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- 09.12.2019
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Maon
Wie jeden Morgen beteten Rebekka und Paul mit ihren Kindern. Die Sonne schien durch die Küchenfenster, erwärmte den Raum. Kaum war das Gebet beendet, griffen Magda und Klemens in den mit Brötchen und Brot gefüllten Korb.
„Hey, gib es her!“, rief Magda, als ihr Bruder das Brötchen nahm, das auch sie haben wollte.
„Es sind genügend andere da“, sagte Rebekka.
„Aber ich wollte …“
„Magda!“ Paul sah sie an.
„Immer kriegt er das größte!“ Sie griff sich ein anderes Brötchen und schnitt es schmollend auf.
„Wenn ihr so weiter macht, nehme ich euch wieder aus der Schule und zurück geht’s in den Kindergarten.“ Rebekka fischte sich eine Scheibe Brot aus dem Korb und bestrich sie mit Butter.
Sie aßen einige Minuten schweigend.
„Ich fahre gleich raus. Sie sind nicht mehr weit entfernt und ich möchte es erledigt haben. Klemens kann mitkommen“, sagte Paul.
„Kannst du es nicht anderen überlassen?“, fragte Rebekka.
„Das hatten wir doch schon, du weißt …“
„Nichts weiß ich. Niemand in Maon kümmert sich noch um die Gefahr. Du wirst es ja schon erledigen.“
„Dann sprich es bei der nächsten Versammlung an. Ich mache solange meine Arbeit. Bist du bereit, nach dem Frühstück?“, fragte er seinen Sohn.
Klemens sah seine Mutter an. Sie richtete ihren Blick auf den Teller und aß, ohne ihn zu beachten.
„Klar. Was soll ich mitnehmen?“
„Ich werde schon alles dabei haben. Nun frühstücke erst mal.“
„Warum darf ich nicht mit?“, wollte Magda mit vollem Mund wissen.
„Weil du erst in der dritten Klasse bist. Außerdem nehme ich niemanden mit, der mit vollem Mund spricht.“
"Hast du die Blicke bemerkt, als wir das Dorf verließen?", fragte Klemens.
"Ja, das geht schon einige Zeit so. Wenn sie ein Problem haben, sollen sie es sagen. Solange mache ich weiter."
„Können wir uns anstecken?“ Klemens Pferd trabte neben dem seines Vaters über das vertrocknete Gras.
„Nein. Das hat schon zur Zeit meiner Eltern aufgehört. Eigentlich waren alle überzeugt, dass es vorbei ist. Erzählt man euch so etwas nicht in der Schule?“
„Bisher nur wenig, aber ich glaube, bald in der Oberstufe wird es mehr.“
„Na, immerhin. Dann siehst du gleich zum ersten Mal die Mutanten aus der Nähe. Du darfst sie nie unterschätzen, trotz ihrer Langsamkeit. Sobald sie dich erwischen, kann es schnell vorbei sein.“
Klemens blickte zum Horizont, der Waldrand kam in Sicht. „Okay."
Schon als sie sich den Mutanten näherten, erkannte er ihre grotesk angeschwollenen Körper. Die Gesichter, der ganze Kopf deformiert wie nach einem Boxkampf. Keine Hände, sondern Pranken mit aufgerissener Haut. Ein lederner, aber auch beißender Geruch kam ihnen entgegen, nach Schweiß und Urin. Die Gruppe bestand aus vier dieser Kreaturen. Sie hatten einen Hirsch erlegt, kurz hinter der Baumgrenze. Rissen ihn auseinander und fraßen. Er und sein Vater hielten gut zwanzig Meter entfernt und stiegen ab.
„Wir gehen noch etwas näher, dann werde ich sie nacheinander erschießen. Wahrscheinlich werden sie nicht reagieren und einfach weiter fressen. Falls sie doch auf uns zukommen, gehen wir rückwärts und ich schieße weiter.“ Paul blickte Klemens an. „Verstanden?“
„Ja.“
Er nahm das Gewehr, das er seitlich an der Satteltasche angebracht hatte und prüfte die Munition.
„Okay. Dann los.“
„Darf ich helfen?“, fragte Magda. Die Küche duftete nach frischem Obst. Erdbeeren, Pfirsiche, Äpfel. Und Ananas, ihre Lieblingsfrucht.
„Bin fast fertig, aber du kannst noch die restlichen Früchte für den Obstsalat schneiden. Aber Vorsicht mit dem Messer!“, antwortete Rebekka.
Magda setzte sich zu ihr an den Tisch. Sie gab ihr das Messer mit dem Griff voran und schob ihr das Schneidebrett zu. Und lächelte, wie jedes Mal, wenn ihre Tochter hochkonzentriert etwas erledigte, sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ.
Rebekka wollte gerade aufstehen, sich die Hände waschen, als ihre Tochter fragte: „Darf ich die Mutanten auch mal sehen?“
„Ich hoffe, dass wir sie irgendwann … vertrieben haben.“ Sie blickte aus dem Fenster. „Sie sind nicht schön, weißt du?“
„So wie mein Klassenlehrer?“
Rebekka lächelte. „Nicht ganz.“
„Vielleicht sind Sie ja traurig, weil niemand sie mag?“ Magda war mit den Erdbeeren fertig und nahm einen Pfirsich. „Wo kommen sie her?“
Rebekka sah weiter gedankenverloren hinaus. Keine Wolken am Himmel, ihnen stand wieder ein heißer Tag bevor. „Zur Zeit deiner Großeltern gab es eine Epidemie, die Viren … wir dachten, es wäre vorbei, aber viele Menschen verloren noch ihr Leben. Manche davon … niemand kann es bis heute erklären, aber sie begannen wieder zu leben. Nur ihre Seele war schon woanders.“
„Das ist traurig. Sie tun mir leid.“ Das Messer klackerte auf dem Brett.
