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Leo

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08.03.2009
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Leo

Orkanartiger Regen trommelte auf die Stadt. Mika stand auf dem Bürgersteig, bis auf die Haut durchnässt, und hypnotisierte die rote Ampel. Autos spritzten durch die Pfützen und trieben ihre Wut auf den Gipfel des heutigen Tages. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und beobachtete die Straße. Der nächste Wagen war noch weit genug entfernt. Sie konnte die beiden Lichtkegel im nassen Vorhang kaum ausmachen, kalkulierte das Risiko jedoch für eingehbar. Und spurtete los. Mit einem Satz war sie auf der Straße und rannte dem roten Licht auf der anderen Seite entgegen. Plötzlich quietschten Reifen, ihr Herz setzte für einen Augenblick aus. Wie ein erschrockenes Reh war sie stehen geblieben und starrte entsetzt auf das Auto. Eine atemlose Sekunde lang stand alles still, nur der Fahrer gestikulierte hinter den hektischen Windschutzscheiben seines Landrovers.
Mika sammelte sich, zeigte ihm den Mittelfinger und hechtete zum Bürgersteig hinüber. Das Auto hupte verärgert und rollte weiter. Endlich fand Mika unter einer Markise Schutz, die über einem Schaufenster mit mottenzerfressener Kleidung ausgerollt war. Dementsprechend schlecht war das Geschäft auch besucht und erfüllte seinen Zweck: Sie hatte ihre Ruhe. In ihrer Handtasche kramte sie nach der Schachtel Zigaretten, fand sie, und stellte fest, dass die Zigaretten durch den Regen feucht und somit unrauchbar geworden waren.
„So ein Mist!“, murmelte sie und sah sich nach einem Kiosk um.
„Möchtest du eine?“ Überrascht wandte Mika sich um: Graublaue Augen grüßten sie mit selbstbewusster Unverwandtheit. Dünne Lippen lächelten sie schmalspurig an. Komisch. Mika war sich sicher, bis eben noch allein gewesen zu sein.
„Danke.“ Sie wischte sich nasse Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, um die erstandene Kostbarkeit nicht zu befeuchten. Mit klammen Fingern zündete sie sich den Glimmstengel an, inhalierte tief den Rauch und entspannte sich. Das melodiöse Klopfen des Regens auf dem Asphalt strahlte eine Ruhe aus, die Mika wie eine Decke umarmte, die noch kalt von frischer Wäsche war und bald ihre Körperwärme aufgesogen haben würde. Wie verlassen lag die Kleinstadt da, dem gräßlichen Himmelstreiben hingebungsvoll dargeboten, in der Mika nun seit mehr als 10 Jahren lebte. Damals war sie 15 gewesen und hatte mit ihren Eltern am Rande der Nordsee gelebt. Damals. Damals war alles gut gewesen. Sie war ein unfreiwilliges Einzelkind geblieben, hatte sich immer einen großen Bruder gewünscht. Trotzdem war alles okay gewesen, sie verstand sich wirklich prima mit ihren Eltern. Mit ihrer Mutter zusammen hatte sie oft abends vor dem Kaminfeuer gehockt, dicke Wollsocken gestrickt und sich die wilden Geschichten angehört, die sich ihre Mutter so gern ausgedacht hatte. Dabei prasselte das Feuer und die dicke, warme Luft hüllte sie ein, immer solange, bis ihr Vater von der Arbeit heimkehrte und ihre Mutter das Abendessen vorbereitete. Jeden Abend spielten sie während des Abendessens ein Spiel: Einer begann mit einem Wort, das ihn über den Tag hinweg beschäftigt hatte. Irgendeines. Oft sagte Mika dann: „Schule“ und ihre Eltern seufzten lachend auf, hielten sich aber an die Regeln. Ihr Vater musste dann einen Satz bilden, der mit einem Adjektiv das Wort beschrieb, während ihre Mutter das „Warum“ einstreute. „Nagut, du kleiner Strolch“, grinste ihr Vater dann oft und wuschelte ihr durch ihr krauses Haar. „Schule ist blau.“, ließ er seiner Kreativität freien Lauf.
„Weil sie den Himmel verschluckt hat.“, vollendete ihre Mutter die Runde. In der nächsten Runde musste ihre Mutter beginnen. Es kam nicht auf den Sinn an. Oft entstanden durch die Runden lustige Gespräche, manchmal auch ernste, aber auf jeden Fall wurde es niemals langweilig. Nach dem Abendessen wuschen ihre Eltern gemeinsam ab, eine seltsam intime Angelegenheit war das, der Mika nie gerne inne wohnte. Nicht, weil sie sich davor scheute, Arbeitsaufgaben auferlegt zu bekommen, sondern weil ihre Eltern sich bei dieser Tätigkeit auf einer merkwürdigen Art und Weise näher kamen und sie einfach nicht begriff, was sie an ihrem Beisammensein so irritierte. Sie summten manchmal gemeinsam ein Lied, schauten sich einfach nur an oder schaukelten mit ihren Oberkörpern im Takt zu einer Melodie, die nur sie beide hören konnten. Es war ihr Ritual. Etwas, das nur ihnen beiden gehörte. Mika fand das komisch, es war doch nur der Abwasch von dreckigem Geschirr. Und trotzdem traute sie sich nie, die beiden dabei zu stören. So, als wäre es etwas Heiliges, Unberührbares.

