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Leuchtfeuer

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25.12.2019
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Anmerkungen zum Text

Das Lied in der Geschichte ist: M83 - Wait. Das Cover mit Akustikgitarre von Lauren Grace (Youtube) war Inspiration für eine der Szenen.

Leuchtfeuer

Während der Windstille liegt das Wasser auf der Stadt wie ein straff gespanntes Leichentuch. Nur meine Paddelstiche zerstören die Illusion, dass wir auf dem wolkenlosen Himmel zu gleiten scheinen. Hanna hält ihre Hand als Sonnenschutz an die Stirn und schaut in die leeren Fenster der Dachgeschosswohnungen, die an uns vorbeiziehen.
Unter der Wasseroberfläche wabern Reihen von Autos mit aufgeschlagenen Türen vor sich her, als würden sie nur kurz auf ihre Besitzer warten. Als würde da unten jeden Moment eine Familie mit Taucherglocken auf den Köpfen aus einer Bäckerei schweben, mit schwerelosen Schritten zum Auto hoppeln und einfach weiterfahren. Als wäre nichts gewesen.
Ein metallener Pferdekopf reckt sich aus dem Wasser. Hanna neigt ihren Kopf zur Seite, lächelt ihn an und legt die Hände auf seine Wangen. Streicht zärtlich über die Mähne, bis ins Wasser. Ein kurzes Winken, bevor der Augenkontakt abbricht. Dann strahlen ihre Augen mich an.
»Denk nicht daran«, sage ich. »Was meinst du, wie viele Möhren das Vieh am Tag wegfuttert.«
Sie faltet die Arme vor ihrer Brust und ihre Brauen verziehen sich in gespielter Sturheit, aber das Lächeln verrät sie.
»Weißt doch, was ich meine. Bist eine erwachsene Frau«, sage ich und bevor sie sich wegdreht, sehe ich das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwinden. Scheiße. Natürlich weiß sie‘s. Aber es bringt ja nichts. Ist alles so wie es ist. Die Pferde sind jämmerlich ersoffen, und mit ihnen der ganze Rest.

Wir werfen uns die Rucksäcke über und betreten den Steg vor einem Fenster der ehemaligen Stadtbibliothek. Holzplanken, Schranktüren und Regalplatten werden notdürftig von ein paar Nägeln und bunten Schnüren zusammengehalten. Die Plastiktonnen tauchen unter unserem Gewicht in das Wasser und heben sich erst wieder, als wir durch das Fenster in die Dunkelheit einer leeren Halle klettern. In der Mitte des Raumes schimmert schwarzes Wasser umgeben von einem Glasgeländer im Restlicht und versperrt die Sicht auf die unteren Stockwerke. Ein verlaufener Grafittipfeil auf dem Glas zeigt zum Treppenhaus, daneben, ein Wort in krakeliger Schrift: Markt.
Hanna stützt sich mit den Armen auf das Geländer und blickt wehmütig in die Tiefe.
»Die konnten bestimmt noch was retten«, sage ich. »Stell‘s dir vor: Eine Arche für Bücher. Zwei von jedem Exemplar. Und die machen dann kleine, süße Taschenbücher.«
Ihr Mund formt ein zaghaftes Lächeln, aber ihre Augen lächeln nicht mit. Ich lüge und glaube, sie weiß es. Niemand konnte irgendetwas retten. Die Sturmfluten kamen zu plötzlich, höhlten die Gebäude aus und spülten alles ins Nichts. Die Bücher werden höchstens noch von Fischen gelesen. Falls es irgendwo noch Fische gibt.
»Wegen vorhin. Ich hab‘s nicht so gemeint. Wenn wir ein paar Tiere finden, dann machen wir ‘nen verdammten Bauernhof auf«, sage ich. Das Lächeln erreicht ihre Augen und es ist ansteckend. Sie streckt mir ihre Hand entgegen und ich schlage ein.

Der Ausgang leuchtet wie eine Pforte aus reinem Licht. Lautes Stimmgewirr weht uns entgegen, als wir den Marktplatz betreten. Verkaufsstände, wild zusammengezimmert aus verwitterten Holzbrettern und Teilen alten Mobiliars, stehen dicht an dicht an den Seiten des Dachs. Am ersten Stand tanzen bunte Kleider im Wind. Am nächsten strahlen uns die saftigen Farben von Tomaten, Gurken und Möhren an. Hanna lässt im Vorbeigehen ihre Hand über den Stoff streifen, beugt sich über das Gemüse und begutachtet es mit liebevollem Blick, als wären es ihre eigenen Kinder. Dann nickt sie anerkennend dem Verkäufer zu.
»Ich geh schon mal vor, muss noch etwas für heute Abend besorgen. Wir sehen uns ...«, sage ich und schaue auf meine Uhr, »… in etwa zwei Tagen vorne am Platz?«
Sie grinst und streckt ihre Zunge heraus.
»Und guck den Leuten nicht das ganze Gemüse weg.«

Vor einem leeren Tisch mache ich halt. Der Verkäufer ist in dunkle Lumpen gekleidet, sein Kopf ist bis auf die Augenpartie in ein Tuch eingewickelt.
»Hier gibt‘s nichts zu sehen, weitergehen, weitergehen«, grummelt er mit verstellt tiefer Stimme. Ich verdrehe die Augen.
»Du bist echt ein Spinner, Tobi. Hast du‘s?«
Er zieht das Kopftuch herunter und ich blicke in das Gesicht eines Jungen, nicht älter als dreizehn.
»Mit dem falschen Bein aufgestanden, was? Klar hab ich‘s«, sagt er und schiebt eine zerbeulte Blechdose über den Tisch. »Und jetzt lass sie ‘rüberwachsen, alter Mann.«
Während ich meine Uhr vom Handgelenk schnalle, realisiere ich, dass Tobi nie so alt werden wird wie ich. Dass das Wasser bald unser kleinstes Problem sein wird. Ich schaue mich um und sehe heitere Gesichter, die versuchen, hier etwas Leben im Überleben zu finden. Sehe die Frau mit rundem Bauch am nächsten Stand, die einen Strampler in die Sonne hält. Ich bin wütend auf sie, dann wütend auf mich. Wütend auf diesen unersättlichen Mistplaneten, der sich das Bisschen, was wir noch haben, auch noch einverleiben wird. Ich werfe die Uhr auf den Tisch und stecke die Blechdose in den Rucksack.
»Woah! Casio mit Taschenrechner. Mega«, sagt Tobi und mustert die Uhr mit offenem Mund von allen Seiten.
»Pass auf dich auf, Tobi.«
»Warte mal«, sagt er und winkt mich verschwörerisch heran. »Das hast du nicht von mir gehört. Die machen morgen wieder eine Runde.«
»Wie, morgen? Das letzte Mal ist keinen Monat her.«
Er zuckt mit den Schultern, schnallt die Uhr um sein Handgelenk und lässt sie am Arm auf und ab rutschen. »Keine Ahnung. Ist so wie es ist.«
Ist so wie es ist. Für einen Moment muss ich schmunzeln, aber die Wut hält sich hartnäckig in meinem Hinterkopf.

Die schmale Marktgasse mündet hinter den letzten Ständen in einen offenen Platz. Wuchtige Trommelschläge hallen im Viervierteltakt durch die Luft. Das Feuer in einer rostigen Regentonne speit Rauchschwaden in den Himmel und ein alter, bärtiger Mann tanzt um sie herum. Regenbogenfarbene Stoffstreifen wehen am Holzstock, den er im Rhythmus der Trommeln mit einem lauten Klack in den Boden stößt. Hannas Fuß tappt im Takt, als ich mich zu ihr in die Menschenmenge stelle. Gebannt folgen wir dem Schauspiel.
Der Mann wirbelt den Stock gekonnt vor sich her und stößt die Spitze in Richtung des Himmels. Seine tiefe Stimme donnert über das Dach.
»Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis er empfange den Frühregen und den Spätregen.«
Er dreht sich ein Mal um die eigene Achse und murmelt Worte, die ich nicht ausmachen kann. Die bunten Streifen umwehen ihn wie ein Kokon.
»Und er betete abermals, und der Himmel gab den Regen, und die Erde brachte ihre Frucht.«
Ich drehe mich zu Hanna.
»Wenn das funktioniert, bin ich der nächste, der um die Tonne hüpft. Ansonsten, falls das mit dem Wetter so weiter geht ...« Sie greift meinen Arm, lächelt zuversichtlich in den Himmel und zieht genüsslich Luft in ihre Nase, als könnte sie aufziehende Regenwolken riechen. Dann lässt sie die Zunge über ihre trockenen Lippen fahren.
»Wir sollten das Wasser holen«, sage ich.

Wir schütteln unsere Rücksäcke über dem Tisch aus. Die Verkäuferin beäugt die sechs Möhrenbündel skeptisch.
»Kriegt ihr einen Kanister für«, sagt sie mit krächzender Stimme.
»Einen?!«, fauche ich.
»Wasser wächst nicht auf den Bäumen«, sagt sie und lacht auf. Bäume. Als ob. Ich öffne den Mund, aber bevor ich etwas sagen kann, nimmt sich Hanna kommentarlos den Wasserkanister und läuft weiter. Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern. Ich funkle sie mit zusammengekniffenen Augen an, dann folge ich Hanna.

Das Ruderboot gleitet auf den Wasserfarben des dämmernden Abendhimmels. Die Paddel vermischen das Blau, Rosa und Orange wie Pinselstriche. Wir trinken einen kleinen Schluck, nur genug, um den trockenen Hals und die Lippen zu benetzen. Dann starrt Hanna gedankenversunken auf den Kanister und ich sehe die Frage in ihren Augen, die sie nicht stellen will. Die unmögliche Frage. Wir oder die Pflanzen. Dursten oder hungern.
Ich lasse meinen Blick über die Dächer schweifen. Menschen sitzen in Klapphockern und lesen. Grillen Gemüsespieße über brennenden Tonnen. Lassen ihre Beine vom Dach baumeln und starren Löcher in das Wasser. Je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen, desto menschenleerer wird es. Ein gedämpfter Schrei durchreißt die Stille, geht über in leises Winseln. Ein lebloser Körper hängt mit dem Kopf im Wasser aus einem Fenster.