„Mach dir mal nicht so viele Gedanken, sie können hier nicht hin. Du kannst mir gleich beim Einkauf helfen.“
„Auch Schokolade?“
Sie hob die Augenbrauen. „Mal sehen!“
Der erste Schuss traf einen der Mutanten in die Schläfe. Er fiel zur Seite und blieb zuckend liegen. Die drei anderen fraßen weiter, als wäre nichts passiert. Nacheinander traf Paul auch sie in den Kopf. Er und Klemens näherten sich vorsichtig.
„Bleib hinter mir“, sagte Paul. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, schoss er den Mutanten erneut in den Kopf. Auch der zitternde lag nun regungslos. „Sicher ist sicher.“ Er legte das Gewehr ab und nahm das große Jagdmesser aus dem Gürtel.
„Was hast du vor?“, fragte Klemens.
„Wir nehmen den Teil des Hirsches mit, an dem sie nicht gefressen haben.“ Er kniete sich vor das Tier. Zwei seiner Beine waren ausgerissen, auch von Kopf und Hals war kaum noch etwas zu erkennen.
Klemens sah nur kurz zu, drehte sich um und ging zurück. „Ich warte bei den Pferden.“
„Beim nächsten Mal bist du dran!“, rief ihm Paul hinterher.
Als er gerade bei den Pferden angekommen war, schrie sein Vater. Klemens fuhr herum. Der Schrei ging in ein Gurgeln über. Ein Mutant umgriff mit seiner Pranke das Gesicht seines Vaters und zog ihn an sich. Biss ihm in die Seite des Halses, Blut strömte aus der Wunde. Er musste aus dem Wald gekommen sein, zuvor nicht zu sehen durch die dicht stehenden Bäume.
Klemens war für einige Sekunden wie gelähmt, bis er schließlich zum Gewehr lief. Hände und Arme zitterten, als er es aufhob und anlegte. Er traute sich von hier aus keinen Schuss zu und ging schnellen Schrittes zu dem Mutanten, wäre fast gestolpert. Hielt ihm den Lauf an den Kopf. Sein Finger zuckte so stark, dass er kaum den Abzug betätigen konnte. Mit letzter Willenskraft gelang es ihm, der Schuss durchdrang die Stille. Die Kreatur ging wie ein nasser Sack zu Boden.
Sein Vater fiel nach vorne gegen ihn. Er ließ das Gewehr fallen und legte ihn vorsichtig auf die Seite. Zog sein eigenes Hemd aus und drücke es auf die Wunde. Tränen schossen ihm in die Augen. Pauls Lider zuckten, er versuchte etwas zu sagen.
„Nicht“, sagte Klemens. „Es wird gut werden und …“ Zu spät bemerkte er die Bewegung, so sehr war er auf seinen Vater konzentriert. Der Mutant hatte sich zu ihm gezogen und biss ihm in den Arm, in dem er das Hemd hielt. Zähne gruben sich durch sein Fleisch, erreichten den Knochen. Klemens schrie auf, schlug instinktiv auf den Kopf des Angreifers ein. Es fühlte sich an, als würde er einen weichen Ball treffen. Sein Körper begann zu zittern. Gerade noch schaffte er es, das Gewehr zu greifen und damit nach dem Gesicht zu schlagen.
Der Mutant wich zurück. Klemens stieß sich mit den Beinen weg und versuchte einhändig mit dem Gewehr zu zielen. Es gelang ihm kaum, es hochzuheben. Die Kreatur machte sich erneut über seinen Vater her. Bevor Klemens etwas unternehmen konnte, riss sie einen Teil seines Halses heraus.
„Das ist der beste Obstsalat überhaupt!“, rief Magda.
„Da kannst du sicher sein. Hol mal deinen Rucksack, dann können wir …“
„Rebekka!“, schrie jemand vorm Küchenfenster.
Sie sah hinaus. Ihr Nachbar stand draußen und rief erneut ihren Namen. „Was ist los?“, fragte sie, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte.
„Komm zum Stadttor, sofort! Bring deine Arzttasche mit, es ist etwas passiert.“
„Wovon redest du, was …“
„Sofort!“, wiederholte ihr Nachbar und lief davon.
„Bleib zurück“, sagte Rebekka zu Magda.
Sie lief zu ihrem Sohn, er lag vorm Stadttor auf dem Boden. Sein Arm blutete oberhalb des Ellenbogens. Eins der Pferde stand nicht weit entfernt. Nur eins. Nirgendwo sah sie Paul. Eine Frau aus ihrer Nachbarschaft drückte ein Handtuch auf die Wunde.
Mit zitternden Händen öffnete sie die große Tasche und kniete sich neben Klemens. Fühlte sich, als würde sie sich selbst von außen betrachten. Wie sie den Arm unterhalb der Schulter abband. Ihrem Sohn eine Spritze gab. Nach einigen Sekunden das Handtuch hob, mein Gott flüsterte und sich direkt wünschte, es zurücknehmen zu können.
Sie drückte das Handtuch wieder auf die Wunde und sah ihren Nachbarn an, der neben ihr stand. „Holen Sie die Säge aus meinem Behandlungszimmer. Es ist offen. Los!“, zischte sie und hoffte, dass Klemens es nicht gehört hatte.
Rebekka blickte sich um und zählte knapp vierzig Trauergäste. Normalerweise kamen alle gut dreihundert Einwohner Maons zu einer Beerdigung. Es gab kaum jemanden, dem Paul nicht schon mal geholfen hatte.
