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Mein zweites Problem
„Um Gottes Willen, das ist ja entsetzlich.“
Er liebte diese Momente. Man sah den Menschen ins Gesicht und durfte dabei zusehen, was nur ein einziger Satz mit Ihnen anstellen konnte. Die meisten Bewerber standen im einen Moment noch zuversichtlich vor ihren Kreationen und direkt danach verwandelten Sie sich zu nicht mehr als einem kleinen Häufchen Elend. Die ganze Hoffnung und all die Träume von einer großen Zukunft zerplatzten mit einem Satz, der nicht viel länger dauerte, als ein Fingerschnipsen. Was folgte, ließen die meisten stumm über sich ergehen und nickten hin und wieder, wenn Er etwas sagte. Manche wiederum versuchten gar nicht erst, ihre Enttäuschung zu verbergen, und weinten direkt drauf los. Ihm war es egal, wie die Bewerber ihre Absage aufnahmen. Die Hauptsache war, dass Er das Ganze noch etwas ausschmücken durfte.
„Nun, junge Dame, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Mal angenommen es wäre so, dass ich keinen Master in europäischer Kunstgeschichte hätte. Dann wäre es auch ganz bestimmt nie zu meiner Promotion über Das Selbstbild spätexpressionistischer Künstler aus der vom 1. Weltkrieg verschonten Schweiz gekommen, geschweige denn zu meiner Arbeit als künstlerischer Leiter in der Akademie der Künste unserer de facto Hauptstadt Bern. Sicherlich fällt es ihnen nicht ganz leicht, sich ein solch abstruses Szenario einmal zur Gemüte zu führen, doch wir wollen es uns trotzdem für einen kurzen Augenblick vorstellen, einverstanden? Ich würde mir also ihr Werk ansehen, mit den Augen einer gänzlich von meinen Fähigkeiten und Denkweisen befreiten Person und wer weiß, junge Dame, vielleicht würde ich es für hübsch befinden, Ihnen einen üppigen Betrag dafür nennen und es mir zu Hause in meine Sammlung stellen.“
Das junge Mädchen, das jetzt vor Ihm stand, hatte sich scheinbar gegen das Weinen und für das Schweigen entschieden.
„Aber, nun ja, wie soll ich sagen? Leider treffen die genannten Attribute allesamt auf meine Wenigkeit zu und aus diesem Grund bin ich wohl oder übel dazu verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass ihr Werk, junge Dame, wie bereits erwähnt, einfach nur entsetzlich ist. Entsetzlich schlecht, genauer gesagt. Und ich betrachte jeder weitere Sekunde, die ich damit verbringen muss, auf dieses lieblose Stück Schund zu starren, als verschwendete Lebenszeit.“
Es gab eine kurze Pause, in der die Bewerberin darauf wartete, ob Er noch weitere Beleidigungen in ihr Gesicht werfen wollte. Als Sie bemerkte, dass Er außer dem kurzen Hochziehen beider Augenbrauen nichts mehr hinzuzufügen hatte, nahm Sie ihre Leinwand vom Aufsteller und verließ den Raum mit gesenktem Blick.
Er, das war Dr. Erik McKenney. Ein hoch angesehener Kunstsammler und Autor aus London, der in der Schweiz studiert und vor zwei Jahren das Angebot erhalten hatte, an der Akademie der Künste die künstlerische Leitung zu übernehmen. Man musste Ihn nicht gut oder besonders lange kennen, um zu verstehen, dass Erik McKenney von den meisten seiner Mitmenschen geradezu verabscheut wurde. Die Arroganz war sein stetiger und treuer Begleiter. Keineswegs trat sie nur in Entscheidung, wenn es darum ging, jungen Menschen den Traum von Künstlerdasein zu zerstören. Es handelte sich vielmehr um eine Art Leidenschaft, die er bei jeder Gelegenheit ausleben wollte.
Zu diesen Mitmenschen des Dr. Erik McKenney gehörte mitunter auch ich. Und ich hatte zwei ganz gewaltige Probleme. Problem Nummer eins begann letztes Jahr um diese Zeit, als ich die ersten Tests und Auswahlrunden des Aufnahmeverfahrens durchlaufen hatte und gemeinsam mit fünfzehn anderen Anwerbern, um die acht freien Plätze kämpfte. Unter anderem mussten wir es schaffen, ein eigenes Werk dem weltberühmten Kunstsammler zu präsentieren und diesen von unseren Fähigkeiten zu überzeugen. Selbstverständlich war ich vor den verletzenden Worten gewarnt worden, sowie man mir ans Herz legte, nicht allzu empfindlich auf die Beurteilung zu reagieren und eine Absage auf keinen Fall persönlich zu nehmen. Auf das Schlimmste gefasst, beobachtete Ich McKenney dabei, wie er mein Bild inspizierte und mit jeder Sekunde, die es länger dauerte, fühlte ich mich unwohler. Da klatschte er auf einmal verzückt in die Hände, setzte ein Lächeln auf und sagte:
„Das ist es! Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass sich die Ausbeute dieses Tages doch noch lohnen wird, aber das hier ist Kunst!“
Ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte McKenney schon meine Hand ergriffen und drückte sie so fest, dass es anfing zu schmerzen. „Gratulation, mein Junge, Gratulation! Ihnen ist wirklich ein ganz bezauberndes Kunstwerk gelungen und wenn ich das sage, dann dürfen Sie sich darauf ruhig etwas einbilden!“
„Danke, Herr McKenney.“, stammelte ich.
