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Matteo
Bin ich wach gewesen, oder habe ich geschlafen, als ich sie vor mir stehen sah? Geschlafen natürlich, gab sich Matteo selbst die Antwort und streckte sich. Sein Schlaf war seit seinem Achtzigsten verlässlich. Er konnte sich in ihn fallen lassen. Und da tauchte sie dann auf, besuchte ihn. Matteo war im „Betreuten Wohnen“ angekommen, letzte Haltestelle vor der Endstation. Seine Tochter war für das Paket „Mid“ gewesen. Das, ohne Mahlzeiten, aber mit einem Minimum an Zuwendung. Das sei so eben gerade noch leistbar, rechnete sie ihm vor einem Jahr vor. Früher war es um ganz anderes gegangen, wenn man von „leistbar“ sprach, dachte Matteo, als er Corinnas Emsigkeit für seine letzte Unterbringung aus einer gewissen Distanziertheit heraus mit ansah. Aber damit hatte man sich abzufinden!
„Ein Mann, auch in deinem Alter, muss nicht allein bleiben“,
wollte seine Tochter ihn bei einem ihrer Besuche ermuntern und damit andeuten, dass es in seinem Alter Frauen zum "Säue füttern" gab. Ohne Gegenstück, genau wie er. Corinnas Besuche rührten ihn. Er sah in ihnen ein Bemühen, den Unterschied zwischen „Mid“ und „High“ von Tochter-Seite aus, wettzumachen. Und wenn sie ihn derart noch besser stellen wollte, sah sie aus dem Fenster in den Hof auf Köpfe alter Frauen, über die Hälfte von ihnen an Rollatoren. Doch Matteos Träume waren andere. Auch wenn er sie gut verstand, und dass sie beruhigter gewesen wäre, hätte noch jemand außer ihr ein Auge auf den Vater geworfen. Aber vor seinem Innern tauchte nun einmal regelmäßig das Mädchen mit Rucksack, T-Shirts, einer langen und einer kurzen Hose, und dem Gurkenglas, randvoll gefüllt mit Waschpulver, auf. Als gäbe es in ganz Italien keine Seife. So war sie von München aus gestartet, ursprünglich mit dem Ziel Süditalien, war sie seinetwegen schon in Genua hängen geblieben, bei ihm, dem Fünfundzwanzigjährigen mit ausreichend Kraft in Herz und Lenden. Eine der fruchtbarsten, mitunter auch teuflischsten Abhängigkeiten.
Die Füße nach dem Traum auf die pflegeleichte Auslegeware vors Bett gestellt, schlupfte Matteo in seine Filzpantoffel, Marke „warm im Winter, kühl im Sommer“, wie es hieß, hinten offen, das Anziehen kinderleicht, das Gehen eher ein Schlurfen. Er tröstete sich etwas mit dem neulich Gehörten, dass das Hirn im Alter Dinge liebt, die ihm schwerfallen; angeblich sollten sich neue Synapsen bilden, fast wie bei einem Neugeborenen. Man hatte es nur in Atem zu halten, in dem Fall mit der Aufforderung an die Füße, sie trotz losen Schuhwerks, anzuheben. Versöhnt durch diesen Gedanken, den er erst beim Überdenken als „zu spät“ abtat, schlappte er zu der kleinen Küchenzeile: Zwei-Platten-Herd, Kühlschrank, Hänge- und Unterschränke, Spüle. Eine Annehmlichkeit für die, die sich „High“ nicht mehr leisten konnten, aber für „Mid“ noch gut genug waren. Spartanischer ging es allemal: nur ein kleines Zimmer, Bett neunzig Zentimeter, keine Küche, Klo und Dusche zu viert zu teilen, auch keine Mahlzeiten, Essen auf Rädern also, verzehrt mit Blick aus dem Fenster, oder mit dem stur auf den Teller gerichteten, je nach Charakter. „Basic“ eben!