Wir legen vor unserem Fenster an und klettern in die Wohnung. Ich knote das Tau am Heizrohr fest und zünde die Laterne an. Im Treppenhaus wabert das Licht über das stille Wasser, dem nur noch ein paar Stufen bis zu unserer Etage fehlen. Als wir das Dach betreten, funkelt Theos Brille im Kerzenschein. Er klappt das Buch zu und legt es auf den Tisch. Don Quijote.
»Wie oft willst du diesen alten Schinken eigentlich noch lesen?«, frage ich. »Ist doch langweilig, wenn du das Ende kennst.«
Er legt seine Hand auf das Buch und tippt mit einem Finger auf der Windmühle herum.
»Das Ende ist nicht wichtig. Es geht um die Reise dahin«, sagt er und lächelt.
Und für einen Augenblick vergesse ich, dass wir über ein Buch reden.
»Wie war der Ausflug?«, fragt er und schaut zum Wasserkanister in Hannas verkrampften Armen.
Ihr Blick ist gesenkt und sie scharrt mit der Fußspitze über den Boden.
»Wird immer schwieriger. Teurer. Ich weiß nicht wie lange ...«
Ich weiß nicht, wie lange wir noch überleben können.
»… wie lange das so weitergeht. Wir müssen uns überlegen, was wir mit dem Wasser machen.«
Theo nickt andächtig auf und ab.
»Was meinst du?«, fragt er und schaut zu Hanna. Ihr Blick streift unsere Gesichter und bleibt an den Tomatenstauden hängen.
»So wenig wie nötig, okay?«, sage ich. Sie nickt und läuft zu den Gemüsebeeten. Ich setze mich zu Theo und lege die kleine Blechdose vor ihn auf den Tisch.
»Von Hanna und mir. Alles Gute.«
Er nimmt drei Zigaretten aus der Dose und legt sie auf den Tisch. Seine Augen funkeln, während sein Blick von der Dose zu meinem Handgelenk wandert. Er schüttelt den Kopf.
»Passt schon«, sage ich. »Man muss sich auch mal etwas gönnen.«
»Ich habe für uns auch etwas Feines mitgebracht. Einen edlen Tropfen aus einer alten Zeit.«
Er greift unter sich und stellt eine Whiskyflasche auf den Tisch.
»Lagavulin. Mensch Theo, du steckst voller Überraschungen.«
Hanna setzt sich lächelnd an den Tisch und legt ihre Hand auf Theos Arm.
»Danke dir, Hanna. Danke euch beiden.«
Wir gießen uns Whisky ein, zünden die Zigaretten an und erheben die Gläser zum Nachthimmel. Der Alkohol rinnt warm beißend meine Kehle herunter. Ich ziehe genüsslich an der Zigarette und heiße das langsam einsetzende Schwindelgefühl willkommen. Hanna nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Theo und ich lachen so laut auf, dass es über die Dächer hallt. Ich lehne mich zurück und betrachte den aufsteigenden Zigarettenqualm, der sich in den milchigen Sternenstreifen verliert. Überleben. Leben. Ich kann den Unterschied fast fühlen. Es liegt mir auf der Zunge wie ein vergessenes Wort.

Die halbleere Flasche glänzt honigfarben im Schein der sterbenden Kerze. Hanna liegt zusammengerollt im Gartenstuhl und schläft.
»Theo. Ich muss dir was sagen. Diese Wichser kommen morgen schon. Hat mir Tobi erzählt«, sage ich leise. Er ballt seine Hand zu einer Faust, dann huscht sein Blick zu Hanna, die mit einem leichten Lächeln auf den Lippen da liegt, als würde sie von etwas Schönem träumen.
»Was wollen wir machen?«, fragt er.
»Gibt nichts, was wir machen könnten. Gar nichts. Nada.«
Das silberne Kreuz an seiner Halskette funkelt mich herausfordernd an.
»Willst du nicht den da um Hilfe bitten?«, frage ich.
»So funktioniert das nicht.«
Ich schaue zu Hanna und probiere, ihre ruhigen Atemzüge zu imitieren, aber mein Puls rast.
»Wie funktioniert es dann? Hm? Erklär‘s mir doch mal.«
»Das würdest du nicht verstehen, nicht jetzt. Wenn du dich beruhigt hast ...«
Es platzt einfach aus mir heraus. Ich stehe neben mir, schaue mich von außen an. Die Worte, die aus meinem Mund kommen, sind nicht meine eigenen.
»Du verstehst da was nicht. Der wird uns nicht retten. Niemand wird uns retten. Ich hab echt genug von diesem ganzen heile Welt Schwachsinn. Wollen wir morgen vielleicht ein paar Plätzchen backen? Für ein Picknick im Park? Theo, wir werden erfrieren. Du, Hanna, ich. Alle. Es wird nichts übrig bleiben, außer Eis. Das alles hier, das ist künstliche Beatmung. Wir schieben uns Tomaten in den Rachen wie Magensonden, aber es bringt nichts. Wir sind schon längst tot.«
Hanna drückt sich so schnell aus dem Stuhl, dass er polternd umfällt. Ich sehe das nahende Gewitter in ihren Augen. Ihre Hand bebt, als sie auf mich zeigt.
»Ich was?«, frage ich.
Tot, gebärdet sie.
Wir schauen uns an, nur für einen Moment, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Dann, ein Glitzern in der Luft. Ein dicker Tropfen zerplatzt auf dem Tisch. Hanna schaut hoch. Ihre Mundwinkel zucken im gleißenden Licht eines Blitzes und sie schließt die Augen. Krachender Donner dröhnt über das Wasser, bevor sich der Regen über uns ergießt.

*​

Klimamodelle versagen, Wissenschaftler ratlos. Als es in den Medien rauf und runter lief, lachten wir, spülten die schlechten Nachrichten am Stammtisch mit kühlem Bier herunter.
»Panikmache. Das Zwei Grad Ziel kriegen wir schon hin.«
»Der Kohleausstieg kommt ja auch irgendwann.«
»Plastikstrohhalme haben die jetzt auch verboten, ist doch gut.«
Anerkennendes Nicken in der Runde.
Als wir knietief in unserer eigenen Scheiße standen, weil das Wasser die Kanalisation unterspült hatte und der bestialische Gestank nicht mehr auszuhalten war, lachten wir nicht mehr. Die Meere hatten die Straßen erobert und wichen nicht zurück. Der Pegel stieg und niemand wusste, warum.
Die letzte Nachrichtensendung, bevor das Stromnetz zusammenbrach. Der Moderator schluckte. Das Papier flatterte in seinen zitternden Händen. Eine neue Eiszeit. Zehn, zwanzig Jahre noch.
Ich hatte vorgesorgt. Harrte aus, bis das Wasser zum ersten Stock reichte, bevor ich das Schlauchboot durchs Fenster schob. Und da war sie, am Fenster gegenüber. Stand einfach nur still da, als würde sie auf den Bus warten. Ich paddelte rüber, half ihr ins Boot. Sie streckte zögernd ihre Hand aus und sagte: »Hanna.«

*​

Die Stauden nicken lustlos unter dem trüben Morgenhimmel, während Hannas Hände in der nassen Erde wühlen. Die Tomaten waren reif, die Möhren müssten wir neu säen. Sie greift zur Gartenschere, schneidet an der Pflanze herum und rollt die rote Frucht zufrieden in ihrer offenen Handfläche.
»Ich bin ein Idiot«, sage ich ihr in den Rücken. »Ist ja kein großes Geheimnis. Kennst mich lange genug. Aber gestern … Gestern habe ich mir eine Nominierung für den Idiotenoscar verdient.«
Sie stemmt sich langsam nickend aus der Hocke, schaut mich ausdruckslos an und legt ihre Hände um mein Gesicht. Streicht mit den Daumen feuchte Erde unter meine Augen, dann entlang meiner Wangen. Steckt mir eine Taubenfeder ins Haar. Ihre Hände formen Worte in der Luft. Der Häuptling der Idioten. Sie strahlt mich an mit ihrem Sonnenlächeln und haut sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Du hast es versprochen. Sie zeigt auf die Regentonne. Zeit für deinen Regentanz. Ich werfe meine Arme um sie, und die Tomaten und das Wasser und der ganze sterbende Planet sind wie aus meinem Kopf weggespült und ich sehe nur noch das Fenster auf der anderen Straßenseite und wie sie da steht und wartet.
»Danke, dass du gewartet hast«, flüstere ich. Sie drückt mich, bevor wir die Umarmung lösen. Hinter mir höre ich jemanden die Treppe hochkommen.
»Theo ...«, sage ich, bevor er lächelnd abwinkt.
»Ist alles gut.«
Er klopft mir auf die Schulter, setzt sich an den Tisch und schlägt die erste Seite von Don Quijote auf. Dann hören wir das dunkle Brummen der Bootsmotoren in der Ferne. Er klappt das Buch mit einem lauten Knall zu.

Schweres Stiefelstampfen hallt durch das Treppenhaus. Gewehrläufe spähen aus der Dunkelheit des Dacheingangs, bevor sich ein halbes Dutzend Soldaten vor uns aufreihen. Flecktarnuniform, schwarz-rot-goldene Flaggen an den Ärmeln. Die Flaggen der Bundesrepublik von gar nichts.
Hanna und ich liegen auf den Bäuchen, unsere Handflächen kleben am Boden. Sie zittert am ganzen Körper. Ich lege meine Hand auf ihre und hoffe, dass die Waffen unten bleiben. Theo ist stehen geblieben und fixiert die Soldaten mit ruhigem Blick.
»Flossen auf den Boden!«, schreit einer von ihnen, aber Theo bewegt sich nicht von der Stelle.
Der Soldat grinst, geht einen Schritt auf ihn zu und rammt ihm den Kolben hart in den Bauch, worauf Theo zusammensackt und sich still auf dem Boden krümmt. Hanna zuckt auf, als hätte die Waffe sie getroffen, der Schock fährt von ihrer Hand in meine.
Ein schmächtiger Mann in übergroßem, grauem Anzug betritt das Dach, läuft teilnahmslos an uns vorbei und mustert die Tomatenstauden, die sich im Wind biegen, als würden sie flüchten wollen. Er dreht sich zu uns, faltet einen Zettel auf und räuspert sich.
»Dann wollen wir mal. Nach Notfallermächtigungsgesetz Paragraph ...«
Er pausiert. Sein Blick huscht kurz über unsere Gesichter, dann steckt er den Zettel in seine Hosentasche.
»Sie kennen das alles sicherlich schon von meinen Kollegen, also kürze ich es mal ab. Sie erweisen der Bundesrepublik einen Dienst. Darum geht es doch hier. Und ich weiß, ich weiß, es sind harte Zeiten. Man muss den Gürtel enger schnallen. Jede Tomate zweimal umdrehen, sozusagen. Aber was gut ist für‘s Vaterland, ist am Ende auch gut für den Bürger. Und dazu gehört natürlich auch, dass jeder brav seine Steuern zahlt.«
Er klatscht in die Hände. »So, das war das.« Dann nickt er zu den Beeten. »Lasst eine stehen. Wollen ja nicht, dass jemand verhungert.«
Ein Soldat stampft zu den Tomatenstauden, reißt sie samt Wurzel aus der Erde und steckt sie in einen Jutesack. Tränen quellen aus Hannas geschlossenen Augen und ich kann nichts tun, außer ihre Hand etwas fester zu drücken und zu hoffen, dass das irgendwie ausreicht. Der Mann wedelt mit einem Papier. »Dankend erhalten. Unterschrift bitte.«
Als das Motorbrummen weiter in Richtung Innenstadt zieht, helfen wir Theo damit, sich aufzurappeln. Er humpelt gebückt an den Tisch und lässt sich in den Stuhl fallen.
»Alles okay?«, frage ich. Er nickt müde. Hanna schlurft zum Tomatenbeet, legt eine Hand über ihren Mund und betrachtet die umgewühlte Erde in Schockstarre, als wäre dort ein Mord passiert. Ich sage nichts mehr. Es gibt nichts zu diskutieren, nichts zu erklären. Die Realität ist so trist wie simpel. Die haben die Waffen und das Benzin und wir haben nichts.