„Aber nein, ich habe zu danken! Wissen Sie, mit meinem Beruf ist mir das Leid auferlegt worden, täglich in den Kontakt mit Dingen zu geraten, die deren Schöpfer gerne mit Kunst zu umschreiben pflegen, aber in meinen Augen nicht mehr sind als Geschmacklosigkeiten, die meine Zeit vergeuden. Da kommt es mir doch ganz gelegen, wenn zwischendurch jemand ein echtes Kunstwerk abliefert, noch dazu eines von solcher Schönheit. Wie heißen Sie, mein Junge?“
„Mein Name ist Simon Lenz, Herr McKenney.“
„Na prima! Simon, seien Sie doch so gut und kommen morgen in meine Sprechstunde, mit Ihnen habe ich etwas ganz besonderes vor!“
„Sehr gerne, Herr McKenney.“
Natürlich erschien ich am nächsten Tag pünktlich zur Sprechstunde. Wir führten ein langes Gespräch, an dessen Ende ich ein Stipendium für die Akademie der Künste in den Händen hielt und niemand anderes als Dr. Erik McKenney höchstpersönlich wollte meine Betreuung übernehmen. Das war also mein Problem Nummer eins. Dieser von allen Studenten gehasste, arrogante und aufgeblasene Kerl hatte doch ausgerechnet meine Wenigkeit als seinen Zögling auserkoren. Und damit kommen wir zu Problem Nummer zwei.
Da gab es ein Mädchen. Sie war einundzwanzig, hieß Daria und war aus Deutschland angereist, um in der Schweiz zu studieren. Wir hatten uns im Bewerbungsverfahren kennen gelernt und waren uns auf Anhieb sympathisch. Leider hatte sie bei der Präsentation ihres Werkes weniger Glück als ich und wurde mit dem Ratschlag „doch besser einer Tätigkeit für einfache Leute“ nachzugehen aus dem Prüfungsraum entlassen. Als ich Daria tröstete, schwor sie unter Tränen, es im nächsten Jahr wieder zu probieren und es dem schleimigen Fiesling zu zeigen. Sie hatte den Plan, ein so unglaublich gutes Bild zu malen, das nur ein Idiot es nicht für großartig befinden würde. Seitdem wohnte sie bei mir in Bern und arbeitete akribisch an ihrem Vorhaben. Ohne ihre Anwesenheit hätte ich die Zusammenarbeit mit McKenney sicher nicht überstanden. Die ganze Wohnung roch nach Farbe, war übersät mit ausgefransten Pinseln und Papierblättern, auf denen Änderungen vermerkt und gleich wieder durchgestrichen wurden. Daria arbeitete so angestrengt, dass ich voller Zuversicht war und mir ausmalte, wie wir gemeinsam an der Akademie der Künste studieren würden.
Die Zeit verging. Meine Freundin durchlief das Bewerbungsverfahren erneut und fand sich an der gleichen Stelle wieder, die noch vor einem Jahr das Aus für Sie bedeutet hatte: Die Präsentation bei Dr. Erik McKenney. Einen Tag zuvor hatte sie die Arbeit an ihrem Werk eingestellt und es mir präsentiert.
„Wirklich sehr hübsch.“, hatte ich gesagt. „Ich bin stolz auf dich.“
Daraufhin fiel sie mir um den Hals, umarmte und küsste mich, freute sich wie ein kleines Mädchen und war sich sicher, dass das Bewerbungsgespräch am nächsten Tag positiv verlaufen würde. Doch auch wenn ich ihr das Gefühl gab, etwas ganz und gar Wunderschönes geschaffen zu haben, war mir im Inneren doch sehr wohl bewusst, dass es erneut eine Enttäuschung geben würde. Ihr neues Werk war weit unter den Ansprüchen des Dr. McKenney einzuordnen, dessen war ich mir sicher.
Mit einem unguten Gefühl im Bauch ließ ich Daria aus dem Haus gehen und dachte an ein weiteres Jahr in Zusammenarbeit mit dem arroganten Kunstsammler. Allerdings würde es dann niemanden mehr geben, der zu Hause auf mich wartete und mir zuhörte, wenn ich einen weiteren Tag voll Sticheleien und abfälligen Kommentaren erlebt hatte. Und damit sind wir nun bei meinem zweiten Problem angekommen. Es war so unerträglich, dass es alle meine vorherigen Sorgen und Ängste in den Schatten stellte. Ein Schlag ins Gesicht, der statt Schmerzen nur Verzweiflung hervorbrachte. Verzweiflung und Wut.
Mein zweites Problem bestand darin, dass Daria in meine Wohnung zurückkehrte, mit einem Gesicht frei von jeglichen Emotionen. Ihre Augen strahlten nicht, waren aber auch nicht verweint. Der Blick war leer und insgesamt wirkte sie müde auf mich. Wie jemand, der am liebsten ins Bett gekrochen wäre, um dort die nächsten Stunden oder sogar Tage zu verbringen. Ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Traurigkeit und Schuld lag. Sie blickte mir nicht ins Gesicht, sondern starrte an mir vorbei, öffnete den Mund und sagte: „Ich habe bestanden.“