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Luxus-Leben
Vom Wind in Ecken verwehtes Herbstlaub, hier liegt es nun, durchnässt vom nächtlichen Regen. Über einem Stapel Feuerholz hängt eine weiße, angeschmutzte Abdeckplane. Auf ihr sind ockerfarbene Dreiecke verstreut, die Flügel von Motten, eine Fledermaus hat ihre Opfer gefunden.
Ein Holzbohlenweg führt mich hinunter zur Brücke. Vor zwei Wochen ist dort ein Lastwagen ins Schleudern gekommen. Er durchbrach die Brüstung und stürzte in den reißenden Fluss. Dem Rettungsdienst gelang es noch, den Fahrer zu retten, doch zwei der Helfer ertranken, als das Fahrzeug plötzlich von der Strömung fortgerissen wurde. Nutzen, Kosten.
Ich lehne mich an das Brückengeländer. Man hat neue Pfosten eingesetzt. Grauer Beton. An der Wetterseite schimmert er bereits grünlich, es wird nicht mehr lange dauern, bis sich das Aussehen dieser Pfosten dem der anderen angeglichen hat. Wie harmlos der Fluss jetzt aussieht. Abendnebel zieht auf. Drüben, die Häuser der Stadt, immer mehr Fenster werden hell erleuchtet. Das große Gebäude dort, das Krankenhaus. Fast drei Monate lang hat eine Frau hier um ihr Leben gekämpft, bis sich endlich ein passender Knochenmarksspender fand. Sie überlebte. Glocken beginnen zu läuten. Man kann den Kirchturm nicht sehen, ein Bankgebäude verdeckt seine Silhouette. Eigentlich ist es Zeit für ein Abendgebet. Danksagung. Es wird gestorben und geboren, gelebt und überlebt. Unter mir rauscht der Fluss. Vielleicht ist er lebendig, streichelt die Felsen? Spricht er glucksend mit ihnen? Sie liegen einfach da - genügt das denn nicht?
Kälte, Hitze, Wasser. Langsamer Zerfall, selbst der Steine. Irgendwann, irgendwo, angeschwemmt, erneut verfestigt, gehoben. Seelenlos Berge formend. Ein faszinierendes Linien- und Farbenspiel, welches niemand beachtet und das deshalb als Wahrheit nicht existiert. Dem Unendlichen ist alles gleichgültig, selbst die Gleichgültigkeit. Zeit verrinnt unermesslich, ungemessen - welche Verschwendung! Wahrscheinlich rührt sich im Verborgenen schon das Leben, besetzt Ritzen und Spalten. Zwanghaft Gesetzen gehorchend läuft dieser Prozess ab, ohne Ziel. Launenhaft, diese unsinnige, variable, kosmische Schaumschlägerei. Vergängliche Gestalt, Bewegung, lockende Rufe in kaleidoskopartigem Wechsel. Vielleicht agiert aber auch der unbegreifliche Drang dem Chaos Ordnung aufzuzwingen. Schließlich steht ein Mensch auf dieser Brücke, das Leid als Preis des Lebens durchdringt sein Glück, dessen Ende unausweichlich ist.
Sinnbewusstes Denken - Sieg oder Verblendung?
Es wird kalt. Ich gehe weiter. An der Weggabelung steht ein Pärchen in zärtlicher Umarmung. Bevor sie mich bemerken können, biege ich ab. Wie beruhigend, ja erheiternd, dass sie nichts von mir wissen.