Wir treiben ziellos durch die mondlichtgetränkten Häuserschluchten. Die Sterne vibrieren im Kielwasser des Bootes wie ertrinkende Glühwürmchen.
Wir müssen weg, gebärdet Hanna und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
»Wohin?«
Weg.
Ich nehme einen Schluck aus der Whiskyflasche und gebe sie weiter. Danke, Theo.
»Wir könnten weiter nach Süden. Halten uns von den Städten fern. Theo hat gesagt, ist schlimmer als bei uns dort. Millionen von Menschen zusammengepfercht wie die Tiere, nur für das letzte Stückchen Erde unter den Füßen. Aber vielleicht finden wir etwas Ruhiges in den Bergen. Eine kleine Holzhütte irgendwo im Wald.«
Sie lächelt und schaut verträumt in die Nacht, als wäre sie in ihren Gedanken dort. Dann klopft sie auf meinem Arm herum. Hellgelbe Lichtkugeln schweben in der Ferne über dem Wasser. Hanna greift sich die Paddel und setzt das Boot in Bewegung.
Als wir näher kommen, nehmen die Silhouetten Form an. Eine Flotte von zwanzig, dreißig Ruderbooten durchschneidet mit am Bug hängenden Laternen die Dunkelheit. Sie biegen vor dem alten Fußballstadion ein, das auf einer Anhöhe aus dem Wasser ragt.
»Ist vielleicht so ein Kult«, sage ich. »Beten den Mond an oder so. Keine Ahnung, was die beim Stadion wollen, ist alles abgesperrt.«
Unser Boot läuft auf dem Parkplatz auf Grund. Wir schleichen im Schutz der Dunkelheit den Unbekannten hinterher, die mit den kugelförmigen Laternen in den Händen im Stadion verschwinden.
»Das ist ja offen!«, sage ich. Hanna guckt so verwirrt wie ich.
Wir laufen leise durch die leeren Hallen, nehmen die Treppe hoch zu den äußersten Tribünenplätzen und setzen uns, die Augen erwartungsvoll auf das dunkle Spielfeld gerichtet, als würden wir auf den Anpfiff warten.
»Die Saison läuft nicht gut für uns«, kommentiere ich. »Kommt ja auch niemand mehr zum Training.« Hanna grinst und haut mir auf‘s Bein. Der Mond malt eine fahle, geisterhafte Lichtschicht auf den Rasen.
Gras! Ist das echt?, fragt sie. Ich zucke mit den Schultern. »Kunstrasen vielleicht?«
Im Licht der Kugeln können wir die Unbekannten sehen, als sie in einer Reihe in das Stadion einlaufen. Die Herren tragen schwarze Sakkos über weißen Hemden, Krawatten, Fliegen. Die Art déco Kleider der Damen schimmern farbenfroh im Kerzenschein. Sie legen die Laternen in die Mitte der Tische, die im Stadion angeordnet sind wie die weißen Felder eines Schachbretts, und setzen sich. Mehr Menschen schälen sich aus der Dunkelheit und verteilen Schüsseln mit bunten Salatbouquets auf den Tischen. Silbernes Besteck funkelt durch die Luft, Metall schabt auf Glas, gieriges Schmatzen und angeregte Gesprächsfetzen wehen bis zu uns hoch. Hanna greift sich den Whisky aus meiner Hand, ohne ihren Blick abzuwenden, und trinkt einen großen Schluck.
»Das gibt‘s doch nicht«, sage ich.
Sie schaut mich an und gebärdet: Komm mit.
Wir laufen die Treppe hinunter bis aufs Spielfeld. Die Köpfe drehen sich zu uns. Verwirrtes Raunen, dann wird es still. Übersetze bitte.
»Nichts lieber als das«, sage ich und beobachte ihre Hände, während wir durch die Tischreihen schlendern. Hanna lässt ihren angewiderten Blick über das Gemüse und die verdutzten Gesichter schweifen.
»Wisst ihr, was ihr da esst? Wisst ihr, woher es kommt? Das kommt von unserem Schweiß. Unserem Blut. Von mir und den anderen Menschen dieser Stadt. Ihr seid keine Menschen. Ihr seid nicht mal Ungeziefer. Selbst Ungeziefer lebt in einem Kreislauf. Ihr seid Kannibalen. Was ihr da esst, sind Menschenleben.«
Niemand sagt etwas. Ihre verwirrten Blicke ruhen auf uns, als hätten sie gerade eine Sprache gehört, die sie nicht verstehen. Wir machen kehrt und laufen zum Ausgang, bevor Hanna vor einem der Tische stoppt. Sie greift unter die Platte und wirft ihn in einem kleinen Bogen um. Das Paar springt aus ihren Stühlen. Gemüse wirbelt durch die Luft. Die Laterne fällt zu Boden und fängt Feuer. Ein heller Schrei schallt aus den hinteren Reihen.
Wir laufen aus dem Stadion, ohne uns umzudrehen. Hannas Augen tränen, aber das angedeutete Lächeln auf ihrem Mund wirkt siegessicher, als hätten wir dieses eine Mal unseren Tabellenplatz verteidigt.

Es fällt mir erst auf, als Hanna sich in der Wohnung umzieht. Vielleicht wollte ich es nie wirklich sehen. Ihren eingefallenen Bauch. Die Rippen, die wie ein kleines Gebirge aus ihrem Körper ragen. Sie stülpt sich das weiße Nachthemd über und sieht aus wie ein Geist. Ich schaue auf meine knochigen Hände, bin selbst nur noch ein Skelett, das sich etwas Haut übergezogen hat.
Hanna legt sich neben mich auf das Ausziehsofa und verschwindet bis zum Kinn unter der Decke. Dann befreit sie ihre Hände und bildet jedes Wort so langsam und zärtlich, als wäre es aus zerbrechlichem Glas. Liebst du mich?
Eisblumen kriechen an ihrem Hals hoch, wuchern über die Wangen bis zur Stirn und saugen die Farbe aus ihrem Gesicht. Das Leuchten verlässt ihre Augen, sie starren leer durch mich hindurch. Schneeflocken wehen durch die Wohnung und bedecken ihren Körper, bis sie unter einer dicken, weißen Schicht begraben ist. Die Wände sind verschwunden, unter dem Sofa gibt es nur noch das endlose Eis. Ich blinzle. Ihre Augen leuchten, blicken mich geduldig an. Warten. Ich sage nichts, nehme sie einfach nur in den Arm. Bohnen, Reis, irgendetwas mit mehr Kalorien, denke ich. Wir brauchen irgendetwas.

*​

Nachdem die Sturmfluten über die Stadt hinweggefegt waren, machten wir uns auf den Weg nach Norden. Das Ruderboot wippte im tosenden Wellengang. Der Proviant wurde knapp, aber ich musste sicher sein. Ich legte die Paddel ins Boot, stand auf und sah nichts als schwarzes Wasser um uns herum.
»Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagte ich. »Könnte Greifswald sein. Stralsund. Rostock. Das kann doch nicht sein. Hier muss es doch noch irgendwas geben. Die können nicht einfach ...«
Hanna schaute mich sorgenvoll an, als meine Stimme brach.
»Vielleicht konnten sie noch rechtzeitig fliehen«, sagte sie leise. Ihr Blick fiel auf die Flasche mit dem letzten Trinkwasser.
»Vielleicht suchen sie dich. Ich glaube, wir sollten langsam wieder zurück.«
Ich starrte zum Horizont und warf leere Kanister in das Wasser, einen nach dem anderen, als könnte ich so das Meer besiegen. Als würde es nachgeben und die Toten wieder lebendig ausspeien. Hanna drückte ihren Kopf an meine Brust, schloss ihre Arme um mich, strich mit den Handflächen sanft über meinen Rücken. Weinte mit mir. Selbst, als die Abendsonne durch die graue Wolkensuppe blinzelte und langsam hinter dem Horizont versank, ließ sie mich nicht los. Und der dunkle Strudel, um den meine Gedanken kreisten, gab sie frei. Ich dachte daran, wie es sein würde, wenn ich einen Tag zu früh oder zu spät ins Schlauchboot gestiegen und das Fenster gegenüber leer gewesen wäre. Wie ich unter der Oberfläche nach einer Stadt suchen würde, die es nicht mehr gab, bis das Wasser die letzte Luft aus meinen Lungen drückt und die schwere Gleichgültigkeit in meinem Kopf mich nicht mehr auftauchen lässt. Aber hier war es anders. Hier dachte ich: Die richtige Umarmung vom richtigen Menschen zur richtigen Zeit. Die mächtigste Waffe der Welt.

*​

Mit einem lauten Platsch landet das Kind im Wasser. Kreischend wirft sich das nächste in die Rutsche und schlittert auf dem Bauch vom Dach, bevor es kopfüber ins kalte Nass eintaucht.
»Das ist also Theos geheimer Zweitjob. Macht er echt gut«, sage ich, während wir am Rand sitzen und den Kindern zuschauen.
Ein Gehalt in Kinderlachen, gebärdet Hanna und lächelt den beiden Knirpsen zu, die uns vom Wasser aus zuwinken. Es gibt nichts Schöneres.
»Erinnert mich an meine eigene Kindheit, wo meine größte Sorge war, ob ich das Lego-Set zu Weihnachten bekomme, das ich mir gewünscht hatte«, sage ich und stehe auf. »Ich werde ihn mal fragen, ob er irgendwo noch einen Millennium Falcon rumzuliegen hat.«

»Ihr werdet die Stadt verlassen?«, fragt Theo, ohne mich anzusehen, malt mit einem Bleistift Schnurrhaare auf einen Pappteller, schneidet Augenlöcher aus und befestigt ein Gummiband an den Seiten. Die Augen des Mädchens glänzen, als er ihr die Maske aufsetzt.
»Ich bin ein Tiger!«, verkündet sie stolz.
»Nun geh‘ mit den anderen Tieren spielen«, sagt er und das Mädchen rennt davon.
»Ja«, sage ich. »Du kannst mitkommen, wenn du willst.«
Er schüttelt den Kopf.
»Schau dich um. Ich werde hier gebraucht. Hier kann ich noch etwas Gutes tun.«
»Ja. Das tust du. Hätten wir dich nicht getroffen ... Ich wollte nur nochmal Danke sagen.«
Ich dachte damals, du wärst ein hoffnungsloser Fall, gebärdet er.
»Geduld triumphiert über Blödheit«, sage ich und lache auf.
Etwas wehmütiges liegt in seinem Blick, als er zu Hanna schaut, die lächelnd auf uns zu läuft.
»Pass gut auf sie auf.«
Und ich denke, das mit dem Aufpassen funktioniert bei uns andersherum, aber sage es nicht. Hanna greift meinen Arm und zieht mich hinter ihr her, bis wir vor der Rutsche zum Stehen kommen.
»Nein«, sage ich. Hanna nickt eindringlich und schält sich aus ihrem Kleid.
»Kannst du gerne machen, ich hab keine Lust.«
Sie tippt mit dem Zeigefinger auf meine Nase und grinst und nickt und nickt.

