor Kurzem noch eine Bedrohung waren. Einige Meter hinter sich hörte sie Schritte und das Rascheln von Pflanzen. Drehte sich um, ein weiteres Skelett lief auf sie zu, ein Kurzschwert in der Hand. Nomiia griff instinktiv nach dem Bogen und gleichzeitig nach einem Pfeil. In einer fließenden Bewegung legte sie an, der Knochenkrieger war nur noch wenige Meter entfernt. Versuchte gar nicht erst, in Deckung zu gehen. Sie zielte, hielt die Luft an und ließ die Bogensehne los. Der Pfeil zischte davon und traf die rechte Augenhöhle, die Schwärze darin verschwand. Die Knochen trennten sich voneinander, fielen ihr vor die Füße und gegen die Beine.
Erst nach einigen Sekunden bemerkte sie, dass sie noch immer die Luft anhielt und stieß den Atem aus. „Das war knapp“, flüsterte sie und machte sich auf den Heimweg.
Ihr Vater saß schon am Frühstückstisch, der Duft von frischem Kaffee kam ihr entgegen. „Wo warst du?“, fragte er.
„Frische Luft schnappen und … ich wollte sehen, wie ein Skelett hierauf reagiert.“ Sie legte die Zeichnung auf den Tisch.
„Du hast … bist du …“
„Warte!“ Nomiia hob beschwichtigend die Hand. „Wenn meine Theorie stimmt, dann werden sie uns nicht töten. Sie brauchen uns, die Lebensenergie, die wir abgeben. An Orten, an denen wir verweilen.“
„Sie töten immer wieder! Was redest du denn?“, fragte Voaan.
„Ja, aber immer nur vereinzelt. Um uns Angst zu machen. Deswegen haben sie Ceeis vor meinen Augen so brutal zugerichtet. Siehst du das nicht? Ohne uns können sie nicht existieren!“
„Nomiia, bitte. Selbst wenn das stimmt, warum sollten wir den Kreislauf unterbrechen? Es wird viel Arbeit, aber wir werden woanders eine neue Stadt gründen und dort leben. Zumindest einige Jahre, so war es immer.“
„Aber vielleicht können wir es stoppen! Wir leben in ständiger Angst und wenn wir so weiter machen, wird es nie enden.“
Ihr Vater blickte sie an, atmete tief durch und schloss die Augen. „Und was schlägst du vor?“
„Wir bleiben hier, versammeln alle Einwohner auf dem großen Platz im Zentrum. Die Skelette werden keinen Kampf beginnen, es wird Zeit, ihnen entgegenzutreten. Eine friedliche Lösung finden.“
Voaan öffnete die Lider und nahm seine Tasse „Wenn du falsch liegst, gibt es ein Blutvergießen.“
„Denkt darüber nach. Wir werden in zwei Tagen abstimmen“, sagte Voaan zu den Einwohnern in der Stadthalle, nachdem er Nomiias Theorie und Vorschlag erklärt hatte.
Er wollte sich schon umdrehen und das Podest verlassen, als jemand rief: „Ich bin dafür!“ Einige Sekunden war es still, dann folgten weitere Zustimmungen: „Ich auch!“ „Ja!“ „Zu viele sind gestorben!“
Voaan sah zu seiner Tochter, die zu ihm aufs Podest kam „Wer dafür ist, hebe die Hand!“, rief sie in die Menge.
Nach und nach meldeten sich weitere Einwohner. Nomiia überblickte die Halle und ging von ungefähr zwei Drittel Meldungen aus. Alle anderen blieben ruhig, keiner sprach dagegen.
Voaan strich sich über den Bart. „Seid ihr euch sicher?“ Niemand senkte die Hand. „In Ordnung, ich … muss darüber nachdenken. Wir treffen uns hier in zwei Tagen wieder. Nun geht nach Hause.“
„Das ist alles zu überstürzt“, sagte Voaan und ging in der Küche auf und ab. Gestikulierte dabei mit seiner angezündeten Pfeife, der Qualm verteilte sich im Raum. „Du riskierst das Leben aller Einwohner!“
„Ich? Es war eine faire Abstimmung! Es würde ohnehin irgendwann dazu kommen, also können wir es auch jetzt riskieren.“
„Und hast du einen Plan?“
Nomiia lächelte. „Ja.“
Sie saß auf der Umzäunung in der Nähe des Stadttors und blickte auf die Gebäude ihrer Heimat. Die meisten waren bunt bemalt. Wie viel Freude und Zuversicht hier herrschte, trotz der ständigen Bedrohung, dachte sie.
Die Dämmerung begann, als sie die Skelette am Horizont sah. Etwa dreihundert, schätzte sie. Die bisher davon ausgingen, dass die Stadt verlassen war. Instinktiv berührte Nomiia mit ihrer Zunge die Zahnlücke. Und gab den anderen auf dem Zaun einen Hinweis per Handzeichen, ihre Posten zu verlassen und sich zum Stadtzentrum zu begeben. Auch sie selbst kletterte eine Leiter hinunter.
„Nun wird es ernst“, sagte jemand in ihrer Nähe.
„Ja“, flüsterte Nomiia und atmete tief durch. Die Kälte der bevorstehenden Nacht war schon zu spüren. Das Tor war nur angelehnt, die Skelette würden sich bald in der Stadt umsehen. Und eine Überraschung erleben.
Die meisten Bewohner befanden sich auf dem großen Platz im Stadtzentrum. Einige in den anliegenden Häusern an geöffneten Fenstern. Alle hatten Messer in der Hand.
Es herrschte eine gespenstische Stille, niemand sprach. Dann hörten sie das leise Klappern der Knochenfüße auf dem harten Boden. Es kam stetig näher, als würde etwas seine Fühler nach ihnen ausstrecken.
