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London, 21. Februar 1858

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27.01.2004
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London, 21. Februar 1858

London, 21. Februar 1858

Später wird dieses Jahr einmal als „The Year of the Great Stink“ eingehen und schon heute konnte man erahnen warum. Seit einigen Jahren, um genau zu sein seit der Erfindung der modernen Toilette, gelangten die Abwässer vieler Londoner unbehandelt in die Themse und verleihten Ihr dadurch eine ganz besondere Note. Ich habe mich schon einige Male gefragt, was an einer Erfindung modern sein soll, die es innerhalb weniger Monate geschafft hat einen Fluss zum Sterben zu bringen?

Mein Weg führte mich an diesem Abend leider hinunter in den Moloch am Rande des Flusses, in das Armenviertel Londons. Hier gab es nur wenige, die stärker waren als der Gestank der Themse, Gesetzlose, Strauchdiebe, Beutelschneider, Zuhälter und Mörder oder anders gesagt jene, die Gewalt und Kriminalität zu ihrem Beruf gemacht haben. Wer hier lebte hatte es geschafft und den Boden der Gesellschaft zu erreicht, die Treppe hinunter führte direkt in die Hölle.

Jemanden wie mich hatten die Menschen hier schon lange nicht mehr gesehen und so starren sie mich unverhohlen aus kleinen, gierigen oder neidischen Augen an und verschaffen mir so das Gefühl, jeden Moment von tausend Händen gepackt und auseinander gerissen zu werden, wohl darauf bedacht später nur das absolut Ungebräuchliche die Themse hinuntertreiben zu lassen. An manchen Tagen wäre ich sicher Ihr Opfer gewesen, kaum, dass ich ein paar Meter in Ihr Gebiet eingetaucht wäre aber heute war ich ihretwegen hier und das wussten sie und respektierten es.

„Good evening, Mr. Schweizer!“, Mark Selwig trat mir aus einer der Seitengassen entgegen. „Ich hoffe es macht Ihnen keine Mühe sich hier herunter zu begeben.“
„Machen Sie sich deswegen mal keine Gedanken, ich habe schon Absonderlicheres gemacht, als zu solch einer Uhrzeit in Londons feinsten Bezirken umherzuwandern.“
Selwig hatte den Witz verstanden und ein Lächeln zuckte über sein Gesicht, bevor er mir mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass ich ihm folgen solle. Wir gingen noch ein ganzes Stück weiter hinunter zu Themse, was ich weniger an der Richtung erkannte, in die wir liefen, als vielmehr an dem stetig zunehmenden Gestank von dem mir langsam aber stetig übel wurde.
„Wir haben es gleich geschafft“, baute mich Selwig auf, als ahnte er, dass es mir immer schwerer viel weiter in den Gestank einzutauchen. „Die meisten Menschen aus den äußeren Bezirken wären hier schon lange umgedreht oder zusammengebrochen aber für viele Bewohner Londons ist das der normale Alltag den sie ertragen müssen.“
'Kein schönes Los', dachte ich.
„Wir sind da“, verkündete er schließlich.
Wir standen vor einem der Slumhäuser, einem kleinen Lehmhaus mit noch kleineren Fenstern, ohne Putz, ohne Fensterglas und ohne eigene Wasserversorgung. Auf den wenigen Quadratmetern, die hier zur Verfügung standen, lebten selten nur einige, wenige Menschen, meistens aber mehrere Familien dicht zusammengedrängt. Die Tür war geöffnet und Selwig schickte sich an hineinzugehen.
„Kommen Sie, wir werden erwartet!“

Im Haus selbst war es noch dunkler als die fortgeschrittene Dämmerung vor der Türe. Eine einzelne Kerze kämpfte mühsam gegen die Dunkelheit an und leuchtete dabei nicht mehr als die Umrisse des Raumes aus. Ich zählte insgesamt 6 Personen, die sich um einen, arg mitgenommen aussehenden Tisch drängten und erwartungsvoll in meine Richtung starrten.
„Good evening“, murmelte ich, aber niemand grüßte zurück.
„Machen Sie sich keine Gedanken, die Familie steht seit dem Vorfall unter Schock und redet nur noch selten und schon gar nicht mit Fremden“, erklärte Selwig mir die Situation.
„Das hier ist Martha, die Hüterin des Hauses.“ Selwig hatte sich hinter eine der Personen gestellt und lächelte mir aufmunternd zu. „Ihr Mann ist noch in der Fabrik und wird erst spät zurück kommen aber Sie wird uns genauso gut helfen können.“
„Hello Martha!“, begrüßte ich Sie, doch auch direkt angesprochen zeigte sie keinerlei Reaktion und verharrte mit starrem Blick auf ihrem Platz.
„Nun ja, ich gebe zu, all zu viel Gastfreundschaft herrscht im Moment nicht in diesem Haus“, unterbrach Selwig erneut die Stille. „Aber das sollte uns erst einmal nicht weiter stören. Martha wird schon noch gesprächiger werden, denke ich. Weswegen wir eigentlich hier sind, befindet sich im Hinterzimmer“, Selwig deutete auf die kleine, schiefe Tür an der linken Seite des Zimmers.
Als wäre es ein Stichwort gewesen auf das alle gewartet haben stand die ganze Familie mit einem Mal vom Tisch auf und verließ einer nach dem anderen das Haus. Nur Martha blieb an ihrem Platz sitzen und sah der Prozession schweigend zu.
„Nun gut, wie ich schon sagte, sie haben es alle noch nicht richtig verdaut. Kommen Sie!“, munterte mich Selwig erneut auf und führe mich in den Nebenraum.