Es begann in einem besonders warmen Frühling. Die Knospen öffneten sich schon sehr früh, Ende Februar, und die Sonne strahlte in einer Intensität, die nicht wärmte, sondern die Menschen angriffslustig stimmte. Es war einfach noch zu früh, mit diesen Temperaturen konnten besonders die Küstenbewohner, die eine unnachgiebige, immer stürmische Nordsee gewohnt waren, zu dieser Zeit einfach noch nichts anfangen. Es war, als würde die Luft stehen. Die Zeit, in der ihre Mutter oft über Kopfschmerzen klagte, sehr dünn wurde und auch nicht mehr so viel sprach wie sonst. Ihre Geschichten, die sonst so wild und unbeugsam waren wie ihre rot leuchtende Lockenmähne, verebbten von Tag zu Tag mehr, während ihre Augen trübe und blass wurden.
Sie hatte eine Krankheit, die in ihrem Inneren langsam Besitz von ihr ergriff, durch ihren Körper wucherte und sie nicht mehr losließ. „Krebs“ hatte ihre Mutter das genannt und ihre Hand dabei fest gehalten. Da lag sie schon mehr im Bett, ruhte und schlief viel. Selten machte sie noch selbst das Abendessen, meistens stand Mika nun am Herd und kochte für die Familie. Und auch, wenn das ganze Jahr über ein furchtbarer Knoten ihre Brust zugeschnürt hatte, sie das Gefühl hatte, einfach nicht atmen zu können, so hoffte sie doch bis zuletzt, dass alles wieder gut werden würde. Ihr Vater wurde grau im Gesicht, das sich eingefallen und ausdruckslos jeden Abend über sein Essen gebeugt über die leeren Tage ausschwieg, bis sein Mund trocken und wortlos geworden war.
Ihre Mutter starb 3 Tage vor Heiligabend. Sie spürte nicht, wie der letzte Atemzug aus ihrem ausgemergelten Körper wich, sie war bereites seit Tagen bewusstlos. Ihr Vater hatte dabei auf dem Sofa gelegen, bedröhnt von dem einsamblauen Licht des Fernsehers. Mika hatte sich neben ihre Mutter auf das Bett gelegt, hatte ihre Hand in die ihrer Mutter geschoben und ihr ganz leise ihre eigenen Geschichten ins Ohr geflüstert. Sie wollte, dass sie sie mit hinüber trug. Was und wo „hinüber“ auch immer sein mochte.