Für einen Moment fühle ich mich schwerelos. Der warme Wind streichelt über meine Haut und ich erinnere mich. An die heißen Sommer am See, die Tarzanschaukel am Ast, das Kribbeln kurz vor dem Loslassen und an das Lachen vom Ufer. Das viele Lachen.
Als ich auftauche, schiebt Hanna ihre nassen Haare zur Seite und schaut mich erwartungsvoll an. Ich nicke.

*​

Meine Wange klebte am Boden in roter Pampe. Ich versuchte zu schreien, aber spuckte nur Blut auf die weißen Kacheln. Es rann aus meinem Mund und vermischte sich mit Tomatensauce, die aus einer Dose Ravioli tropfte. Am Ende des Ganges schob ein unscharfer Schatten den Plastikvorhang zum Lagerbereich beiseite.
»Die ist hier rein gelaufen«, rief der Schatten.
»Komm raus, Süße, die Kavallerie ist da«, rief jemand über mir. Die Stiefelpaare um mich herum setzten sich in Bewegung. Ich war müde. Meine Arme und Beine waren schwer. Ich befahl ihnen, sich vom Boden zu lösen. Aufzustehen. Irgendetwas zu tun. Aber es war, als würde ich mit jeder Anstrengung nur tiefer in den Boden sinken. Die Welt verlor ihre Farbe, als Hannas panischer Schrei durch den Supermarkt hallte. Dann wurde es still. Meine Augen fielen zu.

Hanna nahm mich nicht wahr, als ich den Stuhl zwischen Sofa und Fenster schob und mich setzte. Ich schaute in leere Augen, die durch mich hindurch starrten, zum Fenster hinter meinem Kopf. Raus in eine bessere Welt, vielleicht, die es da draußen irgendwo geben müsste. Eine Welt, in der einige Dinge nicht passieren könnten. Ich beugte mich zu ihr vor, streckte meine Hand über ihrer aus und ließ sie dort schweben.
»Darf ich? Ich möchte dir etwas zeigen.«
Ihre Hand zuckte, als ich sie öffnete und kleine Samen in ihre Handfläche ausstreute.
»Tomatensamen. Wir bauen uns einen Garten auf dem Dach. Erde habe ich auch besorgt.«
Sie blinzelte, ein Blick wie ein Wiedererkennen, bevor sie ihn langsam senkte und die kleinen Körner in ihrer Hand musterte.

Auf dem Dach wippten die Pflänzchen aufgeregt im Wind. Hannas Finger strichen über die Blätter, tätschelten die grünen Früchte liebevoll.
»Und, wie geht‘s den Kleinen?«, fragte ich.
Sie drehte sich zu mir und lächelte.

*​

»Sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, rufe ich aus dem Boot hoch zu Theo, der sich über das Dach beugt.
»Schickt mir mal eine Postkarte«, ruft er zurück.
Ich werfe einen Blick auf die Ladung: Gemüse, Reis, Wasserkanister und Samen für einen neuen Garten, der Gegenwert unserer letzten Habseligkeiten, die wir auf dem Markt eingetauscht hatten. Bevor wir ablegen, winken Hanna und ich Theo ein letztes Mal zu.

Die ertrinkenden Gebäude verschwinden hinter uns, bis es um uns herum nichts gibt, außer endloses Meer. Hannas Kopf ruht auf ihrem Arm, der andere schneidet durch das Wasser und spritzt ihr Tropfen ins Gesicht. Ich schaue sie an und versuche, es zu begreifen. Wie sie nach all der Zeit, nach allem, was passiert ist, einfach so da liegen kann wie eine Katze, die sich zufrieden auf der Fensterbank sonnt. Mit jedem Blick hoffe ich, dass etwas von ihr auf mich abfärbt. Ein paar Kleckse Hannafarbe auf meinen Händen, mit denen ich ihr Geheimnis malen kann, damit auch ich es verstehe.
Wir folgen dem Kompass nach Süden, gleiten über Städte, die nur noch als solche erkennbar sind, weil ein Kirchturm aus dem Wasser ragt. Ein paar Tage hätte es dauern sollen, bis wir Berge sehen, Wälder, irgendetwas, aber jeden Tag bleiben wir im Meer gefangen, als würde es uns nicht gehen lassen wollen.

Dichte Nebelschwaden umhüllen uns. Das gleiche Grau in allen Himmelsrichtungen, das nur vom tiefschwarzen Meer durchbrochen wird. Wir haben die Wälder erreicht, aber sie sind nicht grün, sondern tot. Baumstämme treiben an uns vorbei, ihre Wurzeln stechen aus dem Wasser wie gierige Klauen und schaben am Boot. Wir sitzen mit dem Rücken zum Bug und ich schüttle einen Kanister, in dem die letzten Wassertropfen umhertanzen. Hanna dreht den Kopf zu mir. Ihre müden Augen sind nur halb geöffnet, die spröden Lippen formen ein mühevolles Lächeln. Ich muss an Theo und sein blödes Buch denken.
»Kein schönes Ende«, sage ich und nehme ihre Hand. »Aber die Reise war es wert.«
Etwas knirscht unter dem Rumpf und bremst das Boot, bevor wir zum Stehen kommen.

*​

Gitarrensaiten vibrieren, wehen einsame Töne in die Nacht, die sich mit Schneeflocken und Funken vermischen. Holzscheite knacken in der Glut des Lagerfeuers. Die junge Frau webt die Noten zu einem melancholischen Klangteppich. Im Leerraum zwischen den Tönen schwingt etwas anderes mit. Etwas sehnsüchtiges, hoffnungsvolles. Dann fängt sie an zu singen.

Send
your
dreams
Where nobody hides

Hanna wendet den Blick von der Sängerin ab und starrt in die Flammen.

Give
your
tears
To the tide

No time
No time


Das warme Licht flackert auf ihrem Gesicht, beleuchtet ihre rauen, roten Wangen und lässt eine silberne Haarsträhne schimmern. Sie saugt Luft durch geweitete Nasenflügel. Ihr Kinn beginnt zu zittern. Ihre Lippen drücken sich zusammen.

There's
no
end
There is no goodbye

Dis-
ap-
pear
With the night


Die Tränen überrollen die Schneeflocken, die an ihrem Gesicht kleben. Sie tragen sie über ihre Wangen und fallen auf das Eis. Als Hanna ausatmet, kondensiert ihr Atem und löst sich vor ihren Augen auf.

No time
No time

»Alles in Ordnung?«, frage ich.
Hanna wischt mit dem Jackenärmel über ihre Augen und nickt. Wir winken der Gitarristin zu und machen uns auf den Rückweg.

Am Nachthimmel zeichnen sich auf einem Hügel die Silhouetten kahler Bäume ab. Eine kleine Insel im ewigen Nichts. Ich lasse mich zurückfallen und denke an die salzige Luft in der Stadt damals. An die Tomaten. Hanna am Fenster.
Es geht bergauf und aus glattem Eis wird knirschender Schnee. Die Erde unter den Füßen tut gut.
In der Dunkelheit des toten Waldes knarzt eine Tür. Hanna leuchtet im warmen Schein des Kamins. Sie winkt mich zu ihr, ruft:
»Jan, du alte Trantüte, komm schon!«
Meine Hände malen im Wind, verbinden Schneeflocken zu einer Sternenkonstellation.
Ich liebe dich.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Rob F,

ganz ehrlich: Es würde mich nicht wundern, deine Geschichte in einem gedruckten Kurzgeschichtenband in einer Buchhandlung zu finden!
Wenn man so lange an einem Text schreibt und sich durch die einsetzende Betriebsblindheit gar nicht mehr sicher ist, ob man da nur Schrott produziert, dann ist so ein großes Lob im ersten Kommentar das Schönste, was man lesen kann. Vielen Dank dafür!

Von Anfang an interessant durch die von dir erdachte (Überschwemmungs-) Situation, bei der ich wissen möchte, wie das Leben in dieser Welt stattfindet. Und ein sympathisches Trio mit Hanna, Jan und Theo, das versucht, zu überleben. Daher freut es mich auch, dass es eine längere Geschichte ist!
Schön, dass dir die Figuren gefallen haben und dir auch die Länge nichts ausmachte. Bei den Figuren hatte (und habe) ich Zweifel, ob sie so funktionieren. Gerade Hanna redet ja nicht viel und wird hauptsächlich durch ihre Handlungen charakterisiert. Da hatte ich einige Bedenken, ob sie trotzdem als glaubhafte Person rüberkommt. Wunderbar, dass die Figurenkonstellation für dich funktioniert hat.

Es ist auf jeden Fall Kritik auf einem hohen Niveau, aber da ich durch andere Endzeitgeschichten schon ein wenig in diesem Genre unterwegs war, sind einige Inhalte für mich erwartete Themen:
Die Knappheit der Lebensmittel und der entsprechende Handel, eine Verletzung und Infektion, eine selbst durchgeführte Amputation, die Suche nach Medikamenten, der Protagonist muss jemand anderen umbringen um sein Leben zu retten, die Suche nach einem besseren Ort ...
Das ist für mich eine sehr wichtige Kritik, dieser Punkt wird mir erst jetzt klar. In meinen anderen Geschichten wurde häufig kritisiert, dass ich mich zu sehr in sicheren, bekannten Bereichen bewege. Da wollte ich in dieser Geschichte mal etwas ausbrechen, bin dann aber doch (für das Endzeit-Genre) wieder im Bekannten gelandet. Da hast du recht. Die Geschichte macht das sicherlich nicht kaputt, aber ich werde mir das für die nächsten nochmal hinter die Ohren schreiben ;)

Ich glaube, was mir konkret noch fehlt, ist neben dem harten Leben in dieser Welt noch eine zusätzliche spannende Handlung, die hier spielt. Also z.B.: Hanna wird entführt, und Jan und Theo versuchen sie zu retten. War nur ein spontanes Beispiel, gibt bestimmt besser Ideen ...
Yep, das ist der Punkt oben. Weitere, spannendere Handlungsstränge werde ich in dieser Geschichte wohl nicht mehr unterbringen können, sie ist bereits lang genug, aber ich merke mir das für die Zukunft.

Unter der Wasseroberfläche wabern Reihen von Autos mit aufgeschlagenen Türen vor sich her, als würden sie nur kurz auf ihre Besitzer warten. Als würde da unten jeden Moment eine Familie mit Taucherglocken auf den Köpfen aus einer Bäckerei schweben, mit schwerelosen Schritten zum Auto hoppeln und einfach weiterfahren. Als wäre nichts gewesen.
Ein bißchen zu viel "Als würde/wäre" ...
Das habe ich absichtlich so geschrieben, solche Dreifacherwähnungen (weiß gar nicht, ob es dafür einen Fachbegriff gibt) klingen in meinen Ohren ganz schön, aber ich behalte das mal im Auge und werde es, wenn da noch mehr Kritik kommt, ändern.