Die Luft war aufgeladen, ein Gewitter zog auf. Magda stand neben ihr. Klemens saß als einziger, sein Armstumpf unter dem schwarzen Hemd versteckt. Das Gesicht bleich und regungslos.
Obwohl die meisten auf den Sarg starrten, spürte sie immer wieder anklagende Blicke.
„Für den letzten Punkt der Tagesordnung gebe ich das Wort an Rebekka Wehner“, sagte der Bürgermeister. Die Versammlungshalle war voll, alle Maoner waren erschienen.
Rebekka stieg auf das kleine Podest mit Rednerpult. Sah mit ruhigem Blick möglichst vielen in die Augen.
„Ich danke euch für die Anteilnahme. Paul hat Maon immer als seine Heimat betrachtet. Er hatte nie den Gedanken, woanders zu leben. Wo immer er nun ist, er wird sich über jeden gefreut haben, der bei seiner Beerdigung war.“ Stille. Niemand bewegte sich. Sie blickte zu Klemens und Magda, die in der ersten Reihe ganz außen saßen. „Er starb, als er unser Dorf für alle sicherer machen wollte. Und ich möchte, dass seine Arbeit fortgesetzt wird, durch Gründung einer Patrouille. Es sind erneut Mutanten in der näheren Umgebung unterwegs, und es scheinen mehr zu werden. Gibt es hierfür Freiwillige?“
Die Einwohner sahen sich an, flüsterten untereinander.
Ein grauhaariger Mann mit kantigen Gesichtszügen trat vor. „Nein, ich denke nicht. Wenn wir die Mutanten in Ruhe lassen, lassen Sie auch uns in Ruhe. So war es immer.“
„Das können Sie nicht ernst meinen. Irgendwann finden sie einen Weg ins Dorf und …“
„Bevor ihr Mann sich mit diesen Kreaturen angelegt hat, gab es solche Probleme nicht. Lassen Sie es gut sein, bevor es noch mehr Tote gibt.“
Rebekka blickte erneut zu ihren Kindern. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. „So … so ein Unsinn! Diese Wesen sind dumm, die greifen bestimmt nicht an, weil sie sich provoziert fühlen!“
„Vielleicht denken Sie das Gleiche von uns. Dass wir dumm sind. Lassen Sie diese verlorenen Seelen in Frieden, Sie bringen uns nur alle in Gefahr. Oder?“, rief der grauhaarige Mann.
Einige Sekunden war es ruhig, dann rief jemand die erste Bestätigung: „Genau!“ Weitere folgten.
„Ich …“ Rebekka suchte nach Worten, ihre Hände zitterten.
Der Bürgermeister trat vor das Podest und hob beschwichtigend die Hände. „Wir sollten uns alle die Zeit nehmen, in Ruhe darüber nachzudenken. Bei der nächsten Versammlung können wir dann …“
„Verschwinde, Verräterin!“, rief jemand aus einer der hinteren Reihen. „Du bringst uns den Tod.“
„Und nimm deine Kinder mit!“, fügte jemand anderes hinzu.
Der Bürgermeister winkte Magda und Klemens zu sich und brachte sie mit ihrer Mutter zum Hinterausgang. „Lauft zu eurem Haus und schließt die Tür ab. Sie werden sich wieder beruhigen, bestimmt, aber nun bringt euch in Sicherheit!“
Klemens wusch sich die Hand in der Schultoilette, als die Tür aufging. Er kannte die drei Schüler, die hereinkamen. Nicht ihre Namen, aber vor ihnen war beim Fußballtunier niemand sicher.
"Wen haben wir denn hier?", fragte ihr Anführer, ein bulliger Typ mit roten, kurzen Haaren. "Der einarmige Bandit."
Klemens drehte den Wasserhahn zu, versuchte, das Zittern seiner Hand zu verbergen. Sie stellten sich um ihn herum. Er wusste, dass er nicht entkommen konnte. Der Anführer holte ein Klappmesser aus der Hosentasche und öffnete es. Hielt es seitlich an seinen Hals.
"Habe gehört, dein Vater hat sich den Kehlkopf rausreißen lassen. Was seid ihr für eine dumme Familie? Könnt noch nicht mal ein paar Mutanten erledigen."
Die anderen beiden grinsten.
Der rothaarige kam ganz nah an sein Ohr. "Wenn ihr euch nicht an die Regeln haltet, machen wir euch fertig. Vielleicht schneide ich dir deinen anderen Arm ab. Oder ich gehe mal bei deiner Schwester vorbei."
Klemens blickte ihn im Spiegel an. Sein Körper verspannte sich, die Mundwinkel zuckten. "Fick dich!"
Alle drei lachten. Der Anführer trat ihm die Beine weg. Klemens hatte keine Chance, sich festzuhalten und knallte auf die harten Fliesen.
"Das ist hier doch eine Toilette, oder, Jungs?", lachte der rothaarige. Als er seinen Hosenstall öffnete, ging die Tür auf. Zwei andere Schüler kamen herein. "Glück gehabt", zischte er und schloss den Reißverschluss wieder. "Wir sehen uns noch."
„Wo warst du?“, fragte Rebekka, als Klemens an der Küche vorbeikam.
„Nur etwas frische Luft schnappen.“
„Machst du das oft, mitten in der Nacht? Du warst lange weg.“
„Wenn ich nicht schlafen kann. Ich … geh mal ins Bett.“
Rebekka wollte nach seinen Albträumen fragen, als nicht weit entfernt ein Schuss ertönte. Wenige Sekunden später folgten weitere. Die nur von Kerzenlicht erhellte Küche flackerte immer wieder kurz auf. Klemens ging zum Fenster, blickte in die Nacht.