Das Begräbnis war ein einfaches. Ein Pfarrer hielt eine kleine Rede, die Gemeinde schüttelte artig mit trauriger Miene ihre und die Hände ihres Vaters, der noch kein Wort seit dem Tod seiner Frau verloren hatte. Auch jetzt nicht, als die vielen Menschen seine Hand schüttelten, antwortete er auf keinen milden Blick, auf keine Beileidsbekundung. Stocksteif stand er in seinem gebügelten Anzug und ließ diesen wolkenverhangenen Tag einfach nur über sich ergehen.
Mika war es, die ein tapferes Lächeln versuchte, die einen ganzen Tränenbach weinte, die sich an seinen Arm klammerte und die schließlich auch die Gäste betreute, die sich in ihrem Wintergarten versammelten, um gemeinsam den Leichenschmaus zu genießen.

Das Haus wurde groß und Mika hatte das Gefühl, jeder Schritt, jedes Geräusch hallte an den Wänden wieder. Die Monate vergingen und auch, wenn die Traurigkeit Mika oft lähmte und handlungsunfähig machte, so spürte sie dann und wann so etwas wie einen Schimmer. Besonders an den ganz klaren Morgenden, an denen sie noch vor dem ersten Sonnenlicht aufstand und sich um das Frühstück kümmerte. Der Tag lag noch so jungfräulich und verheißungsvoll in den umliegenden Feldern, dass es Mika kribbelte. Im Bauch, in den Fingerspitzen und schließlich auch in ihrem Kopf und ihrem Herzen. Ihr Vater zerstreute diesen Schimmer alsbald mit seinem Aufstehen, wie ein Mückenschwarm stob er auseinander und hinterließ nichts als ein wenig Staub in ihrem Mund. Ihr Vater hatte seit mehr als einem halben Jahr nicht gesprochen. Stattdessen trank er jeden Abend mehr als das obligatorische Feierabendbier und sah morgens so zerknirscht aus, dass Mika sich oft beklommen fragte, wo bloß das Gesicht ihres Vaters geblieben war. Das Gesicht mit den vor Schalk nur so blitzenden Augen, mit den Lachfalten um seinen Mund und den Grübchen auf seinem Kinn. All das lag begraben unter dem Grauschleier auf seinen Augen und den Falten, die von Alkohol gelähmt schwer auf seinen Wangenknochen hingen.

„Schule.“, flüsterte sie eines Abends beim Abendessen und sah ihren Vater dabei nicht an. Das Wort war laut wie ein Presslufthammer, obwohl sie es nur geflüstert hatte. Draußen war es dunkel, Schnee bedeckte die Umgebung. Ihr Vater hörte auf, mit dem Löffel durch seine Hühnerbrühe zu rühren und blickte sie aus den gewohnt trüben Augen verständnislos an.
„Schule!“, wiederholte sie und sah durch einen Tränenschleier zu ihrem Vater, der nun seine Stirn gerunzelt hatte. Die Uhr an der Küchenwand tickte bedrohlich, während die Sekunden verstrichen und sie ihren Vater erwartungsvoll fixierte. Der öffnete den Mund, blinzelte einmal, und schloss ihn dann wieder, um sich erneut über seine Suppe zu beugen und sie schlürfend auszulöffeln.
Das war die Nacht, in der die 15jährige Mika ihre Reisetasche mit ein paar Kleidungsstücke füllte, ihre Erspartes einsteckte und morgens um 6 das Haus verließ, um den ersten Zug in diese Kleinstadt zu nehmen, die am anderen Ende von Deutschland weit weg genug war, um zu vergessen und neu anzufangen.

Lange Zeit bettelte sie. Sie hatte ein hübsches Gesicht, das bei den Touristen gut ankam. Sie erweckte mit ihren großen Augen und dem traurigen Zug in ihrem Gesicht Mitleid und schaffte es, sich so die Jahre durchzuschlagen. Die Nächte verbrachte sie mal hier und da. Ein Jahr lang war eine leerstehende Fabrikhalle ihr Zuhause gewesen, das sie mit anderen sogenannten „Punks“ teilte. Hier feierten sie, saßen zuasmmen, schmiedeten hochtrabende Pläne und schliefen in Schlafsäcken, solange, bis das Ordnungsamt kam und sie vertrieb: Die Halle wurde abgerissen, niedergewaltzt von einem riesigen, erbarmungslosen Bulldozer.