Das Big Ben die Nacht einläutete mahlte auf gespenstische Weise den Anblick aus, den ich beim Betreten des Raumes geboten bekam. Auf einem schmalen Holztisch, es könnte einmal ein Backtisch gewesen sein, welcher mit einem ehemals weißen Laken bedeckt war, lag etwas, was mir als Erstes wie ein in sich gekrümmtes, schlafendes Kind vorkam, das sich, nachdem ich ein wenig näher gekommen war, als für immer schlafend entpuppte.
„Kein schöner Anblick, was Mr. Schweizer?“, Selwig starrte ebenfalls auf den Körper und schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn nun schon ein paar Mal gesehen doch der Anblick jagt mir immer noch einen Schauer über den Rücken und stülpt mir den Magen um.“
Kein Wunder, dachte ich. Zu dem immer noch sehr penetranten Geruch der Themse mischte sich in diesem Zimmer noch der faulige Geruch des Todes, der ganz eindeutig von dem ausging, was da vor mir auf dem Tisch lag. Sie hatten recht, ich hatte so etwas schon einmal gesehen und ich wollte nie wieder daran zurückdenken, denn es war eines der schrecklichsten Ereignisse auf meinen Reisen durch Afrika.
Vor mir lag der Körper eines Jungens von vielleicht 7 oder auch 8 Jahren, dem mit einem scharfen, schweren Messer zuerst der Kopf und anschließen Hände und Füße abgetrennt wurden. Ein Menschenopfer. In Afrika damals hatte man so um Regen gebeten, nachdem die letzte Wasserstelle im Umkreis von mehreren hundert Kilometern ausgetrocknet war und tatsächlich hatte es 2 Tage später in Strömen geregnet und die Menschen hatten gefeiert und sahen das Opfer bestätigt. Meiner Meinung nach handelte es sich bei diesem Regen aber eher um das Ende der Trockenzeit, also einem natürlichen Ereignis wie es jedes Jahr zur etwa derselben Zeit stattfand. Mich würde es nicht wundern, wenn der Medizinmann des Stammes des sehr genau wusste und durch das Opfer und den darauf folgenden Regen nur seine Machtposition ausbauen wollte.
Hier in London konnte ich mir allerdings keinen Reim darauf machen, was das Opfer bewirken sollte. Vielleicht aber die Säuberung des Flusses, schließlich war der Körper in der Themse gefunden worden, doch konnte das Ritual hier schlecht zu Ende gebracht werden, zumindest nicht nach den Vorschriften der Savannenbewohner. Die Trocknung der Hände und das Bleichen des Schädels mögen sie leicht auch in London fertig bringen doch das rituelle Begräbnis der Füße in der heiligen Erde Ihres Landes blieb ihnen wohl verwehrt.
„Es tut mir Leid aber ich muss einen Moment nach draußen gehen“, riss mich Selwig aus meinen Gedanken. „Kommen sie einfach nach, wenn Sie hier fertig sind.“

Ich blieb noch eine Weile neben der Leiche stehen und hing meinen Gedanken nach. Bald aber begannen sich diese im Kreise zu drehen. Ich gab es schließlich auf und verließ ebenfalls den Raum. Draußen fand ich Selwig alleine am Tisch sitzend, das Gesicht in die Hände versunken.
„Ich wäre nun soweit“, sagte ich. „Ich habe zwar noch keine Idee wie es zu solch einer Tat kam aber ich bin zuversichtlich dem in den nächsten Tagen auf die Spur zu kommen. Für den Moment möchte ich aber unbedingt in mein Hotel zurück, ein heißes Bad, etwas zu essen und einen guten Schluck Wein.“
„Sie scheint das gar nicht zu berühren!“, nuschelte Selwig hinter seinen Händen hervor. „Mir wird es jedes Mal ganz anders, wenn ich an das Kind denken muss.“
„Wissen Sie, im Laufe der Jahre habe ich schon so einiges gesehen,“ erwiderte ich. „Natürlich ist das Ereignis schrecklich aber es würde mich zu sehr von meiner eigentlichen Aufgabe ablenken, würde ich mich zu sehr darin verlieren. Es würde mir nur meinen Blick fürs Wesentliche trüben und Ihnen hälfe es auch nichts, schließlich käme ich dadurch nicht weiter. Auch wenn ich nicht geahnt hatte hier den Detektiv zu spielen als ich ihnen gestern die Zusage machte ich würde kommen, dennoch bin auch ich interessiert, wie es weitergehen wird.“
„Weitergehen?“, Selwig hatte die Hände heruntergenommen und starrte mich mit fassungslosem Blick an. „Sie meinen es wird noch mehr Tote geben? Noch mehr verstümmelte Leiber? Noch mehr Schrecken und Grauen?“
„Vielleicht. Aber ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Tagen auf die Spur der Täter kommen werden. Die Tat wurde noch nicht beendet und sie muss hier zu Ende gehen, hier, mitten in London.“
Mit diesen Worten wand ich mich von Selwig ab und trat ich hinaus in die kalte, stinkende Luft. Selwig folgte mir und geleitete mich den Weg zurück zum nächsten Droschkenstand. Mit jedem Schritt konnte ich spüren, wie meine Lungen wieder freier die Luft einsaugen konnten und es war mir, als hätte ich die ganze Zeit zu wenig eingeatmet und müsste dies nun nachholen.
Am Droschkenstand verabschiedete ich mich von Selwig und ließ mich zu meinem Hotel kutschieren. Dort angekommen entlohnte ich den Fahrer angemessenen und setzte kurze Zeit später mein Vorhaben ein heißes Bad zu nehmen in die Tat um. Im warmen Wasser liegend konnte ich die Kälte des Tages abschütteln und der Duft des mir gereichten Bratens vertrieb auch noch den letzten Geruchsfetzen der Themse, vom edlen Wein ganz zu schweigen. Satt, sauber und mit einem leichten Kopf fiel ich in mein viel zu weiches Bett und bald danach ich einen tiefen Schlaf.