Ich lasse meinen Blick über die Dächer schweifen. Menschen spielen Volleyball. Lesen in Klapphockern. Grillen Gemüsespieße über brennenden Tonnen.
Es ist ein schönes Bild in dieser schwierigen Welt, aber ich finde, es klingt ein wenig zu entspannt. So ein bißchen wie ein lockerer Urlaub ...
Das war mein Ziel. Wie auch bei den Figuren gibt es in der Welt das Spannungsverhältnis zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Einige Menschen wie Hanna werden probieren, soweit es möglich ist normal weiterzuleben und das beste aus ihrer Zeit zu machen. Andere wie Jan werden sich eher der Verzweiflung hingeben. Der hatte ja nun zum Glück Hanna dabei, ich glaube ohne sie wäre er einer der leblosen Körper geworden, die mit dem Kopf im Wasser aus dem Fenster hängt, den ich auch in den nächsten Sätzen dort erwähne, um klarzumachen, dass nicht jeder so happy ist, wie die Menschen dort auf den Dächern. Aber vielleicht sollte ich da noch mehr Verzweiflung reinschreiben, da könntest du recht haben. Da warte ich mal auf Folgekommentare und füge gegebenenfalls noch mehr Textstellen in der Richtung hinzu.

Die erdrückende Trostlosigkeit ist fast greifbar, sie schwebt in der Luft, unsichtbar und giftig wie Feinstaubpartikel.
Ich würde hier ein anderes Wort wählen als "Feinstaubpartikel". Ich finde das Wort passt nicht (mehr) in diese Welt.
Das hatte ich auch im Hinterkopf, danke, dass du das bestätigst. Früher stand da noch "wie die Feinstaubpartikel damals", aber das wirkt auch zu holzhammermäßig. Das werde ich nochmal umschreiben.

Klimamodelle versagen, Wissenschaftler ratlos. (...)
Diesen Einschub finde ich sehr gut, ich kann mir gut vorstellen, dass die Bevölkerung genauso reagiert. Erst die lockeren "ach, ist doch nichts!"-Sprüche am Stammtisch, und dann vergeht ihnen irgendwann das Lachen ...
Schön. Das Schlimme ist ja, dass einige Menschen (was aktuelle Themen wie Klimaschutz und Coronavirus angeht) genau so reagieren! Das wollte ich da auch zeigen. Stilistisch hatte ich bei der ganzen Rückblende die Sorge, sie könnte zu tell-ig wirken, und, dass ich da zu schnell "durchrase". Beruhigend zu lesen, dass die Stelle für dich funktioniert.

»Wisst ihr, was ihr da esst? Wisst ihr, woher es kommt? Das kommt von unserem Schweiß. Unserem Blut. Von mir und den anderen Menschen dieser Stadt. Ihr seid keine Menschen. Ihr seid nicht mal Ungeziefer.
Die Szene in dem Stadion finde ich deine beste Idee in deiner Geschichte! Genauso so etwas in der Art würde auf jeden Fall stattfinden!
Ich glaube das ist auch meine Lieblingsstelle in der Geschichte. Freut mich zu lesen, dass du sie auch magst. Das sollte ein prägnanter Charaktermoment für die sonst eher stille Hanna sein, wo sie sich auch mal stark und selbstbewusst gibt. Nicht, dass sie das nicht sonst auch ist, aber hier zeigt sie es ganz offen.

»Hör auf!«, schreie ich vom Boden aus und sehe, wie er die Stange über seinen Kopf hebt. Ich hole mit der Axt aus und höre ein dumpfes Knacken, als sich sie sich in seine Brust bohrt. Ich löse den Griff. Die Brechstange fällt klirrend zu Boden.
Da bin ich vielleicht zu genau ... aber wenn sie erst mit der Axt ausholt, als der Mann die Stange schon über seinen Kopf hebt, wird es ihr glaube ich nicht mehr gelingen, noch so weit auszuholen um ihn damit schwer zu verletzen.
Das ist ein guter Punkt, das werde ich etwas umschreiben.

Gitarrensaiten vibrieren, wehen einsame Töne in die Nacht, die sich mit Schneeflocken und Funken vermischen. Holzscheite knacken in der Glut des Lagerfeuers.
Ein schönes und versönhliches Ende der Geschichte. Auch durch das Lied am Lagerfeuer. Ich hätte gerne noch erfahren, wie es Theo geht, aber dann muss ich es mir selber ausdenken :-)
Hier mache ich mir etwas Sorgen, wenn das Ende auf dich zu schön, also zu positiv, wirkte :D
Da sollte schon auch viel Melancholie und Trauer mitschwingen. Sie leben ja am Ende in einer toten Welt, viel Nahrung wird es nicht mehr geben und ich denke, sie werden bald sterben. Aber wie den Rest werden sie es zusammen tun, und das ist das wichtige. Wie auch im Rest des Textes war mir hier das Spannungsverhältnis zwischen Hoffnung und Verzweiflung wichtig. Das behalte ich mal im Auge und werde da gegebenenfalls etwas mehr Trauer reinschreiben.

Ich hoffe, du kannst mit meinem Feedback etwas anfangen, vielen Dank auf jeden Fall für die interessante Geschichte! Da hast du dir viel Arbeit gemacht!
Absolut, das waren sehr hilfreiche Anmerkungen, danke dafür!

Viele Grüße,
Catington

 

In der Windstille liegt das Wasser auf der Stadt wie ein straff gespanntes Leichentuch. Meine Paddelstiche schieben Wellen über die Reflexion des wolkenlosen Himmels. Die leeren Fenster der Dachgeschosswohnungen starren uns auf Augenhöhe an wie Ertrinkende, die ihren letzten Atemzug hauchen. Hanna steht auf Zehenspitzen im Boot, hält ihre Hand als Sonnenschutz an die Stirn und späht über die Dächer in der Ferne.
Unter der Wasseroberfläche wabern Reihen von Autos mit aufgeschlagenen Türen vor sich her, als würden sie nur kurz auf ihre Besitzer warten. Als würde da unten jeden Moment eine Familie mit Taucherglocken auf den Köpfen aus einer Bäckerei schweben, mit schwerelosen Schritten zum Auto hoppeln und einfach weiterfahren. Als wäre nichts gewesen.
Ein metallener Pferdekopf reckt sich aus dem Wasser.

Das sind im ersten Absatz gleich stilistische Mängel drin.

Kann etwas in der Windstille liegen? Windstill liegt das Wasser über der Stadt. Warum diese verquaste Metapher mit dem Tuch? Das ist gespreizt. Schieben Paddelstiche Wellen über die Reflexion des wolkenlosen Himmels? Meine Güte, was ist denn das auch für ein Satz? Die Paddelstiche tauchen doch ins Wasser ein, verdrängen es, und verdrängen so die Reflexion des Himmels auf der Wasseroberfläche. Wie hauchen den Ertrinkende ihren letzten Atemhauch aus? Das muss der Erzähler ja wissen, er benutzt dieses Bild ja prominent. Ob leere Fenster starren können, wäre auch noch zu klären. Autos wabern. Wabern ist ein unruhiges, zielloses Bewegen. Unter Wasser bewegt sich ein tonnenschweres Gerät nicht unruhig, das bewegt sich ohne Tsunamiwelle wahrscheinlich gar nicht, da es schon längst auf dem Grund liegt.

Die gesamte Situation wird mir dann so absurd erklärt: Als würde da unten jeden Moment eine Familie mit Taucherglocken auf den Köpfen aus einer Bäckerei schweben, mit schwerelosen Schritten zum Auto hoppeln und einfach weiterfahren. Als wäre nichts gewesen.

Das ist ein Verrat am ganzen Setting. Dieses Überschwemmungsszenario dann auch noch zu erklären, da sprichst du dem Leser doch die Mündigkeit ab, glaubst nicht an seine Fähigkeit zum Transfer, und du vertraust doch auch deinem eigenen Text kein bisschen, wenn man das Setting so gestelzt erklärt oder dies für nötig hälst.

Also, das is nix. Du versuchst im ersten Absatz wie ein anspruchsvoller Autor zu klingen, aber es ist unsicher, überladen, gestelzt. Ich bin dann ausgestiegen, sorry. Ich würde dir raten, den Stil mal zu entschlacken, auf die Richtigkeit und Notwendigkeit von sprachlichen Bildern bzw Metaphern zu achten, deine Sprache insgesamt zu präzisieren.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @jimmysalaryman,

danke für deine Kritik. Ich versinke zu häufig in den Bildern, halte sie für hübsch und merke gar nicht, dass sie krumm und gestelzt sind und zu konzentriert auftauchen. Ich werde den ganzen ersten Absatz mal etwas entschlacken. Komplett aufgeben möchte ich sie ja nicht, aber Kritiken wie deine helfen mir dabei, in die richtige Richtung zu denken.

Kann etwas in der Windstille liegen? Windstill liegt das Wasser über der Stadt. Warum diese verquaste Metapher mit dem Tuch?
"In" war hier zeitlich gemeint, nicht als Ortsangabe. "Während" passt vermutlich besser.
Das Leichentuch soll gleich im ersten Satz die Situation klarmachen, in der sich die Figuren befinden. Die Stadt ist im übertragenen Sinn, bis auf einige übriggebliebene Menschen, tot. Der Rest ist geflüchtet, starb bereits oder wird noch sterben.

Schieben Paddelstiche Wellen über die Reflexion des wolkenlosen Himmels? Meine Güte, was ist denn das auch für ein Satz? Die Paddelstiche tauchen doch ins Wasser ein, verdrängen es, und verdrängen so die Reflexion des Himmels auf der Wasseroberfläche.
Stimmt! Ich ändere das mal zu "Paddel", die sollten die Wellen schieben können. Edit: Ist vielleicht auch nicht ganz gerade. Ich überlege nochmal.

Autos wabern. Wabern ist ein unruhiges, zielloses Bewegen. Unter Wasser bewegt sich ein tonnenschweres Gerät nicht unruhig, das bewegt sich ohne Tsunamiwelle wahrscheinlich gar nicht, da es schon längst auf dem Grund liegt.
Aus der Perspektive des Prots, der vom Boot aus durch das Wasser auf die Autos schaut, wabern sie, denn das Wasser bricht durch leichte Bewegung das Licht. Für mich passt das also eigentlich.

Die gesamte Situation wird mir dann so absurd erklärt: Als würde da unten jeden Moment eine Familie mit Taucherglocken auf den Köpfen aus einer Bäckerei schweben, mit schwerelosen Schritten zum Auto hoppeln und einfach weiterfahren. Als wäre nichts gewesen.
Das bringt für mich etwas Leichtigkeit in den Text, ich möchte nicht, dass er bierernst rüberkommt. Ist vielleicht zu leicht und damit unpassend, oder generell zu dick aufgetragen? Da würde ich noch auf Folgekommentare warten.