„Eigentlich ja eine schlechte Angewohnheit.“, sinnierte der frackierte Mann neben ihr. Mika studierte sein Profil: Eine hockige Nase, die spitz in den Himmel ragte, ließ Waghalsigkeit vermuten. Das hatte sie einmal gelesen, in ihrer guten Zeit, wie sie es nannten. Eine gute Zeit war immer die, bevor man sich auf der Straße verlor.
„Von schlechten Angewohnheiten gibt es viele.“, antwortete sie und dachte dabei an das zuviele Bier, das sie trank und an die vielen Männer, mit denen sie in Hinterhöfen geschlafen hatte, nur um sie zu überreden, sie in ihre warmen Betten einzuladen. Nur für eine Nacht. So kam sie zumindest die ersten fünf Jahre ganz gut durch die Winter. Heute war das anders. Jetzt hatte sie ein winziges Zimmer in einem ziemlich herunter gekommenen Haus. Sie arbeitete in einem Imbiss, stapelte im Lager die vielen Kartons und wischte zweimal die Woche den Fußboden. Das brachte nicht viel, aber es brachte genug, um über die „Runden zu kommen“, wie es so schön hieß. Damit war sie ein Stück zurück in die Normalität gekehrt. Das schrieb sie auch ihrem Vater in einem Brief, der der erste zaghafte Kontakt nach fünf langen Jahren darstellte. Er hatte ihr nicht geantwortet.
„Ich bin übrigens Leo.“
„Aha.“
Sie konnte Leos fragenden Blick spüren, dachte aber nicht daran, ihn zu beantworten.
„Und wie heißt du?“
Mika sog zweimal heftig an der Zigarette, um sich zu beruhigen. Sie war zu spät. Vor fünf Minuten hätte sie im Lager sein müssen. Sie wusste, was das bedeutete: Sie konnte sich mal wieder nach einem neuen Job umsehen. Ihrem Streetworker würde das ganz sicher nicht gefallen.
„Was machst du so?“, fragte sie den Jungen neben sich, der sich über die Gegenfrage wunderte. Er blinzelte, sah dann auf die Straße.
„Ich habe einen Hof, draußen, vor der Stadt.“
„Ja, und?“
Leo zog eine Augenbraue hoch.
„Ja, man, was bedeutet das jetzt genau? Bist du Bauer oder was?“, kläffte sie ihn an.
„Nicht direkt.“
Plötzlich einsilbig geworden drehte sich der schlacksige Junge um und besah äußerst konzentriert die Schaufensterauslage. Mika paffte weiter ihre Zigarette, nicht ohne sich dann und wann nach ihm umzusehen. Es war doch nur eine Frage der Zeit, dachte sie trotzig, und genoss das kratzige Gefühl des Rauches in ihrem Hals. Jungs waren so.
Nach einer Weile wurde der Regen spärlicher, der Junge jedoch hüllte sich weiterhin in sein Schweigen.
„Das würde dir ohnehin nicht stehen.“, überwand Mika sich schließlich nach einer Weile.
Leo drehte sich zu ihr um und nahm die Entschuldigung zwischen den Zeilen offenbar an. Er lächelte.
„Stimmt wohl. Aber es wäre auch ganz lustig, solche Sachen anzuziehen, oder?“
„Na, ich weiß ja nicht. Vielleicht würde der rote BH dir ganz gut stehen.“
Er lachte und sah sie an. Verlegen sah sie zurück zur Straße.
„Und? Was ist das nun, was du da tust? Auf dem Land?“ Das Wort „Land“ spieh sie mehr, als dass sie es sagte. Nur unwillig kam es ihr von den Lippen. Land. Das war das, wo sie herkam.