Leider wurde diese Nacht alles andere als Erholsam für mich. Das Gesehene hatte mich anscheinend stärker mitgenommen als ich mir zuerst eingestehen wollte. Im Traum war ich sechs Jahre in der Zeit zurückversetzt und befand mich wieder in Afrika an jenem Tag als das Menschenopfer dargebracht wurde. Die Ereignisse von damals spielten sich lebendig vor meinen Augen ab. Ich konnte sie alle sehen, wie sie um das rießige Feuer tanzten, die Furcht in den Augen des Jungens, die Tränen und die Verzweiflung der Mutter und die Hoffnung auf baldigen Regen aller Anderen. Dem Jungen wurde vor dem Ritual eine milchige Flüssigkeit einer heimischen Baumart eingeflößt um ihn zu betäuben und willenlos zu machen. Der Häuptling des Stammes saß, zusammen mit seinen Frauen, auf seinem Thron und beobachtete das Ganze. Ich als Ehrengast stand direkt neben ihn und hatte eine zweifelhaft gute Sicht auf die nun folgenden Ereignisse. Als das Feuer sich dem Ende zuneigte und nur noch eine rote Glut den Platz erleuchtete trat endlich der Medizinmann aus seiner Hütte, in welcher er schon seit Stunden, unter Zuhilfenahme von Rauchwerk meditierte und sich in Trance versetzte. Er war mit einem seltsam anmutenden Geschirr aus Knochen und Zweigen bekleidet, an dem dutzende Fetische und alle Arten von Glücksbringern oder Gotteszeichen hingen. Er schritt zielstrebig auf den am Boden kienden Jungen zu der von zwei Männern gehalten wurde, damit er nicht besinnungslos umfiel und hob einen kurzen, dünnen und wie ich heute weiß hohlen Speer. Mit verdrehten Augen und nach einer Litanei immer der gleichen, mir fremden Worte, rammte er diesen zielsicher in die Brust und damit in das Herz des Jungens und fing das sofort ausströmende Blut mit einem Irdenen Gefäß auf. Beim Anblick dieser Tat wurde mir schlecht, doch es sollte noch schlimmer kommen. Mit einem grob behauenen, schweren, eisernen Messer welches ohne Übertreibung als Machete verwechselt werden konnte hackte er dem, noch lebenden, Jungen beide Hände und beide Füße ab. Aus den Stümpfen quoll Blut hervor und versank in der trockenen, roten Erde. Als der Strom des Blutes aus dem hohlen Speer nachließ stieß er den, nun leblosen Körper, auf den Rücken und hackte ihm mit einem einzigen, von einem entrückten Schrei begleiteten Hieb, den Kopf vom Leib. Allein der Anblick dieser barbarischen Tat brachte mich an den Rand eines Zusammenbruchs und mir wurde schwarz vor Augen. Mein schwarzer Begleiter der neben mir stand fing mich damals auf und stützte mich, damit ich nicht meine Würde verlieren würde. Als ich wieder klar sehen konnte war das Erste was mir in die Augen fiel die am Boden liegende Gestalt einer Frau. Die Mutter des Kindes hatte sich das Leben genommen. Der Junge selbst war fortgeschafft worden, seine Hände hingen über der Glut des Feuers, sein Schädel würde wohl in dem irdenen Topf auf dem Feuer ausgekocht werden. Voll Schreck aber sah ich mit einmal den Medizinmann vor mir stehen, der mir die Schale mit dem Blut des Jungens entgegenreichte und mir zu verstehen gab ich solle davon trinken. Mit einem Lächeln winkte ich ab als mir mein Begleiter die unheilvollen Worte ins Ohr flüsterte: „Sie müssen! Das Wunder wird sonst nicht wirken. Der Stamm wird nicht erfreut sein. Sie werden sie töten. Nehmen sie einen kleinen Schluck.“
Zitternd nahm ich die Schale entgegen und führte sie zum Mund. Das Blut schmeckte metallisch und war noch warm. Mit geschlossenen Augen gab ich die Schale zurück und fing an zu würgen.
„Sie sehen, nicht alle unsere Bräuche sind für den weißen Mann gut oder verständlich. Sie sollten daher auch nicht vom weißen Mann verstanden werden wollen.“
Die Stimme kam nicht von meinem Begleiter und so öffnete ich meine Augen um zu sehen, wer da mit mir redete. Zu meinem Erstaunen stand der Medizinmann vor mir und lächelte mich an, in seiner Linken Hand hielt er das blutgetränkte Messer, in seiner Rechten eine Geierfeder. Als mir die Stille bewusst wurde die plötzlich eingetreten war schaute ich mich um und bemerkte voll Ungemach, dass mich alle Menschen des Stammes anstarrten, selbst die tot geglaubte Mutter des Jungens stand dort, aus ihrer Kehle floss immer noch Blut. Das abscheulichste aber war der Körper des Jungens selbst, der ohne Kopf neben ihr stand und mir war als starrte auch er mich aus nicht vorhandenen Augen an. Ich war wie paralysiert.
Der Medizinmann streckte mir die Feder entgegen. „Denken sie daran.“

Schweißgebadet schreckte ich hoch. Die weichen Daunen meiner Bettdecke waren von meinem Schweiß durchnässt, mein Nachthemd klebte an meinem Körper. Unbeholfen tastete ich auf meinen Nachttisch, bis ich die Petroleumlampe in die Finger bekam. Ich musste den Zünder ein paar Mal betätigen, bis die Lampe endlich die Schwärze aus dem Raum trieb. Langsam wurden meine Gedanken wieder klar und ich realisierte, dass ich einen schlechten Traum hatte.
„Verrückte Sache“, murmelte ich um den Traum endgültig abzuschütteln und bemühte mich umständlich aus dem Bett. Ich hatte wohl das Fenster angelehnt gelassen, denn in meinem Zimmer war es eiskalt und durch die nasse Kleidung fing ich an zu frieren. Mit der Lampe in der Hand ging ich hinüber zum Fenster um es zu schließen und musste mit Erstaunen feststellen, dass es sperrangelweit offen stand die Haltekette hing lose hinunter. Als ich das Fenster schloss, wirbelte der Luftzug eine Feder auf, die langsam zu Boden schwebte.
Irgendetwas an dieser Feder kam mir sonderbar vor und so hob ich sie vom Boden auf um sie zu betrachten. Ich musste mich auf mein Bett setzen, als ich erkannte, um was für eine Feder es sich handelte.
„Diese Feder hatte mir der Medizinmann gegeben“, murmelte ich und schüttelte ungläubig meinen Kopf. „Aber das war doch nur ein Traum, das kann doch nicht sein.“
Dennoch konnte ich keine andere Erklärung finden, was eine Geierfeder in meinem Hotelzimmer in London zu suchen hatte.
Der Traum und die Feder hatten die Müdigkeit meines Körpers vertrieben und so beschloss ich, bekleidet mit meinem dicken Morgenmantel und ein Paar Haussandalen, in die Halle des Hotels zu schleichen, um einen Blick auf die große Standuhr zu werfen und mir die Zeitungen der letzten Tage anzusehen.
Der Hotelportier schreckte aus seinen Träumen hoch, als ich die quietschende Treppe hinunterkam. Er war hinter seinem Tresen eingeschlafen und blickte mich nun aus kleinen Augen an.
„Good morning“, nuschelte er verschlafen und schaute auf die große Standuhr. Es war halb sechs am Morgen und die Stadt hatte bereits begonnen zu erwachen. Die Menschen gingen schon zur Arbeit in die Fabriken, Fuhrwerke ratterten über das Pflaster und die Tagelöhner suchten nach einem Job in den Küchen oder auf den Märkten.
„Good morning, any newspapers, yet?“, fragte ich ihn.
„Unfortunately not, Sir.“
‚Schade’, dachte ich und begab mich zu dem Stapel der, teilweise schon mehrere Tage alten, Zeitungen. Als Erstes fiel mir die Titelseite des täglich erscheinenden Manchester Guardian auf, welche eine große Afrikaausstellung in der Nähe von St. Pauls anpries. Ich hatte Blut geleckt und beschloss pünktlich zur Öffnung um zehn Uhr an Ort und Stelle zu sein.
Nach dieser Entdeckung schaffte ich es tatsächlich noch ein paar Stunden zu schlafen und kam, nach einem kargen Frühstück, ich hatte mich immer noch nicht an das viele Fett am Morgen gewöhnt, pünktlich zur Öffnung der Ausstellung in der Queen Victoria Street an.