Das ist ein Verrat am ganzen Setting. Dieses Überschwemmungsszenario dann auch noch zu erklären, da sprichst du dem Leser doch die Mündigkeit ab, glaubst nicht an seine Fähigkeit zum Transfer, und du vertraust doch auch deinem eigenen Text kein bisschen, wenn man das Setting so gestelzt erklärt oder dies für nötig hälst.
... aber zusammen mit den ganzen anderen Bildern ist das mit den Autos auf jeden Fall zu viel. Das Setting muss ich ja anfangs – und ich möchte das so früh wie möglich tun – irgendwie erklären, aber es mit dem Holzhammer in den Leserkopf schlagen, möchte ich auch nicht, da hast du recht.

Tut mir leid, dass dich schon der erste Absatz aus der Geschichte gerissen hat, so soll es natürlich nicht sein, da werde ich weiter dran arbeiten.

Viele Grüße,
Catington

 

Hallo nochmal,

dass das Ende für andere Deutungen offen ist, gefällt mir und war auch so gedacht. Nur zu positiv durfte es nicht wirken. Wie auch im Rest der Geschichte, war mir da die Balance wichtig. Hanna weint zum ersten Mal richtig und die Bäume sind alle tot. Das sollte schon in die Richtung führen, wo kriegen sie jetzt überhaupt Nahrung her. Aber, dass die beiden Hauptfiguren bis zum Ende überlebt haben und im Lied doch etwas hoffnungsvolles mitschwingt, das sollte eine Tür offen lassen, dass es mit der Menschheit weitergehen könnte. Wenn du und andere Leser eher in die eine oder andere Richtung interpretieren, finde ich das wunderbar.

und ich denke, sie werden bald sterben
Das war wohl eher nur meine Deutung des Endes. Ich weiß ja auch nicht, was da noch passiert. :D

Insgesamt nimmst du den Leser mit auf eine anschauliche und "bunte" Reise durch deine Welt
Im Prinzip geht es ja genau um diese bunte Reise. Wie Theo in der Geschichte sagt, ist das Ende eigentlich gar nicht so wichtig :)

Viele Grüße,
Catington

 

Hallo @Catington! :-)

Ein kurzes Kommentar zu Deiner Geschichte, ganz subjektiv, ein paar Eindrücke.

Ich glaube - du hast die Geschichte verkopft. Vielleicht trete ich dir zu nahe, vielleicht mag das nicht stimmen, aber die "Essenz" dessen, was deine Geschichte rund und geschliffen erscheinen lassen könnte, wird, denke ich, stark verfremdet. Die Verfremdung sehe ich vor allem in der künstlichen Dramaturgie, die die Geschichte meiner Meinung nach gar nicht bedarf. An einigen Stellen bemühst du dich, schön zu schreiben, gerade zu Beginn. Ich sehe in dieser Geschichte nicht Catington sondern eine Gruppe naiver Schreibseminaristen, die mit schwacher Faust auf den Tisch hauen und sagen: "So, jetzt machen wir eine richtig, richtig schöne Geschichte. So. So, und mit aktueller Aktualität. So. Und Spannungsbogen!"

Ich lasse meinen Blick über die Dächer schweifen. Menschen sitzen in Klapphockern und lesen. Grillen Gemüsespieße über brennenden Tonnen. Lassen ihre Beine vom Dach baumeln und starren Löcher in das Wasser. Je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen, desto menschenleerer wird es. Ein gedämpfter Schrei durchreißt die Stille, geht über in leises Winseln. Ein lebloser Körper hängt mit dem Kopf im Wasser aus einem Fenster.

Mir gefällt dein Setting total. Wirklich, eine nasse und fischige Welt, mit jedem Schritt auf dem Marktplatz durchsiffen die Plastiksohlen der Turnschuhe. Plitsch. Platsch. Aber in deinem Setting lese ich die Tendenz, das Leben in der überfluteten Stadt stimmungsvoll einfangen zu wollen. Wie ist das eigentlich so? Das Leben?

Ich denke, dass eine Begründung, eine Antwort auf das "Warum?" gar nicht notwendig ist. Ehrlich gesagt, mir ist es ziemlich egal, ob der Klimawandel, ob ein Hurricane oder eine Laune des Weltmeerspiegels die Stadt überfluten ließ. Das Setting gefiel mir so gut, dass ich dem Plot deiner Geschichte, das Drama, gar nicht mehr folgte.

Wir treiben ziellos durch die mondlichtgetränkten Häuserschluchten. Die Sterne vibrieren im Kielwasser des Bootes wie ertrinkende Glühwürmchen.
Wir müssen weg, gebärdet Hanna und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
»Wohin?«
Weg.

Solche Formulierungen brauchst du nicht. Bilder, Metaphern reduzieren Atmosphäre auf das Wesentlichste. Sie sind kein Extra. Sie sind kein zusätzliches Anpinseln. Sie stehen für sich und leisten einen Beitrag zur Statik deiner Story. Sie sind keine Spanischen Wände (ha.ha.)

Während ich Hannas Hand verbinde, kommt Theo die Treppe hoch.
»Theo ...«, sage ich, bevor er lächelnd abwinkt.
»Ist alles gut. Ich bin nicht blind. Ich weiß, in welcher Welt wir leben und wie schwierig es ist. Auch Hanna weiß es. Aber noch leben wir nicht im Eis. Noch leben wir hier. Und hier haben wir doch etwas, nicht viel, aber es ist genug, um dafür zu kämpfen. Findest du nicht?«

Viele Science-Fiction-Filme, weniger Bücher, haben ein ganz banales Problem: Sie müssen eine Geschichte erzählen. Sie beginnen mit einer opulenten Welt, dann erreicht die Aufmerksamkeit einen sanften Wendepunkt und mit mathematischer Präzision beschleunigt sie zur Nulllinie. Aber die Aufmerksamkeit! Die ist doch wichtig! Also muss sie aufgefangen werden, also soll eine Hilfslinie helfen, und da meldet sich der konstruierte Spannungsbogen. Der Spannungsbogen konstruiert eine Geschichte, die in ihrer Ausgestaltung hinter der Welt zurückbleibt. Uff, schwieriges Ding.

In deiner Geschichte bedeutet das: Die psychologische Ausgestaltung deiner Gruppenmitglieder konkurriert mit der geographischen einer überfluteten Welt. Und verliert, aus meiner Sicht. Vielleicht hilft es dir, die Gruppe auf zwei Personen zu reduzieren. Die Gesprächsthemen deiner Charaktere kreisen viel um das Überleben. Sie müssen kämpfen und haben Angst. Sie müssen durchhalten. Vielleicht sollten sie genau darüber nicht reden. Für mich als Leser ist es ja sehr plausibel, dass sie sich irgendwie durchbeißen müssen. Klar kämpfen sie. Aber vielleicht führen sie ein blödes Gespräch über die Farbe eines Ruderboots oder wie sie es lackieren möchten oder über Kaugummi oder Tee/Kaffee zum Frühstück.

So, das war's! Ich hoffe, es klingt nicht zu oberlehrerhaft. Mensch, ich weiß auch nicht, was eine richtig gute Geschichte auszeichnet und das Schreiben darbt bei mir dahin. Aber anhand deiner Kommentare, denke ich, kannst du es präziser und runder. Punkt.

lg
kiroly

 

Hallo @kiroly,

vielen Dank für deinen Kommentar.

Die Verfremdung sehe ich vor allem in der künstlichen Dramaturgie, die die Geschichte meiner Meinung nach gar nicht bedarf.
Du vertiefst hier nochmal einen Punkt, der auch schon von Rob kritisiert wurde: Einiges, vor allem der Spannungsbogen, läuft hier nach Schema F ab und könnte konstruiert, und deiner Meinung nach sogar überflüssig, wirken. Für mein Empfinden ist der Spannungsbogen schon organisch und nachvollziehbar, die Ereignisse in der Geschichte kommen ja nicht aus dem Nichts, aber es bleibt alles recht stereotyp. Die Frage, ob es die "künstliche" Dramaturgie überhaupt braucht, ist für mich eine schwierige. Ich glaube, ich kann die Geschichte, die du lieber gelesen hättest, vor mir sehen. Sie folgt den Hauptfiguren durch ihren ganz normalen Alltag in der überschwemmten Welt, ist viel stiller und kommt ohne aufgesetzt wirkende Spannungskurven aus. Mein Problem dabei war genau das Folgende:
Aber die Aufmerksamkeit! Die ist doch wichtig! Also muss sie aufgefangen werden, also soll eine Hilfslinie helfen, und da meldet sich der konstruierte Spannungsbogen. Der Spannungsbogen konstruiert eine Geschichte, die in ihrer Ausgestaltung hinter der Welt zurückbleibt. Uff, schwieriges Ding.
Ich hatte die Befürchtung, dass alles zu sehr vor sich hin plätschern und sich der Leser gerade bei der Länge dieser Geschichte langweilen würde. Genau das wurde auch bei einer älteren Geschichte von mir kritisiert, ich vermute, dass ich hier auf Nummer sicher gehen wollte, dann aber wohl etwas über das Ziel hinausgeschossen bin.

Ich werde nochmal gut über diesen Punkt nachdenken und dann einige Änderungen machen. Momentan ist mein Instinkt, die ganze Medikamentensuche und die Amputation zu streichen und dafür noch eine alltäglichere, stille Szene einzubauen. Tut natürlich etwas weh, zwei komplette Seiten wegzuwerfen, aber nach deinem Kommentar spüre ich auch, dass hier Reduktion der Geschichte gut tun wird.

eine Gruppe naiver Schreibseminaristen, die mit schwacher Faust auf den Tisch hauen und sagen: "So, jetzt machen wir eine richtig, richtig schöne Geschichte. So. So, und mit aktueller Aktualität. So. Und Spannungsbogen!"
:lol:
Ja, ich kann jetzt sehen, wie es so wirken könnte. Ich wollte hier einiges unterbringen und viele Facetten der Welt zeigen. Klimaschutz, Politik, Religion, Systemkritik, Traumata. Und alles getragen von einer intimen Geschichte über die Beziehung der beiden Hauptfiguren. Dabei bin ich dann wohl irgendwann ausgerutscht und vom Außergewöhnlichen ins Gewöhnliche geschlittert.

Aber in deinem Setting lese ich die Tendenz, das Leben in der überfluteten Stadt stimmungsvoll einfangen zu wollen. Wie ist das eigentlich so? Das Leben?
Wenn du mit stimmungsvoll nicht stimmig, sondern (zu) fröhlich meinst: Für mich ist das Leben, in einer überschwemmten Stadt oder anderswo, ganz klar beides. Verzweiflung und Hoffnung koexistieren in jeder schwierigen Situation, das wollte ich auch so zeigen und die beiden Hauptfiguren sollten das auch transportieren. Mal ein ganz aktuelles Beispiel: In der Coronakrise gibt es die Menschen, die in (Selbst-) Isolation gemeinsam auf den Balkonen musizieren, aber auch die, die andere wegen Klopapier überfallen.
Allerdings kam diese Kritik auch schon von Rob, von daher werde ich das im Hinterkopf behalten und, falls weitere Kritiken in der Richtung folgen, Änderungen machen.