„Ich kümmere mich um Tiere. Also, es ist eine Art Resthof. Die Leute bringen mir ihre Tiere, wenn sie keiner mehr haben will, sie zu alt sind oder krank, dass der Tierarzt sie einschläfern will. Aber meistens will er das nur, damit die Leute die Verantwortung endlich loswerden.“ Seine Stimme klang wütend. Mika erwiderte nichts. Im Wütendsein kannte sie sich aus. Sie war ständig wütend. Oder besser gesagt: Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wie es war, nicht wütend zu sein. Entspannt, wie die Leute, die die Einkaufspassage hoch und runter spazierten, mit prall gespannten Hochglanztüten, auf denen bunte Gesichter und neonfarbene Labels prangten. In diesen Tüten lagen Welten, ganze fremde Welten, die man kaufen konnte und die nichts bedeuteten. Aber trotzdem lag da eine unsichtbare Glückseligkeit auf diesen angemalten Frauengesichtern und Mika stellte sich oft vor, wie diese Damen in die Geschäfte gingen, mit ihren hohen Absätzen klapperten und die Verkäuferin spitz fragten: „Guten Tag! Wo finde ich denn die Abteilung mit den Glückseligkeiten? Ich würde da diese Woche gerne etwas anderes ausprobieren, die letzte war von minderer Qualität.“
Glückseligkeit, schloss Mika, bedeutete nichts. Überleben hatte eine Bedeutung. Sie hatte überlebt. Ihr Vater. ihre Mutter nicht. Überhaupt zu leben, hatte eine Bedeutung. Und damit auch noch etwas sinnvolles anzufangen. Sinn. Ein Sinn gab den Menschen wirkliches Glück. Mika beührte plötzlich und grob Leo´s Arm, der überrascht die Luft einsog. Seine Haut war übersät mit schwarzen Härchen, über die sie sanft strich. Es fühlte sich warm an. Ungewohnt fremd und warm.
„Warum tust du das?“, fragte sie ihn.
„Was?“
„Das mit den Tieren. Auf deinem Hof.“
„Ich finde es richtig. Und es macht mir Freude.“
Mika erkannte plötzlich, mit was für einem seltsamen Blick er sie besah und ließ seinen Arm loß. Klar. Sie war der häßliche Punk und sie berührte einen hübschen Kerl, der wahrscheinlich seine Freundin zuhause sitzen hatte. Auf einmal schämte sie sich. Leo steckte sich noch eine Zigarette an und hielt ihr die offene Schachtel an. Sie griff sich gleich zwei der Stengel und klemmte sich eine hinter ihr rechtes Ohr.
„Du bist ja schön blöd!“, begann sie plötzlich mit einer Lautstärke zu singen, die sie selbst erschreckte. Gelassen rauchte Leo seine Zigarette und beobachtete sie mit einem zärtlichen Blick, wie sie anfing, vor dem Schaufenster herum zu tanzen, zu hüpften und ihm Grimassen zu schneiden. Der Regen hatte aufgehört und langsam brach der Himmel auf, um die Sonne vereinzelt blinzeln zu lassen. Mika spürte plötzlich den Aufbruch im Augenblick und eine Schwere auf ihrer Brust, die sie schwindelig machte. Sie hörte auf, zu tanzen. Es war das erste Mal, das sie nicht das Gefühl hatte, am falschen Ort zu sein. Und sie fand ihn schön.