„Was hast du getan?“, flüsterte Rebekka. Sie bekam eine Gänsehaut.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. „Was dieses Dorf verdient hat. Die Mutanten sind nicht schlimmer als wir, bitten wir sie herein.“
„Mami?“ Magda kam ihn die Küche, lief zu ihrer Mutter.
„Es ist in Ordnung, gleich ist es wieder ruhig.“ Sie nahm ihre Tochter auf den Schoß und drückte sie an sich.
Menschen fingen an zu schreien. Vor Wut, aber auch vor Schmerz. Ein weiterer Schuss, dann war es still. Klemens wollte sich vom Fenster abwenden, als jemand vor ihrem Haus schrie.
„Rebekka Wehner! Komm raus und bring deine Kinder mit!“
Rebekka sah Klemens an. „Bist du nun zufrieden? Dein Vater würde sich schämen.“ Sie zuckte zusammen, als eine der vorderen Fensterscheiben zu Bruch ging. Etwas schlug auf dem Boden auf, wahrscheinlich ein Stein. Magda fing an zu weinen.
Weiteres Glas klirrte. Ein flackernder Schein und Rauch krochen durch den Flur und die Küchentür.
„Verschwindet von hier!“ rief Klemens. „Durch die Hintertür. Ich versuche, die Flammen zu löschen und sie abzulenken.“
Rebekka erhob sich, drückte Magdas Kopf an die Schulter. „Wir müssen zusammen bleiben, du kannst nicht …“
„Geht! Wir haben keine Zeit mehr.“ Er zog sein T-Shirt über Mund und Nase und verließ die Küche.
Der Rauch wurde dichter. Rebekka nahm zwei Geschirrtücher, gab eins ihrer Tochter und hielt sich das andere selbst vors Gesicht. „Halt es so wie ich.“
Die Rufe der Menschen vorm Haus waren weiterhin zu hören. Sie nahm instinktiv ein großes Küchenmesser und steckte es sich hinten in den Gürtel. Magda nahm ihre Hand, folgte ihr zur Hintertür.
Rebekka hatte nicht damit gerechnet, aber hinter dem Haus war niemand zu sehen. Schon nach wenigen Schritten blieb sie mit Magda an der Hand stehen. Klemens Schreie hallten durch die Nacht, übertönten das lauter werdende Knistern des brennenden Hauses. Sie drehte sich um und blickte wie erstarrt zu den Flammen. Innerhalb weniger Stunden wurde ihr Leben zerstört. Ihre Gedanken waren leer. Magda umklammerte sie von hinten, ihr kleiner Körper zitterte. Erneut ein Schrei vor dem Haus, gefolgt von einem Schuss. Die Rufe verstummten. Rebekka hörte ihren und Magdas Atem.
Jemand hielt ihr den Lauf einer Pistole an den Hinterkopf. „Na, wo wolltet ihr denn hin?“ Sie erkannte die Stimme des grauhaarigen Mannes aus der Versammlungshalle. „Umdrehen! Schön langsam.“
Der Mann ging einen Schritt zurück, als Rebekka sich bewegte. Magda blieb zunächst hinter ihr, ging dann an ihre Seite. Sie legte einen Arm um ihre Tochter.
Die kantigen Gesichtszüge des Mannes wurden von den Flammen erhellt. Er sah Magda an. „Was meinst du, erledige ich euch selbst, gleich hier? Oder überlasse ich euch dem wütenden Mob?“
Magda blickte ihm in die Augen, das Zittern hatte sich beruhigt. „Sie sind ein böser Mensch!“
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Rebekka zögerte nicht. Sie tastete nach dem Griff des Messers, zog es hervor und stach zu.
Die Klinge drang in seinen Körper, oberhalb des Hüftknochens. Er krümmte sich zusammen, sah einige Sekunden ungläubig an sich herab. „Du verdammte Hure!“, schrie er schmerzerfüllt.
Rebekka ging einige Schritte rückwärts und zog Magda mit sich. Lief mit ihr an dem Mann vorbei. Er zog das Messer heraus, taumelte kurz und hob dann erneut die Waffe.
Sie liefen weiter, bis der Schuss fiel. Rebekka stolperte, die Kugel hatte ihren Hals durchschlagen. Ihr Körper gehorchte nicht mehr. Die Sicht verschwamm bereits, als sie auf dem Boden aufschlug.
„Mami!“, schrie Magda und ließ sich neben ihre sterbende Mutter fallen. Tränen liefen ihre Wangen hinab.
Der Mann kam näher, hielt eine Hand auf die Wunde. Und zielte auf Magda.
„Was soll´s“, sagte er nach einigen Sekunden und humpelte zurück zur Straße.
Magda sah auf, als sich jemand näherte. Durch die Tränen erkannte sie ihren Nachbarn. Er kniete sich neben sie.
***
„Hattest du nie Rachegedanken?“, fragte der junge Mann am Lagerfeuer, als Magda ihre Erzählung beendet hatte.
„Doch, aber nicht lange. Die Menschen sind austauschbar, in einem anderen Dorf wäre das Gleiche passiert. So funktioniert die neue Welt. Halt dich an die Regeln, oder stirb.“
Sie schwiegen einige Minuten, betrachteten das über den Flammen brutzelnde Kaninchen.
„Was hast du nun vor?“
„Ich folge weiter dem Fluss, bisher kam ich alle paar Tage an eine Siedlung. Einige erzählten von einem grenzenlosen Gewässer. Mal sehen, ob es existiert.“
Magda trank einen Schluck aus ihrem selbstgefertigten Wasserschlauch.