Ich denke, dass eine Begründung, eine Antwort auf das "Warum?" gar nicht notwendig ist.
Da hast du sicherlich recht. Ich glaube auch, die Geschichte hätte ohne Erklärung des Szenarios funktioniert. Nun liegt mir Klimaschutz einfach am Herzen und ich wollte, dass diese Geschichte auch etwas darüber aussagt. Allerdings hatte ich dabei auch die Sorge, dass es zu plump und plakativ wirken könnte. Aber die erste erklärende Rückblende ist ja sehr kurz, ich glaube nicht, dass sie störend wirkt, werde diesen Punkt aber mal im Auge behalten.

Wir treiben ziellos durch die mondlichtgetränkten Häuserschluchten. Die Sterne vibrieren im Kielwasser des Bootes wie ertrinkende Glühwürmchen.
Wir müssen weg, gebärdet Hanna und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
»Wohin?«
Weg.
Solche Formulierungen brauchst du nicht. Bilder, Metaphern reduzieren Atmosphäre auf das Wesentlichste. Sie sind kein Extra. Sie sind kein zusätzliches Anpinseln. Sie stehen für sich und leisten einen Beitrag zur Statik deiner Story. Sie sind keine Spanischen Wände (ha.ha.)
Diesen Punkt verstehe ich nicht ganz, oder hab da wohl eher (noch) kein gutes Gefühl dafür.
Für mich soll so eine kurze, sehr bildhafte Beschreibung direkt die Szene in den Kopf des Lesers transportieren. Ich möchte, dass man sieht, in welcher Umgebung sich die Figuren befinden, ohne, dass ich da ausschweifend mit vielen Worten hantieren muss. Von daher ist das hier schon eine gewollte Reduktion des Startpunktes der Szene. Für mein Empfinden funktioniert das eigentlich. Aber: In meinen Geschichten werden mir häufig Bilder und Vergleiche angekreidet, und sollen sie ja auch in Zukunft noch, wenn es unpassend wirkt. Das merke ich mir natürlich, warte da aber irgendwie auf einen eigenen Aha-Moment, der mir zeigt, warum das mit den Bildern denn so schlimm ist. Sie sind ja, gerade bei der Länge dieser Geschichte, sehr sparsam vertreten.

Aber anhand deiner Kommentare, denke ich, kannst du es präziser und runder. Punkt.
Nun ist es leider so, dass Texte zu kommentieren und zu kritisieren einfacher ist, als selbst einen gescheiten Text zu verfassen, finde ich zumindest ;)
Aber ich arbeite dran!

Danke für deine Anmerkungen, die haben mich auf jeden Fall weitergebracht!

Viele Grüße,
Catington

 

Hallo Catington,

leider kann ich dir jetzt grade keine Kritik zu deiner Geschichte liefern, weil ich die letzten Tage schon genug Unwirkliches mitbekomme. Deswegen wollte ich hier bei den Wortkriegern ein wenig Abstand finden, eine gemütliche Geschichte lesen - und lande bei deiner Geschichte. Ich habe nur eine Bitte: ändere die Tags. Das ist nicht Alltag und Gesellschaft, das ist u.a. auch SF oder Seltsam oder Sonstiges. Ich wollte mich auf deinen Text einlassen, aber ehrlich, ich brauche das im Moment wirklich nicht auch noch, sorry.

Im Übrigen habe ich hier auch eine KG mit dem gleichen Titel :D

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo @bernadette,

schade, dass dich meine Geschichte bzw. die Tags in die Irre geführt haben. Ich kann natürlich verstehen, warum man momentan nicht unbedingt so eine Geschichte lesen möchte.

Ich habe mal noch "Sonstige" als Tag hinzugefügt. Über den Tag "Science Fiction" habe ich mir bei der Veröffentlichung auch Gedanken gemacht und mich dagegen entschieden, denn für mich ist die Geschichte im Kern trotz der Prämisse eher eine Erzählung über den Alltag der Figuren, wenn auch in einer etwas fremden (aber ich hoffe nicht zu fremden) Welt. Ich befürchtete, dass "Scifi" da nochmal eine falsche Erwartungshaltung wecken würde. "Seltsam" genug ist mir diese Geschichte auch nicht.
Als Referenz sah ich auch, dass die (wirklich tolle) Endzeit-Geschichte "Kurz vor Schluss" aus den Empfehlungen keinen "Science Fiction" Tag trägt.
Aber ich bin ja noch relativ neu hier und verstehe vielleicht auch die Tags falsch, von daher hätte ich kein Problem damit, mich von Folgekommentaren umstimmen zu lassen und das Ganze als "Science Fiction" zu klassifizieren.

Deine "Leuchtfeuer" Geschichte hatte ich gelesen (und fand sie nebenbei schön), als ich vor dem Reinstellen geschaut hatte, ob es noch andere mit dem Titel gibt. :) Es gibt nur wenige, da dachte ich, ich kann den auch nochmal verwenden, denn hier war es eher so, dass ich die Geschichte um die Symbolik des Titels geschrieben habe, als umgekehrt.

Viele Grüße,
Catington

 

Hallo @Catington,

jetzt habe ich mich auch mal an dein Leuchtfeuer gewagt.

Ein sehr atmosphärischer Einstieg, wie ich finde, tolle Bilder, Wasser, das auf der Stadt liegt wie ein straff gespanntes Leichentuch, das verspricht ja schon einiges.

Ein metallener Pferdekopf reckt sich aus dem Wasser. Hanna neigt ihren Kopf zur Seite, lächelt es an und legt die Hände auf seine Wangen.

Hier hatte ich ein Problem mit der Zuordnung. Hannah lächelt es an - was es? Ach ja, das Pferd. Aber zuvor ist von einem Pferdekopf die Rede, deshalb habe ich erwartet, dass sie ihn anlächelt.

weg futtert

wegfuttert

Die Bücher werden höchstens noch von Fischen gelesen.

Gefällt mir sehr.

Und auch sonst merke ich, hier angekommen: Da gibt es wenig auszusetzen, zu kritisieren. Ich kann mich auf den Inhalt konzentrieren, auf die Atmosphäre, was hier glaube ich sehr wichtig ist.

»Ich geh schon mal vor, muss noch etwas für heute Abend besorgen. Wir sehen uns ...«, sage ich und schaue auf meine Uhr, »… in etwa zwei Tagen vorne am Platz?«
Sie grinst und streckt ihre Zunge heraus.

Ich möchte ungerne eine andere Geschichte als "Negativbeispiel", weshalb ich auf eine Markierung verzichte, aber ich hatte hier im Forum kürzlich bei einer Geschichte das Problem, dass ich die Neckereien zwischen den Protagonisten nicht "gekauft" habe. Das hier hingegen wirkt sehr authentisch, finde ich, keine unheimlich geistreiche Neckerei möglicherweise, aber eine sehr alltägliche. Und die Umsetzung, also die Unterbrechung der wörtlichen Rede durch den Blick auf die Uhr, das ist auch sehr gut gelungen. Eine Kleinigkeit im Grunde, aber solche Sachen sind es unter anderem, weshalb ich gerne Geschichten lese.

Der Verkäufer ist in dunklen Lumpen gekleidet, sein Kopf ist bis auf die Augenpartie in ein Tuch eingewickelt.

Hier bin ich mir nicht ganz sicher, ich hätte aber fast zu "in dunkle Lumpen gekleidet" tendiert, das -n also gestrichen.

»Warte mal«, sagt er und winkt mich verschwörerisch zu ihm.

Vorschlag: ... und winkt mich verschwörerisch heran.

Das ist wirklich schwere Kost, inhaltlich. Am Ende des ersten "Kapitels", da wurde mir die Hoffnungslosigkeit so richtig deutlich, bis dahin bin ich staunend gefolgt, habe die Atmosphäre aufgesaugt. Ich habe mich auch gefragt, ob ich vielleicht bald anfangen werde, querzulesen, weil ... Ja, es ist eine sehr langsame Geschichte. Aber das passt ja auch, die Welt steht am Ende, ist komplett entschleunigt, zumindest außerhalb vom Markt, dem Ort, an dem der Handel noch floriert.

Ich hatte vorgesorgt. Harrte aus, bis das Wasser zum ersten Stock reichte, bevor ich das Schlauchboot durchs Fenster schob. Und da war sie, am Fenster gegenüber. Stand einfach nur still da, als würde sie auf den Bus warten. Ich paddelte rüber, half ihr ins Boot. Sie streckte zögernd ihre Hand aus und sagte: »Hanna.«

Geil!

Aber gestern …Gestern habe ich mir eine Nominierung für den Idiotenoscar verdient.«

Leerzeichen nach den Punkten fehlt

Ich werfe meine Arme um sie und die Tomaten und das Wasser und der ganze sterbende Planet sind wie aus meinem Kopf weggespült und ich sehe nur noch das Fenster auf der anderen Straßenseite und wie sie da steht und wartet.

Ein schöner, ich nenne es mal, Pirouettensatz, der sich dreht und dreht und dreht und am liebsten gar nicht mehr aufhören möchte. Aber: Ich bin der Ansicht, dass hier ein Komma nach "Ich werfe meine Arme um sie" gehört, weil so lese ich: "Ich werfe meine Arme um sie ... und um die Tomaten ..." und spätestens bei "Ich werfe meine Arme um der ganze sterbende Planet" macht es keinen Sinn mehr.

An der Stelle eine persönliche Anekdote: Vor ein paar Tagen habe ich den Don Quijote aus meiner Schublade geholt, den ich dort vor knapp einem Jahr mit einem Lesezeichen irgendwo auf Seite Zweihundertschlagmichtot und dem Gedanke "Les ich weiter, wenn ich mal richtig viel Zeit habe" verstaut hatte. Deshalb: Grüße gehen raus an Theo.

So, irgendwo hier komme ich dann aber doch wieder zurück zu meinem Gedanken mit dem Querlesen, und wie ich sehe, kommt da noch einiges an Text, und obwohl sich mein Kommentar ja eigentlich so liest, als fände ich das alles ziemlich gut - was auch stimmt ... Steige ich aus. Warum? Ich weiß nicht so recht. Eben habe ich die Langsamkeit noch verteidigt, und es gab ja auch eine temporeiche Zwischenszene mit den Soldaten, aber ich weiß nicht ... Irgendwas fehlt mir. Ich langweile mich ein bisschen, ehrlich gesagt. Leider.