„Hallo? Hallo?“ Eine hysterische Frauenstimme klingelte in ihren Ohren und bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, aber es war, als wären ihre Lider bleischwer. Sie schaffte es einfach nicht.
„Du musst die Augen öffnen, wenn du mich hörst. Versuch es!“, keifte es wieder, aber Mika schwamm durch einen gummiartigen Tunnel, der sie fast zerdrückte, so, als wollte er sie nicht gehen lassen. Ihre Brust tat weh, das Atmen fiel ihr schwer. Atmete sie überhaupt?
Nach einer Ewigkeit und einer ernormen Kraftanstrengung schaffte sie es, ihre Augen einen Spalt breit zu öffnen. Gleißendes Sonnenlicht stach ihr in die Pupillen. Sie stöhnte.

Nach einer weiteren halben Stunde saß Mika in eine Wolldecke gehüllt in einem Krankenwagen. Miittlerweile hatte man ihr mit knappen Worten gesagt, was passiert war: Sie war über die Straße gehechtet, so eine Passantin, die den Unfall beobachtet hatte, und von einem Wagen erfasst worden, über die Heckscheibe gerollt und hart auf den Asphalt gefallen.
„Und was ist mit dem Wagen passiert?“, fragte Mika sofort.
Die beiden Sanitäter warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu und krausten die Stirn. Mika kroch es kalt den Rücken hinunter.
„Und was ist mit dem Wagen passiert?“, wiederholte sie, nun etwas panischer.
Einer der Sanitäter räumte geräuschvoll ein paar Kartons aus, der andere straffte die Schultern, bevor er ihr davon erzählte.
Das Auto hatte vor Schreck einen Schlenker auf der Straße gemacht und war in ein Schaufenster gekracht. Der Fahrer hatte dabei einen Herzinfakt erlitten und war sofort tot gewesen. Mika saß einfach nur da und fühlte sich taub. Und sie dachte an den seltsamen Traum, den sie gehabt hatte.
„Ich möchte die Leiche sehen.“, forderte sie. Die Sanitäter reagierten erst nicht auf sie, aber als sie aufgestanden und aus dem Krankenwagen geklettert war, um nach dem Leichnam zu suchen, folgten die beiden Männer ihr.
„Sie haben ihn zugedeckt. Mädchen, du stehst unter Schock. Es gibt Dinge, die sollte man sich nicht zumuten.“
Der andere klopfte ihr unbeholfen auf die Schulter:
„Du bist nicht Schuld an der ganzen Sache, weißt du. Manche Dinge... naja.... geschehen eben einfach.“
Unbeirrt suchte Mika mit ihren Augen die Straße ab. Die Sonne schien jetzt ganz ungehemmt, so, als empfände sie eine makabere Freude an der Situation. Sie fand das Damenmodengeschäft und eilte zu dem schwarzen Sack, der auf dem Boden vor dem zersplitterten Schaufenster lag. Polizisten hatten rotes Flatterband aufgezogen und versuchten, die zahlreichen Schaulustigen auf Distanz zu halten.
„Du hast hier nichts zu suchen, Kind.“ Mit einer schnellen Kopfbewegung gab ein bulliger Polizist ihr zu verstehen, dass sie verschwinden sollte. Der Sanitäter kam ihr jedoch zu Hilfe.
„Es ist in Ordnung. Sie kannte ihn.“
Langsam zog der Polizist den Reißverschluss auf. Das surrende Geräusch reißte an ihren Eingeweiden. Und tatsächlich: Leo hatte seine Augen geschlossen und fast glaubte sie für einen irren Augenblick, er schliefe nur, wäre da nicht die porzellanweiße Haut, die schon zerbrechen würde, würde sie nur ihre Fingerkuppe auf seine kalte Wange legen. Heiße Tränen rannen ihr über ihr Gesicht.

Es war ein ungewöhnlich milder Tag für den März. Monate waren seit dem Unfall vergangen. Wolken stoben über den blauen Himmel, der sich über den großen Backsteinhof spannte. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie über den Kieselsteinweg zur Haustür wanderte und an die schwere Eichenholztür klopfte.
Ein alter Mann mit einem zerfurchten Gesicht öffnete ihr. Er schien klein zu sein, mindestens einen Kopf kleiner als sie selbst, jedoch bemerkte sie erst auf dem zweiten Blick, dass sein Rücken sich rund über seinen Oberkörper wölbte. Er blickte aus weißen Augen an ihr vorbei.
„Was wollen Sie?“
„Ich bin eine Freundin von Leo.“, sagte Mika nur und spürte deutlich das Misstrauen von Leo´s Großvater. Es war gar nicht so einfach gewesen, herauszufinden, wo genau sich der Hof befand, von dem Leo ihr in ihrem Traum erzählt hatte. Traum. Wenn es denn überhaupt einer gewesen war. Aber darüber mochte sie nicht nachdenken, der Gedanke klaffte wie eine offene Wunde in ihrem Kopf.
Nach einigen Minuten öffnete er die Tür einen weiteren Spalt breit und trat zwei Schritte zurück. Mika trat ein und füllte ihre Lungen mit der staubigen Luft, die in diesem dunklen, ausladenden Flur alt und unverbraucht schmeckte. Eine Katze huschte über ihre Füße hinweg.
„Woher kannten Sie ihn?“ Seine Stimme knarzte wie altes Holz, strahlte jedoch eine Wärme aus, die in ihre Bauchhöhle strömte und sich wohlig einnistete. Sie spürte eine elektrisierende Gänsehaut auf ihrem Rücken und fast schien es ihr, als könnte sie die Geschichten ihrer Mutter in den Fluren hören, wie sie nur darauf lauerten, von ihr entdeckt und noch einmal erzählt zu werden. Und während sie Leo´s Spuren durch das Haus und sein Leben folgte, spürte sie, dass sie zuhause war.