‚VISIT AFRICA’, prangerte auf einem über dem Eingang hängenden Banner. Ich folgte der Einladung und betrat das Gebäude. Scheinbar war es ungewöhnlich so früh schon Besucher zu haben, denn ich war, außer der Frau hinter dem Kassentresen, alleine in der Eingangshalle. Zwei Pennys kostete der Eintritt und kurz danach tauchte ich in eine fremde Welt ein.
Das Banner hatte nicht zu viel versprochen. Ich war beeindruckt, wie lebendig die Veranstalter die Ausstellung organisiert hatten und nach ein paar Minuten, in denen ich interessiert umherschlenderte, kam es mir allmählich tatsächlich so vor, als wäre ich wieder in Afrika. Neben allerlei Fotografien der Eingeborenen und den dazugehörigen Erklärungen fand ich zahlreiche Speere und Schilder der unterschiedlichsten Stämme, reich verzierte Masken der Medizinmänner und etlichen Kultgegenständen. Zudem hatten die Veranstalter zahlreiche, ausgestopfte Tiere aufgestellt. Tiger, Löwen und weniger gefährliche Tiere bleckten ihre Zähne den Besuchern entgegen und vermittelten einen Eindruck wie gefährlich Afrika sein konnte. Pfeilspitzen und andere, kleinere Kunstwerke und Alltagsgegenstände waren in Vitrinen verschlossen und boten weiteres Anschauungsmaterial.
Ich wanderte noch einige weitere Minuten durch die Ausstellung als mir die unverwechselbaren Blätter des Kongo-Speerblatts ins Auge fielen. Diese Pflanze kannte ich noch von meiner Reise nach Afrika und es erstaunte mich zuerst, dass sie es im winterlichen London aushielt, der Raum war nur mäßig beheizt. Von meiner Entdeckung überrascht sag ich mir die übrigen, im Raum verteilten Pflanzen genauer an und stellte fest, dass die Mehrheit dieser ebenfalls aus Afrika stammte.
Der Gedanke, dass die Pflanzen womöglich auch in afrikanischer Erde steckten, ließ mein Herz schneller schlagen und ich begann damit jeden einzelnen Topf nach Spuren zu untersuchen, die auf eine erst vor kurzem stattgefundene Umtopfung oder Eingrabung hinwiesen. Systematisch kämpfte ich mich durch den Raum, jedoch ohne Erfolg, als mir schließlich jemand auf den Rücken klopfte. Verwundert drehte ich mich um und schaute auf. Vor mir stand ein, mit einer Art Uniform bekleideter, dunkelhäutiger Mann, der mich mit gerunzelter Stirn anschaute.
„What are you doing?“, fragte er mich in einem schweren, afrikanischen Dialekt.
„I’m just checking the earths’ humidity“, erklärte ich ihm.
„Sie sind Deutscher?“, ich war überrascht ihn in meiner Muttersprache zu hören.
„Ja“, gab ich zu.
„Ich habe das an ihrem Dialekt gehört“, sagte er und bleckte die Zähne.
„Sie dürfen nichts anfassen“, belehrte er mich. „Oder ich muss sie dazu auffordern die Ausstellung zu verlassen.“
Ich zeigte mich einsichtig, um Ärger zu vermeiden. „Ich verstehe. Tut mir Leid. Ich bin sicher die Pflanzen werden regelmäßig gewässert.“
„Dankeschön!“
Der Mann grinste immer noch, verbeugte sich aber und ging auf Abstand, mich aus den Augenwinkeln beobachtend. Er wusste etwas beschloss ich und gab mich damit zufrieden die restlichen Töpfe nur mit den Augen zu untersuchen, was in der dürftigen Beleuchtung aber zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis führte. Als sich weitere Besucher in die Ausstellung begaben und ich ohnehin nicht mehr ungestört umhergehen konnte, beschloss ich langsam den Ausgang zu suchen und die Ausstellung zu verlassen.