„Kann ich mit dir kommen?“
Sie blickte gedankenverloren ins Feuer. „Ja. Bis zur nächsten Siedlung.“
„Hey, gib es her!“, rief Magda, als ihr Bruder das Brötchen nahm, das auch sie haben wollte.
„Es sind genügend andere da“, sagte Rebekka.
„Aber ich wollte …“
„Magda!“ Paul sah sie an.
„Immer kriegt er das größte!“ Sie griff sich ein anderes Brötchen und schnitt es schmollend auf.
„Wenn ihr so weiter macht, nehme ich euch wieder aus der Schule und zurück geht’s in den Kindergarten.“ Rebekka fischte sich eine Scheibe Brot aus dem Korb und bestrich sie mit Butter.
Sie aßen einige Minuten schweigend.
„Ich fahre gleich raus. Sie sind nicht mehr weit entfernt und ich möchte es erledigt haben. Klemens kann mitkommen“, sagte Paul.
„Kannst du es nicht anderen überlassen?“, fragte Rebekka.
„Das hatten wir doch schon, du weißt …“
„Nichts weiß ich. Niemand in Maon kümmert sich noch um die Gefahr. Du wirst es ja schon erledigen.“
„Dann sprich es bei der nächsten Versammlung an. Ich mache solange meine Arbeit. Bist du bereit, nach dem Frühstück?“, fragte er seinen Sohn.
Klemens sah seine Mutter an. Sie richtete ihren Blick auf den Teller und aß, ohne ihn zu beachten.
„Klar. Was soll ich mitnehmen?“
„Ich werde schon alles dabei haben. Nun frühstücke erst mal.“
„Warum darf ich nicht mit?“, wollte Magda mit vollem Mund wissen.
„Weil du erst in der dritten Klasse bist. Außerdem nehme ich niemanden mit, der mit vollem Mund spricht.“
"Hast du die Blicke bemerkt, als wir das Dorf verließen?", fragte Klemens.
"Ja, das geht schon einige Zeit so. Wenn sie ein Problem haben, sollen sie es sagen. Solange mache ich weiter."
„Können wir uns anstecken?“ Klemens Pferd trabte neben dem seines Vaters über das vertrocknete Gras.
„Nein. Das hat schon zur Zeit meiner Eltern aufgehört. Eigentlich waren alle überzeugt, dass es vorbei ist. Erzählt man euch so etwas nicht in der Schule?“
„Bisher nur wenig, aber ich glaube, bald in der Oberstufe wird es mehr.“
„Na, immerhin. Dann siehst du gleich zum ersten Mal die Mutanten aus der Nähe. Du darfst sie nie unterschätzen, trotz ihrer Langsamkeit. Sobald sie dich erwischen, kann es schnell vorbei sein.“
Klemens blickte zum Horizont, der Waldrand kam in Sicht. „Okay."
Schon als sie sich den Mutanten näherten, erkannte er ihre grotesk angeschwollenen Körper. Die Gesichter, der ganze Kopf deformiert wie nach einem Boxkampf. Keine Hände, sondern Pranken mit aufgerissener Haut. Ein lederner, aber auch beißender Geruch kam ihnen entgegen, nach Schweiß und Urin. Die Gruppe bestand aus vier dieser Kreaturen. Sie hatten einen Hirsch erlegt, kurz hinter der Baumgrenze. Rissen ihn auseinander und fraßen. Er und sein Vater hielten gut zwanzig Meter entfernt und stiegen ab.
„Wir gehen noch etwas näher, dann werde ich sie nacheinander erschießen. Wahrscheinlich werden sie nicht reagieren und einfach weiter fressen. Falls sie doch auf uns zukommen, gehen wir rückwärts und ich schieße weiter.“ Paul blickte Klemens an. „Verstanden?“
„Ja.“
Er nahm das Gewehr, das er seitlich an der Satteltasche angebracht hatte und prüfte die Munition.
„Okay. Dann los.“
„Darf ich helfen?“, fragte Magda. Die Küche duftete nach frischem Obst. Erdbeeren, Pfirsiche, Äpfel. Und Ananas, ihre Lieblingsfrucht.
„Bin fast fertig, aber du kannst noch die restlichen Früchte für den Obstsalat schneiden. Aber Vorsicht mit dem Messer!“, antwortete Rebekka.
Magda setzte sich zu ihr an den Tisch. Sie gab ihr das Messer mit dem Griff voran und schob ihr das Schneidebrett zu. Und lächelte, wie jedes Mal, wenn ihre Tochter hochkonzentriert etwas erledigte, sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ.
Rebekka wollte gerade aufstehen, sich die Hände waschen, als ihre Tochter fragte: „Darf ich die Mutanten auch mal sehen?“
„Ich hoffe, dass wir sie irgendwann … vertrieben haben.“ Sie blickte aus dem Fenster. „Sie sind nicht schön, weißt du?“
„So wie mein Klassenlehrer?“
Rebekka lächelte. „Nicht ganz.“
„Vielleicht sind Sie ja traurig, weil niemand sie mag?“ Magda war mit den Erdbeeren fertig und nahm einen Pfirsich. „Wo kommen sie her?“
Rebekka sah weiter gedankenverloren hinaus. Keine Wolken am Himmel, ihnen stand wieder ein heißer Tag bevor. „Zur Zeit deiner Großeltern gab es eine Epidemie, die Viren … wir dachten, es wäre vorbei, aber viele Menschen verloren noch ihr Leben. Manche davon … niemand kann es bis heute erklären, aber sie begannen wieder zu leben. Nur ihre Seele war schon woanders.“
„Das ist traurig. Sie tun mir leid.“ Das Messer klackerte auf dem Brett.