Nach wenigen Minuten erreichten die Knochenkrieger den Platz. Blieben stehen und beobachteten die unerwartete Menschenmenge. Blickten von einem zum anderen. Nomiia wusste nicht, was sie erwartet hatte. Irgendetwas wie Überraschung vielleicht, statt nur diese kalten Blicke. Aber wer wusste schon, wie diese Kreaturen dachten und fühlten.
Die Skelette begannen, sich um die Menschenmenge zu verteilen. Ohne dabei den Blick von ihnen abzuwenden. Als sie den Platz fast umstellt hatten, hoben die Einwohner die Messer und hielten sie sich an die Kehle.
Nomiia trat hervor und machte die ihr bekannte Geste für „Anführer“. Immer wieder, bis ihr ein großes Skelett mit einem Schwert in der knochigen Hand gegenübertrat. Sie glaubte, den Krieger zu erkennen, der Ceeis verstümmelt hatte. Versuchte, das Zittern zu unterdrücken, als sie ihn vor ihrem inneren Auge tödlich verletzt fallen sah. Die angefertigte Skizze vor sich haltend deutete sie mehrmals das Wort „Lebensgeister“ und zeigte auf die Einwohner.
Der Anführer blickte auf die Zeichnung und zeigte nach einigen Sekunden auf die Menschen und dann Richtung Stadttor. Nomiia schüttelte den Kopf. Darauf klapperte das Skelett mit dem Kiefer und deutete auf Voaan, der nicht weit entfernt stand. Zwei Knochenkrieger holten ihn aus der Menge und zogen seine Arme auseinander.
Der Anführer ging in seine Richtung. Eine alte Frau schritt in gebeugter Haltung hervor und blockierte den Weg. Ihre langen, grauen Haare hingen ihr ins Gesicht. Nomiia kannte nicht ihren Namen, erinnerte sich aber, dass ihr Mann vor einigen Wochen beerdigt wurde.
„Ihr tötet niemanden mehr“, sagte die Frau und strich sich mit der freien Hand die Haare zurück. Zeigte das Messer, das sie sich an die Kehle hielt. Das Skelett neigte den Kopf etwas zur Seite und hob sein Schwert seitlich vor sich.
„Niemanden“, wiederholte die Frau und trennte sich mit einem tiefen Schnitt die Kehle durch. Schloss die Augen und sank in die Knie.
Nomiia hielt sich die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Schrei. Der Anführer betrachtete die Frau, wie sie vor seine Füße fiel. Bevor er weiter zu Voaan gehen konnte, kam ein junger Mann mit nur einem Arm aus der Menge. Auch er hielt sich ein Messer an die Kehle.
„Wartet!“, rief Nomiia. Sie deutete dem Anführer: „Ich braucht uns, wir wissen es. Das Sterben muss enden.“
Der große Knochenkrieger trat ihr entgegen, berührte mit seinem Schädel fast ihren Kopf. Nomiia hielt ihm stand. „Was wollt ihr?“, fragte er schließlich durch seine Gestik.
Sie zeigte es ihm.
***
Wieder näherte sich der Anführer, berührte fast ihren Kopf. Für einen Moment war kein Geräusch auf dem Platz zu hören. Dann begann es. Die Einwohner nahmen die Messer von ihren Kehlen und stachen auf die Skelette ein. Versuchten, die Augenhöhlen zu treffen. Nomiia sah zu ihrem Vater, gerade als ihm einer der Knochenkrieger den rechten Arm abschlug. Er fiel zur Seite, versuchte trotz der stark blutenden Wunde davon zu kriechen. Sie lief zu ihm, wollte ihm helfen, als ihr Oberkörper in Schmerzen aufflammte. Die blutige Spitze eines Speers ragte aus ihrer Brust.
Schweißgebadet wachte sie auf und blickte sich hektisch um. Durch das Licht des Halbmondes konnte sie nur Umrisse erkennen. Niemand war zu sehen, bis ihr Vater zu ihr lief und sie in den Arm nahm.
„Es ist in Ordnung, nichts ist passiert.“ Er wiegte sie hin und her, als wäre sie noch ein Kind. Sie ließ es zu, klammerte sich an ihn.
„Ich hoffe, dass unser Pakt hält. Das Töten aufhört“, sagte Nomiia, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.
„Ich glaube daran, sie wissen nun von unserer Kenntnis. Und unserem Mut, zu handeln.“
Sie löste sich von ihm. „Viele andere wissen es nicht.“
„Bist du sicher?“, fragte Voaan.
Nomiia verstaute die Skizzen in der ledernen Satteltasche und stieg auf ihr Pferd. „Ja. Es wird verloren gehen, wenn wir unser Wissen nicht verbreiten.“ Sie blickte zu den ersten Häusern der neuen Stadt. Und lächelte, als sie einen Jungen sah, der bereits eine der Wände bunt bemalte.
„Wann wirst du wiederkommen?“
„Ich … weiß es nicht. Tut mir leid. Aber ich werde wiederkommen.“ Sie musste die Reise beginnen, bevor sie es sich anders überlegte und setzte ihr Pferd in Bewegung.
„Nomiia?“
Sie drehte sich zu ihm, ohne anzuhalten.
„Pass auf dich auf. Ich bin stolz auf dich.“
„Danke, ich auch auf dich. Halte die Stellung.“
Ihr Pferd begann zu traben, ging in einen Galopp über. Entfernt am Horizont sah sie ihr altes zu Hause. Die Skelette hatten bereits begonnen, ihre Kuppel aus Knochen zu bauen. Zukünftig würden sie sich hoffentlich ohne Gewalt mit den Menschen verständigen.
Nach einer guten Stunde erreichte sie eine hölzerne Brücke und überquerte den dunklen Fluss.
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