Am Nachmittag traf ich mich mit Selwig in einem kleinen Bistro in der Nähe meines Hotels. Selwig hatte augenscheinlich ebenfalls schlecht geschlafen und schaute mich aus kleinen, roten Augen an, als ich durch den Raum schritt und mich zu ihm an den Tisch setzte.
„Good afternoon“, begrüßte ich ihn. „Sie haben wohl auch kein Auge zu getan, heute Nacht?“
„Nein, habe ich nicht und wenn ich ihnen erzähle was mir heute Nacht widerfahren ist werden sie diese Nacht auch kein Auge zu machen.“
„Glauben Sie mir, da gehört schon einiges dazu mich um meinen Schlaf zu bringen aber erzählen sie doch bitte“, forderte ich ihn auf.
„Als ich gestern nach Hause gelaufen bin, hatte ich die ganze Zeit schon das Gefühl verfolgt zu werden“, berichtete er. „Ich habe mich deshalb mehrere Male in Haueingänge versteckt und auf Verfolger gewartet, doch entweder waren sie zu clever oder ich bildete mir nur ein verfolgt zu werden. Jedenfalls kam ich zu Hause an, ohne eine einzige Gestalt entdeckt zu haben, in der Tat war es schon recht unheimlich niemanden in den Gassen zu begegnen, da diese normalerweise recht bevölkert waren.“
Selwig machte eine kurze Pause und nippte an dem Tee, den er sich bestellt hatte.
„Jedenfalls war ich recht verunsichert und verschloss meine Türe zweimal“, fuhr er fort. „Meine Frau fragte mich, was los sei, doch ich wollte sie nicht beunruhigen und sagte ihr ich hatte einen schweren Tag und wollte heute nicht mehr vor die Türe gehen. Nach einem kleinen Abendessen saßen wir noch zusammen in unserer Stube und sie berichtete mir, was sie an diesem Tag gemacht hatte, doch meine Gedanken waren, wo ganz anders und ich hörte ihr nicht zu. Das führte zu einem kleinen Streit und meine Frau beschloss frühzeitig zu Bett zu gehen“, Selwig zuckte mit den Schultern.
„Jedenfalls“, seufzte er, „verleitete mich dies wohl etwas zu tief in das Glas zu schauen und mich am Bier zu betrinken.“
Ein weiteres Mal machte er eine Pause und nippte an seinem Tee. Eine Bedienung war in der Zwischenzeit erschienen und ich hatte ebenfalls einen Tee und etwas Gebäck bestellt und so tat ich es ihm gleich und verbrannte mir auch gleich die Lippe.
Selwig fuhr fort zu erzählen: „Ich muss wohl eingeschlafen sein, denn ich wachte mitten in der Nacht, zusammengesunken am Tisch auf und die Kerze, die mir bis dahin Licht spendete, war heruntergebrannt und erloschen. Tastend suchte ich mir meinen Weg zum Schlafzimmer, öffnete die Türe und wäre vor Schreck fast gestorben. Jemand war durch das weit offen stehende Fenster in das Zimmer eingedrungen und beugte sich gerade über meine im Bett schlafende Frau. Ich konnte diese Gestalt im, das durch die Fenster einfallende, fahle Mondlicht ausmachen. Noch ohne lang darüber nachzudenken, ergriff ich den Hals meines auf meinem Betttisch stehenden Kerzenhalters und ging auf den Eindringling los. Doch durch den Alkohol in meinem Blut waren meine Sinne zu benebelt, um wirksam gegen die Gestalt vorzugehen und so schleuderte diese mich gegen die Wand und verschwand blitzschnell wieder durch das Fenster. Meine Frau war von dem Krach natürlich aufgewacht und schrie nun voll Schrecken, da sie mich für den Eindringling hielt.“
Wieder nahm sich Selwig eine Atempause und ich konnte an seinem Gesicht deutlich erkennen, dass es ihm Mühe bereitete über den Vorfall der Nacht zu sprechen.
Ich knusperte an meinem Gebäck.
„Am nächsten Tag untersuchte ich mein Schlafzimmer nach Spuren des nächtlichen Überfalls und tatsächlich fand ich etwas, was mich in Erstaunen versetzte.“
Selwig kramte in der Innentasche seines Jacketts und zog nach einer Weile etwas hervor, was mir sehr bekannt war und bei dessen Anblick mir abermals der Schweiß ausbrach. Er legte die Geierfeder auf den Tisch und schaute mich fordernd und fragend an. Da ich keine passende Antwort wusste, kramte auch ich in meiner Jacke und legte meine Feder neben die Seine. Als ob dieses Rätsel noch nicht komplett war, konnte man deutlich sehen, dass es sich um ein und dieselbe Feder handelte, welche nun doppelt vor uns auf dem Tisch lag und ich bin mir sicher, hätte man diese Federn unter dem Mikroskop verglichen, man hätte keinen einzigen Unterschied feststellen können.
Schweigend auf die Federn starrend und unseren Tee kalt werden lassend saßen wir noch eine ganze Weile in dem Bistro. Der Bedienung, der unser Verhalten schon langsam merkwürdig vorkommen musste, riss uns schließlich aus unseren Gedanken.
„May I serve you anything else, gentlemen?“
„No, thank you“, antwortete ich. „The bill, please.“
Nachdem wir gezahlt hatten, liefen wir weiterhin schweigend und ohne Ziel durch die Gassen des abendlichen London. Ich machte mir Gedanken über die Vorkommnisse und dachte darüber nach, wer wohl dahinter steckte, an einen Zufall oder an ein übersinnliches Ereignis konnte ich nach dem Bericht von Selwig nicht mehr glauben, es mussten Menschen dahinter stecken. Doch der Sinn des Ganzen blieb mir weiterhin verschlossen.
„Haben sie von der Afrikaausstellung gewusst?“, fragte ich schließlich.
„Ich habe es in der Zeitung gelesen.“
„Ich habe die Ausstellung heute Morgen besucht und festgestellt, dass dort nicht nur Zeugnisse der Afrikanischen Kultur ausgestellt werden sondern auch Pflanzen aus Afrika und ich würde mich nicht wundern, wenn die Erde in die diese gepflanzt wurden nicht auch aus Afrika stammt. Sie können sich doch noch erinnern was ich über das Ritual erzählte, welches damals in Afrika durchgeführt wurde und das ich mich frage, wo sie die Füße vergraben wollen?“
Selwig nickte.
„Nun, dies wäre eine Möglichkeit, doch bei meinen Nachforschungen wurde ich leider von einem der Wächter gestört, einem Afrikaner.“
„Das alles könnte dann doch noch einen Sinn ergeben“, grübelte Selwig.
„Ob es einen Sinn ergibt, da bin ich mir noch nicht so sicher, aber wir können vielleicht wenigstens die Handlung nachvollziehen und haben ein paar Verdächtige, sollte sich mein Verdacht als wahr erweisen.“
„Und was haben sie vor?“
Ich blieb stehen und schaute meinem Begleiter in die Augen um die Ernsthaftigkeit meiner Aussage zu unterstreichen.
„Ich habe mich gefragt, ob es nicht möglich sei bei Nacht einmal in das Gebäude zu kommen. Das würde die Untersuchung erheblich vereinfachen.“
Selwig blicke zu Boden, dachte einen Moment nach und nickte schließlich.
„Ich werde sehen, was ich da machen kann. Wenn ich etwas Genaueres weis treffe ich sie im Hotel. So lange wünsche ich ihnen alles Gute und passen sie auf sich auf.“
Mit diesen Worten schüttelte er mir die Hand zum Abschied und machte sich in die einbrechende Nacht davon.
Ich kehrte in mein Hotel zurück.