„Mach dir mal nicht so viele Gedanken, sie können hier nicht hin. Du kannst mir gleich beim Einkauf helfen.“
„Auch Schokolade?“
Sie hob die Augenbrauen. „Mal sehen!“
Der erste Schuss traf einen der Mutanten in die Schläfe. Er fiel zur Seite und blieb zuckend liegen. Die drei anderen fraßen weiter, als wäre nichts passiert. Nacheinander traf Paul auch sie in den Kopf. Er und Klemens näherten sich vorsichtig.
„Bleib hinter mir“, sagte Paul. Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, schoss er den Mutanten erneut in den Kopf. Auch der zitternde lag nun regungslos. „Sicher ist sicher.“ Er legte das Gewehr ab und nahm das große Jagdmesser aus dem Gürtel.
„Was hast du vor?“, fragte Klemens.
„Wir nehmen den Teil des Hirsches mit, an dem sie nicht gefressen haben.“ Er kniete sich vor das Tier. Zwei seiner Beine waren ausgerissen, auch von Kopf und Hals war kaum noch etwas zu erkennen.
Klemens sah nur kurz zu, drehte sich um und ging zurück. „Ich warte bei den Pferden.“
„Beim nächsten Mal bist du dran!“, rief ihm Paul hinterher.
Als er gerade bei den Pferden angekommen war, schrie sein Vater. Klemens fuhr herum. Der Schrei ging in ein Gurgeln über. Ein Mutant umgriff mit seiner Pranke das Gesicht seines Vaters und zog ihn an sich. Biss ihm in die Seite des Halses, Blut strömte aus der Wunde. Er musste aus dem Wald gekommen sein, zuvor nicht zu sehen durch die dicht stehenden Bäume.
Klemens war für einige Sekunden wie gelähmt, bis er schließlich zum Gewehr lief. Hände und Arme zitterten, als er es aufhob und anlegte. Er traute sich von hier aus keinen Schuss zu und ging schnellen Schrittes zu dem Mutanten, wäre fast gestolpert. Hielt ihm den Lauf an den Kopf. Sein Finger zuckte so stark, dass er kaum den Abzug betätigen konnte. Mit letzter Willenskraft gelang es ihm, der Schuss durchdrang die Stille. Die Kreatur ging wie ein nasser Sack zu Boden.
Sein Vater fiel nach vorne gegen ihn. Er ließ das Gewehr fallen und legte ihn vorsichtig auf die Seite. Zog sein eigenes Hemd aus und drücke es auf die Wunde. Tränen schossen ihm in die Augen. Pauls Lider zuckten, er versuchte etwas zu sagen.
„Nicht“, sagte Klemens. „Es wird gut werden und …“ Zu spät bemerkte er die Bewegung, so sehr war er auf seinen Vater konzentriert. Der Mutant hatte sich zu ihm gezogen und biss ihm in den Arm, in dem er das Hemd hielt. Zähne gruben sich durch sein Fleisch, erreichten den Knochen. Klemens schrie auf, schlug instinktiv auf den Kopf des Angreifers ein. Es fühlte sich an, als würde er einen weichen Ball treffen. Sein Körper begann zu zittern. Gerade noch schaffte er es, das Gewehr zu greifen und damit nach dem Gesicht zu schlagen.
Der Mutant wich zurück. Klemens stieß sich mit den Beinen weg und versuchte einhändig mit dem Gewehr zu zielen. Es gelang ihm kaum, es hochzuheben. Die Kreatur machte sich erneut über seinen Vater her. Bevor Klemens etwas unternehmen konnte, riss sie einen Teil seines Halses heraus.
„Das ist der beste Obstsalat überhaupt!“, rief Magda.
„Da kannst du sicher sein. Hol mal deinen Rucksack, dann können wir …“
„Rebekka!“, schrie jemand vorm Küchenfenster.
Sie sah hinaus. Ihr Nachbar stand draußen und rief erneut ihren Namen. „Was ist los?“, fragte sie, nachdem sie das Fenster geöffnet hatte.
„Komm zum Stadttor, sofort! Bring deine Arzttasche mit, es ist etwas passiert.“
„Wovon redest du, was …“
„Sofort!“, wiederholte ihr Nachbar und lief davon.
„Bleib zurück“, sagte Rebekka zu Magda.
Sie lief zu ihrem Sohn, er lag vorm Stadttor auf dem Boden. Sein Arm blutete oberhalb des Ellenbogens. Eins der Pferde stand nicht weit entfernt. Nur eins. Nirgendwo sah sie Paul. Eine Frau aus ihrer Nachbarschaft drückte ein Handtuch auf die Wunde.
Mit zitternden Händen öffnete sie die große Tasche und kniete sich neben Klemens. Fühlte sich, als würde sie sich selbst von außen betrachten. Wie sie den Arm unterhalb der Schulter abband. Ihrem Sohn eine Spritze gab. Nach einigen Sekunden das Handtuch hob, mein Gott flüsterte und sich direkt wünschte, es zurücknehmen zu können.
Sie drückte das Handtuch wieder auf die Wunde und sah ihren Nachbarn an, der neben ihr stand. „Holen Sie die Säge aus meinem Behandlungszimmer. Es ist offen. Los!“, zischte sie und hoffte, dass Klemens es nicht gehört hatte.
Rebekka blickte sich um und zählte knapp vierzig Trauergäste. Normalerweise kamen alle gut dreihundert Einwohner Maons zu einer Beerdigung. Es gab kaum jemanden, dem Paul nicht schon mal geholfen hatte.