 

Hallo Milchkaennchen,

und herzlich willkommen auf KG.de.

Erst einmal: Respekt, dass Du den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hast. Ich weiß, wie schwer das fallen kann.

Ich habe deine Geschichte stellenweise mit Vergnügen gelesen. Vergnügen, weil ich die Bilder, die du z.T. benutzt, mag.

Wir sind nach diesem seltsam bunten Karussell in meinem Kopf hart auf dem Boden dieser neuen Tatsachen gelandet.
ist so eines dieser Bilder.


Allerdings sind diese Bilder in deinem Text oft umrahmt von Nebensächlichkeiten oder Platitüden, was ihre Wirkung beträchtlich schmälert.

Neben wir das Beispiel von gerade:

Ich klopfe mir den Staub von meiner Jeans. Wir sind nach diesem seltsam bunten Karussell in meinem Kopf hart auf dem Boden dieser neuen Tatsachen gelandet.
Blinzelnd sehe ich mich um. Eine wie leergefegte Straße ...
Die Umrahmung durch das Staubklopfen und das Blinzeln nehmen dem Satz völlig die Wirkung, da eine kurze Beschreibung der Tatsachen hier eher angebracht wäre.

Teilweise haben sich auch ein paar Logikschwächen in die Geschichte geschlichen. Bei einer so langen Geschichte sicherlich vorkommend, für den Leser aber eher ägerlich.

Trotz des schwarz-Weißen des Traumes gibt es ein rotes Backsteinhaus.

Trotz der Stille des seltsamen Vakuums gibt es eine Unterhaltung.


Das alles ist natürlich nur meine persönliche Meinung.

Fazit:
Die Geschichte hat eine schöne Grundidee, an deren Umsetzung du noch etwas feilen mußt. Eine Straffung würde sicherlich helfen, ebenso das Konzentrieren auf die Bilder. Ich persönliche würde mir eine griffigere Erklärung des Warum wünschen. Wie gesagt, ist nur meine persönliche Meinung.
Gern gelesen habe ich die Geschichte trotzdem.

Lieben Gruß
Dave

 

Milchkaennchen schrieb über ihre Geschichte:

Hallo :-) !
Hier präsentiere ich euch meine erste (ernsthafte) Kurzgeschichte. Das Thema ist wohl ein schwieriges und vermutlich rutsche ich in die Richtung "Groschenroman"... wäre trotzdem fürs Lesen und für anregende Kritik dankbar! Freue mich auf fruchtbare Inspirationen in diesem Forum und ja. Danke schonmal! :-)
Solche Kommentare bitte immer als Extraposting unter die Geschichte setzen. Willkommen auf KG.de!