Es dauerte ganze drei Tage, in denen ich mich ganz in meine Bücher vertiefte und anfing diesen Bericht zu schreiben, bis mir Selwig endlich eine Nachricht zukommen ließ.
„Treffen sie mich heute Abend gegen 9pm in St. Pauls“, stand knapp auf dem vergilbten Stück Papier, welches offensichtlich aus einem Notizbuch herausgerissen worden war. Es war nicht ganz Selwigs Art mir einfach eine Nachricht zukommen zu lassen doch er wusste in der Regel was er tat und warum und so verließ ich mich auf ihn und machte mich nach dem Abendessen auf den Weg nach St. Pauls.
Den Kutscher, der mich dorthin brachte, wies ich an mich einige Straßen entfernt abzusetzen. Ich wollte den Rest der Strecke laufen und mich vergewissern, dass ich nicht verfolgt werde, noch immer den erschreckenden Bericht Selwigs im Hinterkopf habend. Die Abende waren die letzten Tage noch einmal deutlich kühler geworden und so kam ich frösteln an dem mächtigen Bauwerk an. Die Hauptpforte der Kathedrale war verschlossen doch einer der Nebeneingänge war die ganze Nacht geöffnet und lud die Gläubigen ein, zu beten. Ich fand Selwig in einer der hintersten Reihen, im Schatten einer der mächtigen Säulen. Er betete offensichtlich, denn er kniete und hatte seine Augen geschlossen und ich fing an mir Sorgen zu machen. Leise setzte ich mich neben ihn auf die Bank.
Wenig später beendete er sein Gebet mit dem Kreuzzeichen und setzte sich ebenfalls.
„Good Evening“, grüßte ich ihn.
„Good Evening, Mr. Schweizer.“
„Hat es einen besonderen Anlass, wieso wir uns hier treffen?“
„Allerdings. Ich habe herausgefunden, dass die Räume, in denen sich die Afrikaausstellung befindet der Englischen Kirche gehört und, dass der Küster von St. Pauls die Schlüssel zur Hintertür verwaltet. Um es kurz zu machen, er wird uns in wenigen Minuten abholen und in das Gebäude lassen. Wir haben dann die ganze Nacht Zeit uns dort umzusehen. Er wird uns dort kurz vor der Morgenandacht wieder abholen und bitte fragen sie mich nicht, wie ich ihn dazu überreden musste.“
Ich fing an zu grinsen und war ein weiteres Mal erstaunt, über welche Kontakte dieser Mann in London verfügte, dass er dem Küster von St. Pauls einen Gefallen abringen konnte.
„Da kommt er“, stoß mich Selwig an und schickte sich an aufzustehen.
Der Küster hatte einen dunklen Umhang umgeworfen, der seine offensichtlichen Zeichen verdeckte, begrüßte uns kurz und drehte sich umgehend den Ausgang zu. Schweigend folgten wir.
Draußen hatte es mittlerweile angefangen leicht zu schneien und so schritten wir schweigend durch die weiße Flockenpracht. Der Küster führte uns durch einige Hinterhöfe, die keine offensichtliche Verbindung zu den Gassen hatten, bis an die Rückseite des Gebäudes, in dem sich die Ausstellung befand. Zielsicher schritt er auf eine schwere, mit Eisen beschlagene Tür zu und schloss diese mit einem langen Schlüssel auf. Protestierend öffnend zeigte sich schließlich einen schmalen Gang und eine weitere Türe. Der Küster gab uns zu verstehen, wir sollen in das Gebäude gehen und verriegelte die Türe umgehend, als wir in den Gang getreten waren. Zweimal hörte ich das Schloss klacken und wir waren eingesperrt.
Selwig zauberte aus seinem Umhang zwei kleine Petroleumleuchten hervor welche er nun entzündete. Wir schritten zur Türe und öffneten diese, dahinter erstreckte sich der Eingangsbereich der Ausstellung. Wir dämpften unsere Lampen und gingen in die eigentliche Ausstellung, vorsichtig darauf bedacht keine Exponate umzustoßen.
„Wie wollen wir vorgehen?“, fragte mich Selwig, als wir den ersten Raum betraten.
Auch ich hatte mich vorbereitet und zog nun zwei Stricknadeln aus der Jacke, die ich der netten, alten Dame aus der Lobby für einen Abend abgeschwatzt hatte. Eine reichte ich Selwig, der sie mit ahnendem Blick entgegen nahm.
„Ich würde vorschlagen wir kämpfen uns Raum für Raum vorwärts und bleiben zur Sicherheit zusammen. Achten sie auch auf lockere Erde, wenn der Topf tiefer ist als diese Nadeln hier.“
Schweigend machten wir uns an die Arbeit. Die Töpfe im ersten Raum waren alle klein genug so, dass wir sie mit den Nadeln untersuchen, könnten aber schon im Zweiten gab es einige die deutlich größer waren. Wir suchten daher nach einem Gefäß, in welches wir kurzfristig die Erde aus den Töpfen schaufeln konnten, und wurden in Form eines Löscheimers fündig. Es stellte sich als mühsam heraus die Erde nur mit Hilfe der Hände und der Stricknadeln aus den Töpfen zu graben und ich war mehr als nur einmal in Versuchung geraten nicht einfach eine der zahlreichen Exponate als Schaufel zu missbrauchen. Schwitzend und mit schmerzenden Gliedern arbeiteten wir uns Raum für Raum vorwärts, ohne Erfolg.
Wir wühlten uns gerade durch die Kübel eines Raumes, welcher durch und durch mit farbenprächtigen Schildern behangen war, als ich eine Bewegung, einen Schatten wahrnahm, der durch meinen Augenwinkel huschte. Erschrocken schnellte ich auf und leuchtete den Raum mit meiner Lampe aus. An einem der beiden Ausgänge blitzen mir die weißen Augen eines offensichtlich dunkelhäutigen Mannes entgegen, der am ganzen Körper bemalt war und in seiner rechten ein Speer hielt.
Auch Selwig war durch meine plötzliche Bewegung in Alarmzustand versetzt worden und hatte sich zum Eingang gedreht.
Ich merkte, wie mein Körper sich anspannte und ich zunehmend nervöser wurde und als sich die Gestalt schließlich langsam auf uns zu bewegte, brach mir der Schweiß erneut aus. Nicht nur der Mann mit dem Speer ging langsam auf uns zu, durch den Eingang strömten immer mehr Afrikaner in wilder Kriegsbemalung in den Raum, einige waren bewaffnet. Auch Frauen und sogar einige Kinder waren unter der Menge, die stetig den Raum füllten und mich und Selwig in ihre Mitte drängten. Schließlich war der Raum mit über fünfzig, grimmig drein blickenden Gestallten gefüllt und der Mann mit dem Speer stand mir keinen halben Meter, Auge in Auge gegenüber. Alle schwiegen und ich konnte die Spannung die nun herrschte auf meiner Haut fühlen, sie kribbelte.
Endlich erkannte ich den Mann, der vor mir stand, es war der Wächter, der mich in meinen Untersuchungen gestört hatte. Auch er hatte mich erkannt oder kannte mich schon länger, denn ich hatte keinen Zweifel mehr das auch er es war der mir und Selwig den nächtlichen Besuch abstattete an dem Tag, an dem wir die Leiche des Kindes besuchten.
„Sie müssen unsere Kultur verstehen“, sprach er mich an und ich zuckte auf Grund der unerwarteten Worte zusammen. „Wir sind zwar nicht in Afrika aber wir tragen Afrika in unserer Seele und müssen so handeln, wie wir in Afrika handeln würden.“
„Aber wofür?“, wollte ich wissen.
„Unser Volk leidet. Wir haben die Möglichkeit wieder dorthin zurück zu kehren, woher wir gekommen sind aber viele von uns leben nun hier und leiden.“
„Auch viele weiße die in den Fabriken arbeiten haben kein …“, wollte ich erwidern doch der Mann unterbrach mich.
„Nein!“, sagte er ruppig. „Wir sind Abschaum, ein Ausstellungsstück, keine richtigen Menschen in den Augen der weißen Rasse. Sie töten uns durch ihre Scheiße. Die Reichen der Stadt vergiften den Fluss durch ihre Fäkalien und töten dadurch uns, die wir in den ärmsten Vierteln der Stadt hausen, in dreckigen kleinen Häusern am Fluss. Viele sind schon durch Krankheiten und Seuchen gestorben, viele werden noch sterben und es wird Zeit etwas dagegen zu tun.“
„Aber ein Kind zu töten ist sicher nicht der richtige Weg.“
„Es geht nicht um das Kind, es hat sich freiwillig geopfert um seine Schwestern und Brüder zu helfen.“
„Das ist doch Unsinn“, herrschte ich ihn an, „und das wissen sie! Ich war in Afrika und ich habe solch ein Ritual schon einmal erlebt. Ich konnte keine Freude in den Augen des Kindes sehen und die Tränen der Mutter, die sich anschließend das Leben nahm, zeigte keinen Hauch Stolz oder Verständnis.“
Der Mann schüttelte den kahlen Kopf.
„Das verstehen sie nicht“, beharrte er.
„Und was soll sich ändern? Die reichen Weißen werden wegen eines Mordes nichts ändern. Im Gegenteil, wenn das an die Öffentlichkeit kommt, werden sie noch mehr als Wilde und Barbaren gelten, die ihre eigenen Kinder schlachten.“
„Sie werden sehen“, prophezeite er mir, dann traf mich etwas am Hinterkopf und es wurde Nacht.