Die Luft war aufgeladen, ein Gewitter zog auf. Magda stand neben ihr. Klemens saß als einziger, sein Armstumpf unter dem schwarzen Hemd versteckt. Das Gesicht bleich und regungslos.
Obwohl die meisten auf den Sarg starrten, spürte sie immer wieder anklagende Blicke.
„Für den letzten Punkt der Tagesordnung gebe ich das Wort an Rebekka Wehner“, sagte der Bürgermeister. Die Versammlungshalle war voll, alle Maoner waren erschienen.
Rebekka stieg auf das kleine Podest mit Rednerpult. Sah mit ruhigem Blick möglichst vielen in die Augen.
„Ich danke euch für die Anteilnahme. Paul hat Maon immer als seine Heimat betrachtet. Er hatte nie den Gedanken, woanders zu leben. Wo immer er nun ist, er wird sich über jeden gefreut haben, der bei seiner Beerdigung war.“ Stille. Niemand bewegte sich. Sie blickte zu Klemens und Magda, die in der ersten Reihe ganz außen saßen. „Er starb, als er unser Dorf für alle sicherer machen wollte. Und ich möchte, dass seine Arbeit fortgesetzt wird, durch Gründung einer Patrouille. Es sind erneut Mutanten in der näheren Umgebung unterwegs, und es scheinen mehr zu werden. Gibt es hierfür Freiwillige?“
Die Einwohner sahen sich an, flüsterten untereinander.
Ein grauhaariger Mann mit kantigen Gesichtszügen trat vor. „Nein, ich denke nicht. Wenn wir die Mutanten in Ruhe lassen, lassen Sie auch uns in Ruhe. So war es immer.“
„Das können Sie nicht ernst meinen. Irgendwann finden sie einen Weg ins Dorf und …“
„Bevor ihr Mann sich mit diesen Kreaturen angelegt hat, gab es solche Probleme nicht. Lassen Sie es gut sein, bevor es noch mehr Tote gibt.“
Rebekka blickte erneut zu ihren Kindern. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. „So … so ein Unsinn! Diese Wesen sind dumm, die greifen bestimmt nicht an, weil sie sich provoziert fühlen!“
„Vielleicht denken Sie das Gleiche von uns. Dass wir dumm sind. Lassen Sie diese verlorenen Seelen in Frieden, Sie bringen uns nur alle in Gefahr. Oder?“, rief der grauhaarige Mann.
Einige Sekunden war es ruhig, dann rief jemand die erste Bestätigung: „Genau!“ Weitere folgten.
„Ich …“ Rebekka suchte nach Worten, ihre Hände zitterten.
Der Bürgermeister trat vor das Podest und hob beschwichtigend die Hände. „Wir sollten uns alle die Zeit nehmen, in Ruhe darüber nachzudenken. Bei der nächsten Versammlung können wir dann …“
„Verschwinde, Verräterin!“, rief jemand aus einer der hinteren Reihen. „Du bringst uns den Tod.“
„Und nimm deine Kinder mit!“, fügte jemand anderes hinzu.
Der Bürgermeister winkte Magda und Klemens zu sich und brachte sie mit ihrer Mutter zum Hinterausgang. „Lauft zu eurem Haus und schließt die Tür ab. Sie werden sich wieder beruhigen, bestimmt, aber nun bringt euch in Sicherheit!“
Klemens wusch sich die Hand in der Schultoilette, als die Tür aufging. Er kannte die drei Schüler, die hereinkamen. Nicht ihre Namen, aber vor ihnen war beim Fußballtunier niemand sicher.
"Wen haben wir denn hier?", fragte ihr Anführer, ein bulliger Typ mit roten, kurzen Haaren. "Der einarmige Bandit."
Klemens drehte den Wasserhahn zu, versuchte, das Zittern seiner Hand zu verbergen. Sie stellten sich um ihn herum. Er wusste, dass er nicht entkommen konnte. Der Anführer holte ein Klappmesser aus der Hosentasche und öffnete es. Hielt es seitlich an seinen Hals.
"Habe gehört, dein Vater hat sich den Kehlkopf rausreißen lassen. Was seid ihr für eine dumme Familie? Könnt noch nicht mal ein paar Mutanten erledigen."
Die anderen beiden grinsten.
Der rothaarige kam ganz nah an sein Ohr. "Wenn ihr euch nicht an die Regeln haltet, machen wir euch fertig. Vielleicht schneide ich dir deinen anderen Arm ab. Oder ich gehe mal bei deiner Schwester vorbei."
Klemens blickte ihn im Spiegel an. Sein Körper verspannte sich, die Mundwinkel zuckten. "Fick dich!"
Alle drei lachten. Der Anführer trat ihm die Beine weg. Klemens hatte keine Chance, sich festzuhalten und knallte auf die harten Fliesen.
"Das ist hier doch eine Toilette, oder, Jungs?", lachte der rothaarige. Als er seinen Hosenstall öffnete, ging die Tür auf. Zwei andere Schüler kamen herein. "Glück gehabt", zischte er und schloss den Reißverschluss wieder. "Wir sehen uns noch."
„Wo warst du?“, fragte Rebekka, als Klemens an der Küche vorbeikam.
„Nur etwas frische Luft schnappen.“
„Machst du das oft, mitten in der Nacht? Du warst lange weg.“
„Wenn ich nicht schlafen kann. Ich … geh mal ins Bett.“
Rebekka wollte nach seinen Albträumen fragen, als nicht weit entfernt ein Schuss ertönte. Wenige Sekunden später folgten weitere. Die nur von Kerzenlicht erhellte Küche flackerte immer wieder kurz auf. Klemens ging zum Fenster, blickte in die Nacht.