Bitte korrigiere deine Zeichensetzung bei der wörtlichen Rede, die ist durchwegs falsch:

,,Hallo.“, sagt ein Mann neben mir.
- Du missbrauchst hier zwei Kommata als öffnendes Anführungszeichen. Wenn dein Schreibprogramm das Anführungszeichen nicht unten platzieren will, kopiere dir dieses Zeichen („) und setze es in den Text.
- Kein Punkt nach 'Hallo'

,,Ich grinse, weil das nicht stimmt. Oder nur zum Teil. Ihr Menschen wisst ziemlich wenig über die Funktionsweise der Welt.“, er wendet sich ab
- Möchtegern-Anführungszeichen austauschen
- Komma raus
- 'er' groß

Bedingt durch die viele wörtliche Rede im Text stören diese Fehler sehr. Ich habe die Geschichte erst mal ins Korrekturcenter (KC) verschoben, um sicherzustellen, dass du auch wirklich verbesserst. Im KC hast du dazu vier Wochen Zeit. Wenn du deine Korrekturen abgeschlossen hast, schreib den Mods (vita oder Tserk) eine PM, dein Text kommt dann zurück in die Ursprungsrubrik.

Verschoben aus Fantasy.

 

Hallo Dave!

Danke für deine ehrliche Meinung. Ich bin nochmal über den Text gefräst und habe versucht, hoffentlich alle Fehler auszuschließen und die Logik griffiger zu gestalten. Hoffe, es ist gelungen. Aller Anfang ist schwer :-)

 

Hallo Milchkännchen!

Ich habe dir ein paar Sachen rausgeschrieben, die mir aufgefallen sind.

Der Regen fällt sintflutartig aus dem Himmel, während ich über die Hauptstraße renne, meinem vom Wind gebauschten Regenschirm folgend.

Das ist zäh und hätte mich normalerweise schon verscheucht. Zäh wegen des "während" und wegen des Partizips (folgend). Der Anfang muss schnell und flüssig sein, damit sicherst du dir Leser.

Ein jungenhaftes Gesicht, das nicht lächelt und keine Miene verzieht, während es mich anspricht.

Sag nicht, was es nicht tut, sag, was es tut. Die Abwesenheit von etwas kann man sich schwer vorstellen. Außerdem ist da wieder ein "während".

Mit 30 in einer Tankstelle zu arbeiten, ist natürlich nicht sehr löblich.

Das Komma muss weg.

„Das tut sie doch aber immer“, wirft der Steinmensch nun in meine Gedanken.

Was ist ein Steinmensch? Der mit dem Sakko? Ist das deswegen, weil er so unbeweglich ist? Hier bin ich hängengeblieben und habe überlegen müssen. Eigentlich mag ich schon fast aufhören, die Geschichte zu lesen.

Die Menschentraube löst sich auf

War die vorher schon da? Wenn ja, dann erwähne sie vorher irgendwo.

nach gegeben

"nachgegeben"

Das ehemals Steingesicht

"ehemalige"

Eine wie leergefegte Straße.

Das "wie" muss weg.

Und so geht es weiter. Für mich steht der Text dem Inhalt im Weg. Die Sprache wirkt unbeholfen, deinen Text habe ich nicht flüssig lesen können. Die Dialoge sind gestelzt, finde ich, so würde man nicht sprechen.

Lies dir deinen Text mal laut vor, oder lies ihn anderen vor. Da, wo du stolperst oder etwas nicht gleich klar ist, kannst du dann nachbessern.

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo yours!

Danke, dass du dir meine Geschichte trotzdem durchgelesen hast! Darauf habe ich gewartet: dass mich jemand ein wenig in die Mangel nimmt :-) . Ich weiß ja, dass ich als Anfängerin unglaubliche Fehler machen (muss? :-( ) und in meiner näheren, echten, Umgebung gibt es niemanden, der mich ernsthaft kritisieren würde.

Also, danke für deine Kritik. Ich werde mich, hoffentlich heute noch (wenn ich nicht mehr arbeiten muss), gleich dransetzen und das Ganze umschreiben bzw. schauen, wie und wo ich an mir arbeiten kann.

Schöne Grüße ebenfalls!

 

Ich hab jetzt die ganze Geschichte nochmal komplett überarbeitet. So wie vom Inhalt als auch vom Stilistischen her.

Es ist 00: 31. *Kopf kratzt* Ich kann grad schwarz und weiß nicht mehr unterscheiden, aber ich hoffe, doch zumindest eine kleine Verbesserung bzw. Vertiefung des Ganzen "geschafft" zu haben.

Danke für eure Kritik!!!

 

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