Als ich wieder erwachte befand ich mich zu meiner Verwunderung in einem Zugabteil, draußen war es schon hell. Ich schreckte hoch, bereute dies aber gleich darauf. Mein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung und als ich mit der Hand meinen Hinterkopf betastete fand ich dort eine große, kräftige Beule und etwas verkrustetes Blut.
Langsam schaute ich mich in meinem Abteil um. Ich war alleine und auf dem Sitz neben mir lag ein Briefkuvert. Zögernd griff ich nach ihm, öffnete es und las den Brief, der sich darin befand.
„Es tut mir Leid Mr. Schweitzer“, es war Selwigs Schrift. „Wir haben es für besser befunden, wenn sie London verlassen. Sie befinden sich in einem Zug Richtung Dover. Eine Überfahrt nach Calais ist bereits bezahlt und das Ticket liegt diesem Umschlag bei. Ihr Gepäck wird ihnen innerhalb einiger Tage nach Würzburg nachgeschickt, es tut mir Leid, wenn sie einige Tage auf ihre Bücher verzichten müssen. Mumando lässt sie grüßen und wünscht sich sogar sie eines Tages in seiner Heimat begrüßen zu dürfen.
Wenn sie sich wundern wieso ich das tue so muss ich ihnen sagen, ich habe Angst um meine Frau. Man hat mir klar zu verstehen gegeben, dass auch ich mich nicht weiter in die Sache einmischen solle, wenn mir mein und das Leben meiner Frau lieb sei. Ich nehme diese Drohungen sehr ernst, vertraue aber auch auf das Wort des Afrikaners.
Mit besten Grüßen, Mark Selwig.“
Ich seufzte und lehnte mich in die weiche Lederbank des Abteils zurück.

Noch einmal wurde ich an den Vorfall in London erinnert. Es war im Sommer des Jahres 1858 und die Zeitungen titelten ‚In London stinkt es zum Himmel’. Das Englische Parlament, welches direkt an der Themse lag, hatte fluchtartig das Gebäude verlassen und weigerte sich die Amtsgeschäfte wieder aufzunehmen, denn die Abwässer hatten die Themse soweit verschmutzt, dass der Gestank auch nicht mit dem besten Parfum vertrieben werden konnte. Im selben Jahr wurde auch ein Gesetz zum Schutz der Themse erlassen, es sollte aber noch fast ein Jahrhundert dauern bis sich der Fluss wieder regeneriert hatte.