„Was hast du getan?“, flüsterte Rebekka. Sie bekam eine Gänsehaut.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. „Was dieses Dorf verdient hat. Die Mutanten sind nicht schlimmer als wir, bitten wir sie herein.“
„Mami?“ Magda kam ihn die Küche, lief zu ihrer Mutter.
„Es ist in Ordnung, gleich ist es wieder ruhig.“ Sie nahm ihre Tochter auf den Schoß und drückte sie an sich.
Menschen fingen an zu schreien. Vor Wut, aber auch vor Schmerz. Ein weiterer Schuss, dann war es still. Klemens wollte sich vom Fenster abwenden, als jemand vor ihrem Haus schrie.
„Rebekka Wehner! Komm raus und bring deine Kinder mit!“
Rebekka sah Klemens an. „Bist du nun zufrieden? Dein Vater würde sich schämen.“ Sie zuckte zusammen, als eine der vorderen Fensterscheiben zu Bruch ging. Etwas schlug auf dem Boden auf, wahrscheinlich ein Stein. Magda fing an zu weinen.
Weiteres Glas klirrte. Ein flackernder Schein und Rauch krochen durch den Flur und die Küchentür.
„Verschwindet von hier!“ rief Klemens. „Durch die Hintertür. Ich versuche, die Flammen zu löschen und sie abzulenken.“
Rebekka erhob sich, drückte Magdas Kopf an die Schulter. „Wir müssen zusammen bleiben, du kannst nicht …“
„Geht! Wir haben keine Zeit mehr.“ Er zog sein T-Shirt über Mund und Nase und verließ die Küche.
Der Rauch wurde dichter. Rebekka nahm zwei Geschirrtücher, gab eins ihrer Tochter und hielt sich das andere selbst vors Gesicht. „Halt es so wie ich.“
Die Rufe der Menschen vorm Haus waren weiterhin zu hören. Sie nahm instinktiv ein großes Küchenmesser und steckte es sich hinten in den Gürtel. Magda nahm ihre Hand, folgte ihr zur Hintertür.
Rebekka hatte nicht damit gerechnet, aber hinter dem Haus war niemand zu sehen. Schon nach wenigen Schritten blieb sie mit Magda an der Hand stehen. Klemens Schreie hallten durch die Nacht, übertönten das lauter werdende Knistern des brennenden Hauses. Sie drehte sich um und blickte wie erstarrt zu den Flammen. Innerhalb weniger Stunden wurde ihr Leben zerstört. Ihre Gedanken waren leer. Magda umklammerte sie von hinten, ihr kleiner Körper zitterte. Erneut ein Schrei vor dem Haus, gefolgt von einem Schuss. Die Rufe verstummten. Rebekka hörte ihren und Magdas Atem.
Jemand hielt ihr den Lauf einer Pistole an den Hinterkopf. „Na, wo wolltet ihr denn hin?“ Sie erkannte die Stimme des grauhaarigen Mannes aus der Versammlungshalle. „Umdrehen! Schön langsam.“
Der Mann ging einen Schritt zurück, als Rebekka sich bewegte. Magda blieb zunächst hinter ihr, ging dann an ihre Seite. Sie legte einen Arm um ihre Tochter.
Die kantigen Gesichtszüge des Mannes wurden von den Flammen erhellt. Er sah Magda an. „Was meinst du, erledige ich euch selbst, gleich hier? Oder überlasse ich euch dem wütenden Mob?“
Magda blickte ihm in die Augen, das Zittern hatte sich beruhigt. „Sie sind ein böser Mensch!“
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte. Rebekka zögerte nicht. Sie tastete nach dem Griff des Messers, zog es hervor und stach zu.
Die Klinge drang in seinen Körper, oberhalb des Hüftknochens. Er krümmte sich zusammen, sah einige Sekunden ungläubig an sich herab. „Du verdammte Hure!“, schrie er schmerzerfüllt.
Rebekka ging einige Schritte rückwärts und zog Magda mit sich. Lief mit ihr an dem Mann vorbei. Er zog das Messer heraus, taumelte kurz und hob dann erneut die Waffe.
Sie liefen weiter, bis der Schuss fiel. Rebekka stolperte, die Kugel hatte ihren Hals durchschlagen. Ihr Körper gehorchte nicht mehr. Die Sicht verschwamm bereits, als sie auf dem Boden aufschlug.
„Mami!“, schrie Magda und ließ sich neben ihre sterbende Mutter fallen. Tränen liefen ihre Wangen hinab.
Der Mann kam näher, hielt eine Hand auf die Wunde. Und zielte auf Magda.
„Was soll´s“, sagte er nach einigen Sekunden und humpelte zurück zur Straße.
Magda sah auf, als sich jemand näherte. Durch die Tränen erkannte sie ihren Nachbarn. Er kniete sich neben sie.
***
„Hattest du nie Rachegedanken?“, fragte der junge Mann am Lagerfeuer, als Magda ihre Erzählung beendet hatte.
„Doch, aber nicht lange. Die Menschen sind austauschbar, in einem anderen Dorf wäre das Gleiche passiert. So funktioniert die neue Welt. Halt dich an die Regeln, oder stirb.“
Sie schwiegen einige Minuten, betrachteten das über den Flammen brutzelnde Kaninchen.
„Was hast du nun vor?“
„Ich folge weiter dem Fluss, bisher kam ich alle paar Tage an eine Siedlung. Einige erzählten von einem grenzenlosen Gewässer. Mal sehen, ob es existiert.“
Magda trank einen Schluck aus ihrem selbstgefertigten Wasserschlauch.
„Kann ich mit dir kommen?“
Sie blickte gedankenverloren ins Feuer. „Ja. Bis zur nächsten Siedlung.“
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