Ich habe hier den Eindruck, einen Ausschnitt aus einer groß angelegten "Fantasy"-geschichte zu lesen. Jeder Satz sitzt, steigert die Atmosphäre und trägt zum großen Ganzen bei. Ich finde das beeindruckend und bewundernswert, nur ist es nicht das, was ich persönlich gerne habe. Möglicherweise fehlen mir also die kleinen Hakenschläge, die ich bei Kurzgeschichten so mag. Nicht zu wissen, was im nächsten Satz passiert. Aber das ist nicht mehr als der Versuch, ein Gefühl in Worte zu fassen, das ich selbst nicht so richtig zu greifen bekomme.

Liebe Grüße,
Akka

 

Hallo Rob,

vielen Dank für's erneute Durchlesen – gerade einer so langen Geschichte.

Dadurch, dass du die Szenen mit den Medikamenten und der Amputation rausgenommen hast, wirkt die Handlung auf mich nun weniger wie eine Aneinanderreihung von typischen Elementen einer Endzeitgeschichte. Ich finde, das war ein guter Schritt!
Das finde ich auch! Da haben mich eure Kritiken definitiv auf die richtige Fährte gebracht. Ein paar Standard-Elemente für das Genre sind natürlich noch drin, aber das finde ich jetzt, wo so ein großer Batzen davon weg ist, nicht weiter tragisch.

Und das sympathische Trio kommt noch etwas mehr zur Geltung, sie wirken insgesamt sehr positiv in dieser sterbenden Welt. Die Szene mit der Wasserrutsche ist neu, oder?
Genau, die Szene ist neu. Jetzt schwenkt auch die ganze Geschichte mehr ins Positive. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich gar nicht und denke noch darüber nach. Gelitten haben die Figuren ja eigentlich auch so schon genug.

Ich werde generell noch in den nächsten Tagen und Wochen etwas an der Geschichte herumschreiben, einige Stellen sind für mich noch nicht ganz rund. Und vielleicht kommt noch etwas mehr Trauer, um die fröhliche Rutschenszene auszubalancieren.

Tolle Geschichte, ich war auch beim zweiten Lesen schon nach wenigen Sätzen wieder mitten drin in dieser Welt!
Das freut mich, so soll es sein! :)

Und sie hat ja mittlerweile auch eine gute Aussage zu der aktuellen Situation: Sich auch in schwierigen Zeiten nicht unterkriegen zu lassen und für diejenigen da zu sein, die einem wichtig sind (sofern es im Moment möglich ist).
Aussagen wollte ich mit der Geschichte einiges (weiß nicht, ob mir das gut gelungen ist), aber das ist auf jeden Fall eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste.

Na dann nochmal danke, dass du bestätigt hast, dass die bisherigen Änderungen in die richtige Richtung gehen.

Viele Grüße,
Catington

 

Hallo @Akka,

vielen Dank für deinen Kommentar, der nochmal eine Schwachstelle in der Geschichte aufzeigt, die mir zwar bewusst war, wo ich aber dachte, dass andere Aspekte der Geschichte sie hinreichend ausgleichen: Das mit den Spannungsbögen.
Deine Verbesserungsvorschläge habe ich alle direkt gekauft, Dankeschön!

Ein sehr atmosphärischer Einstieg, wie ich finde, tolle Bilder, Wasser, das auf der Stadt liegt wie ein straff gespanntes Leichentuch, das verspricht ja schon einiges.
Und auch sonst merke ich, hier angekommen: Da gibt es wenig auszusetzen, zu kritisieren. Ich kann mich auf den Inhalt konzentrieren, auf die Atmosphäre, was hier glaube ich sehr wichtig ist.
Sehr schön. Ich wollte, dass der Leser im Kopf immer in der überschwemmten Welt bleibt und ihn nichts rausreißt, freut mich, dass du es für gelungen hälst.

»Ich geh schon mal vor, muss noch etwas für heute Abend besorgen. Wir sehen uns ...«, sage ich und schaue auf meine Uhr, »… in etwa zwei Tagen vorne am Platz?«
Sie grinst und streckt ihre Zunge heraus.
Ich möchte ungerne eine andere Geschichte als "Negativbeispiel", weshalb ich auf eine Markierung verzichte, aber ich hatte hier im Forum kürzlich bei einer Geschichte das Problem, dass ich die Neckereien zwischen den Protagonisten nicht "gekauft" habe. Das hier hingegen wirkt sehr authentisch, finde ich, keine unheimlich geistreiche Neckerei möglicherweise, aber eine sehr alltägliche. Und die Umsetzung, also die Unterbrechung der wörtlichen Rede durch den Blick auf die Uhr, das ist auch sehr gut gelungen. Eine Kleinigkeit im Grunde, aber solche Sachen sind es unter anderem, weshalb ich gerne Geschichten lese.
Ja, ich weiß, worauf du dich beziehst. Und bei einer älteren Geschichte von mir hast du ja einen ähnlichen Aspekt kritisiert. Ich persönlich sehe das gar nicht so eng, auch wenn ich den Kern deiner Kritik natürlich verstehe. Für mich muss die Neckerei nur zu den Figuren passen, dann lese ich sowas eigentlich gerne, auch wenn es leicht konstruiert wirkt. Aber schön, dass dir diese Stelle gefallen hat. Nebenbei kam später noch eine solche Stelle, die dir vielleicht weniger zugesagt hätte. Deine Meinung dazu hätte mich natürlich auch interessiert, aber, dass du vorher bereits ausgestiegen bist, muss ich mir auf meine Autorenkappe nehmen.

Das ist wirklich schwere Kost, inhaltlich. Am Ende des ersten "Kapitels", da wurde mir die Hoffnungslosigkeit so richtig deutlich, bis dahin bin ich staunend gefolgt, habe die Atmosphäre aufgesaugt. Ich habe mich auch gefragt, ob ich vielleicht bald anfangen werde, querzulesen, weil ... Ja, es ist eine sehr langsame Geschichte. Aber das passt ja auch, die Welt steht am Ende, ist komplett entschleunigt, zumindest außerhalb vom Markt, dem Ort, an dem der Handel noch floriert.
Hier hört es sich so an, dass du die inhaltlich schwere Kost negativ bewertest. In der von mir beschrieben Welt geht es ganz klar auch ums Überleben und viel schlimmere Sachen, durchgehend "angenehm" zu lesen soll sie gar nicht sein, aber ich habe probiert, durch die eingestreuten heiteren Szenen, eine Balance zu finden. Da hoffe ich, dass ich anfangs nicht die falsche Erwartungshaltung geweckt habe, dass es hier um eine grundlegend schöne und friedliche Welt geht.

An der Stelle eine persönliche Anekdote: Vor ein paar Tagen habe ich den Don Quijote aus meiner Schublade geholt, den ich dort vor knapp einem Jahr mit einem Lesezeichen irgendwo auf Seite Zweihundertschlagmichtot und dem Gedanke "Les ich weiter, wenn ich mal richtig viel Zeit habe" verstaut hatte. Deshalb: Grüße gehen raus an Theo.
Ich leite die Grüße weiter ;)
Das Buch habe ich selbst zugegebenermaßen noch nicht gelesen, es steht noch auf meiner Leseliste, ist ja ein ziemlicher Brocken. Den Inhalt kenne ich aber, und ich sah da einfach ein paar Parallelen zu dieser Geschichte (vor allem vor der ersten Überarbeitung), da passte es für mich, dass Theo genau dieses Buch liest.

So, irgendwo hier komme ich dann aber doch wieder zurück zu meinem Gedanken mit dem Querlesen, und wie ich sehe, kommt da noch einiges an Text, und obwohl sich mein Kommentar ja eigentlich so liest, als fände ich das alles ziemlich gut - was auch stimmt ... Steige ich aus. Warum? Ich weiß nicht so recht. Eben habe ich die Langsamkeit noch verteidigt, und es gab ja auch eine temporeiche Zwischenszene mit den Soldaten, aber ich weiß nicht ... Irgendwas fehlt mir. Ich langweile mich ein bisschen, ehrlich gesagt. Leider.
Hier schließen sich die Kommentarkreise, denn kiroly meinte in einem Vorkommentar noch, dass die Geschichte gar keiner künstlichen Dramaturgie bedarf. Danach habe ich, auch, weil es sich mit einem Kommentar von Rob deckte, knapp zwei Seiten, wo es doch mal richtig spannend wurde, gelöscht. Und dazu stehe ich auch noch und denke, es macht die Geschichte besser.

Ich war mir schon während des Schreibens bewusst, dass das eine langsame und lange Geschichte werden wird und hatte die Hoffnung, dass die Welt und die Figuren interessant genug sind, damit der Leser sie gerne auf ihrer Reise begleitet. Dann habe ich noch ein paar Fragezeichen eingestreut, um doch so etwas wie kleine Spannungsbögen zu haben, die sich durch die Geschichte ziehen und neugierig machen sollen:
Was ist in der Blechdose, die der Prot von Tobi bekommt?
Wer sind die Leute, die am nächsten Tag auftauchen werden und was wollen sie?
Was macht die "Regierung" mit dem ganzen Gemüse?
Und, ich befürchte fast, dass das niemandem aufgefallen ist: In der ersten Rückblende spricht Hanna. In der Gegenwart verwendet sie nur Gebärdensprache. Was ist zwischen damals und heute passiert?

Zum einen glaube ich, dass Geschichten grundlegend keinen durchgehenden Spannungsbogen brauchen, um zu funktionieren. Da muss man nur ein paar der tollen Geschichten aus den Empfehlungen lesen. Aber natürlich darf die Geschichte trotzdem nicht langweilen und das, da kann ich deine Kritik komplett nachvollziehen, hätte mir hier besser gelingen müssen. Und es ist speziell sehr schade, dass du bei den Soldaten ausgestiegen bist, weil danach meine Lieblingsszene in der ganzen Geschichte kam ;) Ich schreibe ja noch an der Geschichte herum, vielleicht fällt mir da noch ein guter Mittelweg ein, um mehr Leser mitzunehmen.

Ich habe hier den Eindruck, einen Ausschnitt aus einer groß angelegten "Fantasy"-geschichte zu lesen. Jeder Satz sitzt, steigert die Atmosphäre und trägt zum großen Ganzen bei. Ich finde das beeindruckend und bewundernswert, nur ist es nicht das, was ich persönlich gerne habe. Möglicherweise fehlen mir also die kleinen Hakenschläge, die ich bei Kurzgeschichten so mag. Nicht zu wissen, was im nächsten Satz passiert. Aber das ist nicht mehr als der Versuch, ein Gefühl in Worte zu fassen, das ich selbst nicht so richtig zu greifen bekomme.
Tatsächlich spukte mir bereits beim Schreiben eine andere Geschichte mit anderen Figuren in dieser Welt im Kopf herum, die ich irgendwann mal schreiben möchte, wenn ich das Gefühl habe, dass sich meine Schreibe hinreichend verbessert hat. Das mit den Hakenschlägen ist ein guter Tipp, das merke ich mir.

Das war ein hilfreicher Kommentar, danke dir. Und auch schön, dass du noch ein paar Stellen zitiert hast, die du magst. Es ist immer gut zu wissen, was in einer Geschichte für andere besonders gut funktioniert.

Viele Grüße,
Catington

 

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