 

Ich habe die Geschichte schon vor einigen Tagen gelesen, komme aber leider erst heute dazu, eine Kritik zu schreiben.

Die Geschichte hat mir gefallen. Sie ist einigermaßen spannend und besitzt Atmosphäre und läßt sich trotz zahlreicher Stoplersteine gut lesen.

Soviel zum Lob, nun zur Kritik: Wie lange hast Du die Geschichte überarbeitet? Sehr gründlich ist die Überarbeitung auf jeden Fall nicht ausgefallen.

Als Beispiel der erste Abschnitt:

"Später wird dieses Jahr einmal als "The Year of the Great Stink" eingehen und schon heute konnte man erahnen warum. Seit einigen Jahren, um genau zu sein seit der Erfindung der modernen Toilette, gelangten die Abwässer vieler Londoner unbehandelt in die Themse und verleihten Ihr dadurch eine ganz besondere Note. Ich habe mich schon einige Male gefragt, was an einer Erfindung modern sein soll, die es innerhalb weniger Monate geschafft hat einen Fluss zum Sterben zu bringen?"

The year of the great stink -> Schreib deutsch oder englisch, aber wechsle nicht zwischen den Sprachen. In dem Fall hier versteht es wohl noch jeder, doch später hast Du kurze Dialoge in Englisch eingefügt, und um diesen zu folgen versteht nicht jeder die Sprache gut genug.

verleihten -> verliehen

Grammatik -> Ich bin kein Spezialist in Sachen Grammatik, aber sogar ich erkenne, das in keinem der drei Sätze des ersten Abschnitts die Kommata stimmen. In den ersten beiden gehört eines vor das und, im dritten eines hinter das hat.

Charakterzeichnung -> Wie sich im Verlauf der Geschichte herausstellt, ist der Erzähler ein weit gereister, gebildeter Mann. Als solcher sollte er die Segnungen des modernen Sanitärwesens kennen. Die Frage am Ende des Abschnitts läßt ihn aber naiv erscheinen, da er die Abwasserentsorgung insgesamt in Frage stellt. Als gebildeter Mann sollte er aber wissen, das die Menschen im Mittelalter ihren Abfall einfach aus dem Fenster geworfen haben, was ganze Städte zu einer stinkenden Kloake gemacht hat. Formuliere die Frage so um, das sie entweder zynisch klingt, oder aber explizit auf die negativen Auswirkungen der Abwasserentsorgung gerichtet ist.

Die ganze Geschichte wimmelt von kleinen Grammatikfehlern oder schlecht formulierten Stellen - Stolpersteinen eben. Wenn Du die noch ausbügeln kannst, wird die Geschichte richtig gut.

Eines muß ich aber noch bemängeln - und zwar, das die Geschichte in Historik steht. Ganz sicher spielt sie in einer historischen Epoche, doch wirklich historisch im Sinne der Forumregeln ist sie meiner Ansicht nach nicht! Sie würde eher in die Rubrik Spannung passen, wenn Du den Teil mit den Afrikanern und ihrem Gefühl, aufgrund ihrer Hautfarbe nur Abschaum, Bürger zweiter Klasse zu sein, besser ausarbeitest, sogar in die Gesellschafts-Rubrik.

Kane

 

Hallo Kane,

zuerst einmal vielen Dank für deine Kritik. Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat, auch wenn sie, wie du sagst, Stolpersteine enthält.

Lass mich erst einmal deine Frage beantworten, ich habe diese Geschichte in einem Zeitraum von 3 Tagen geschrieben, wobei die ersten 3 Abschnitte bereits ein halbes Jahr zuvor entstanden sind, und anschließend ein paar Mal überlesen. Bevor ich sie online setzte, habe ich sie zudem noch von 2 Freunden durchschauen lassen.

Das ich nicht zwischen zwei Sprachen wechseln sollte sehe ich ein, den feststehenden Begriff „The Year of the Great Stink“ würde ich aber trotzdem nicht sofort übersetzen, vielleicht in einem Nebensatz.

Wieso der Text nicht in Historik passt, verstehe ich allerdings nicht. Die Rahmenhandlung ist ein definiertes, historisches Ereignis in der die Geschichte spielt. Ich habe versucht mich an die Fakten der Zeit zu halten und bei jedem Punkt, dem man nachforschen könnte rechergiert, um möglichst wenig Unstimmigkeiten zu erzeugen.
Das Du die Geschichte in Spannung oder sogar Gesellschaft stecken würdest freut mich aber ich denke auch eine historische Geschichte darf spannend und kritisch sein.
Wenn die Moderatoren da andere Meinung sind, darf man sie aber gerne verschieben.

Sebastian

 

auch mir ist die story schon vor tagen ins auge gefallen, gerade weil ich ein faible für das 19. jahrhundert habe, wahrscheinlich.
ich war von der geschichte nun ehrlich beeindruckt. es muss tatsächlich sehr viel exakte recherchearbeit dahinterstecken, und zudem hast du noch ein sehr gutes gespür für den spannungsaufbau, die infos sind auch sehr gut "portioniert" und geschickt eingewoben (z.b. im traum).
was mich nur störte, waren die vielen fehlenden kommata. das lässt sich wiederum leicht hinbiegen.

tinwoman

 

Hallo Malter,

Grammatik-Kritik wurde Dir ja schon genug erteilt, wobei ich sagen muss, dass ich meinen "Vorschreibern" recht geben muss. Nun zu Deiner Geschichte: Sie ist sehr flüssig geschrieben. Du hast eine gute Spannung aufbauen und sie auch halten können. Allerdings finde ich das Ende etwas abrupt und ich habe auch nicht ganz verstanden wer dieser Herr Schweizer eigentlich war (ausgenommen, dass er Deutscher und ziemlich intelligent ist). Warum hat Mr. Selwig ausgerechnet ihn zu Rate gezogen oder habe ich gar diese Passage überlesen. Aber ansonsten eine rundum gute Geschichte.

Gruß Chrisstories

 

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