Wenn er es so sah, ging es ihm prächtig, dachte er, als er den oberen Teil der Kaffeemaschine auf den unteren schraubte und es bald darauf anfing, zu brodeln. Und an diesem Tag freute er sich noch mehr als sonst auf seine afrikanische Sonne, denn es galt, das letzte Große mit ihr durchzusprechen. Er war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, sie stamme aus Ghana, oder war es Äthiopien, mit Status „Bleiberecht“ immerhin, und mit hungrigen Mäulern, zurückgelassen dort, wo sie herkam und zu ihrem Leidwesen auch solche, die sich Nike-Turnschuhe per WhatsApp erbaten. Man hatte ihm Abebi zugeteilt. Sie sollte auf seinem Boden für Keimarmut sorgen, auch so ein Mid-Klasse-Add-on. Und selbst wenn sie täglich kam, riss er nur freitags, wenn sie gegangen war, die Fenster auf. Der Geruch ihrer Putzmittel erinnerte ihn zu sehr an amerikanische Hotelzimmer, unpersönlich und mit Maschinen gereinigt, die schwülstigen Duft versprühten, um jedweden menschlichen Geruch auszumerzen. Dabei sah er Abebi so gern zu. Diesem Rauf und Runter des Lumpens beim Auswaschen im Putzeimer, bevor sie mit ihren schwarzen Armen das feuchte Gewebe um die eigene Achse zwängte, um es danach über den an ihren Oberschenkel gelehnten Schrubber zu werfen. Als er das Geklapper vor der Tür hörte, stellte er seine Kaffeetasse für eine Begrüßung ab. Die ihr entgegengestreckte Hand war jeden Morgen ein erster Akt. Der zweite: ihr Schieben des Wassereimers mit dem Fuß in sein Zimmer. Ein Ritual, das er abwartete, genauso wie einen keinen Anlauf, und ihre Landung auf seinem purpurroten Samtsessel. Fast immer gab sie dabei einen Ton der Erleichterung von sich.
„Matteo“ rief sie an diesem Vormittag. „Warum Sie nicht anziehen, äh? Schon wieder gehen Sie in Schlafanzug. Das ist nicht guud!“
Abebi, was so viel heißt wie die „Herbeigesehnte“ oder „Erwünschte“, ein Name, der ihm lange zu denken gab, hatte viel dazu gelernt von seiner Sprache, seit sich die Keime unter der Woche auf seinem Fußboden entspannen konnten, und ihnen nur noch an Freitagen der Garaus gemacht wurde.
„Für wen soll ich mich anziehen“, beugte er sich vor, griff nach ihrer Hand und wartete, bis sie anfing, zu kichern. Der dritte Akt, ihr Glucksen, aus der Tiefe ihrer afrikanischen Seele, beim Senken seines Mundes auf ihren Handrücken. Wie Kaiser Franz-Joseph im Sissy-Film, den er sich eines Abends mit ihr angesehen, und bei dem er ab und zu den Übersetzer gespielt hatte, während ihm aufgefallen war, dass ihr die Tränen fast ausschließlich bei den Handkuss-Szenen kamen. Er zündete zwei Zigarillos an und reichte ihr eins. Sie rauchte sonst nicht. Ihr Paffen war eins, rein zu seiner Gesellschaft. Und heute setzte sich Matteo nicht wie sonst zu ihr. Er schlurfte zum Regal, nahm ein Kästchen, stellte es vor sie auf den Tisch und klappte es auf.
„Das hier, Abebi, das ist für uns beide. Das allermeiste davon für dich“, sagte er.
„Buh, Matteo. Das ist Geld! Viel Geld!“
„Das ist kein Geld, Abebi“, belehrte er sie. „Das ist unsere Zukunft!“ Dann griff er unter den Stapel Scheine, zog ein Foto hervor und hielt es ihr hin.
„Sie hier, Abebi“, tippte er auf das Porträt einer jungen Frau, den Rücken gelehnt an einen Felsen und mit einem einnehmenden Lachen, das dem Fotografen galt „ist noch ein Tag oder auch zwei meiner Zukunft. Du wirst sie für mich aus Deutschland holen. Und wenn sie hier war und du sie wieder nachhause gebracht hast, brauche ich nichts mehr von dem da, verstehst du“, deutete er auf die kleine Truhe. „Dann nimmst du den ganzen Rest und fliegst damit zu deinen Kindern nach Ghana!“
„Äthiopien“, gab Abebi, noch immer ein Funkeln von Verwunderung, aber auch von Skepsis in den Augen, zurück.