Mensch ärgere Dich nicht
Wenn schlechtes Wetter war, saßen Susi und Toni oft mit Oma Hedwig am Wohnzimmertisch und spielten "Mensch ärgere Dich nicht". Susi hatte immer die roten Figuren, weil das ihre Lieblingsfarbe war, Toni die grünen und Oma Hedwig die gelben.
Heute war wieder so ein Tag. Draußen tobte der Wind und es regnete in Strömen. In der Stube von Oma Hedwig hingegen war es warm und gemütlich.
"Du bist dran Oma!" sagte Toni und hielt ihr den Würfel entgegen. Oma Hedwig schaute auf das Spielfeld, nahm den Würfel, hob ihn an ihren Mund und flüsterte ihm zu "Eine Fünf, bitte eine Fünf." Sie sprach so leise, dass die Kinder keines der Worte verstehen konnten. Dann würfelte sie. Der Würfel rollte über den Tisch, und als er liegen blieb, zeigte die obere Seite eine Sechs.
"Schade." flüsterte die Oma etwas enttäuscht, denn eine ihrer Figuren stand genau fünf Schritte vor ihrem Haus. Die hätte sie so gern in Sicherheit gebracht. Oma Hedwig blickte wieder auf das Spielfeld und ergriff ihre andere Spielfigur, die sich noch im Spiel befand. Beim Setzen dieser Figur zählte sie laut "Eins, zwei, drei , vier, fünf, sechs." Auf dem sechsten Feld angekommen, schob sie die darauf stehende Spielfigur von Susi beiseite und sagte "Ab nach Hause!"
Susi gefiel das gar nicht und sie rief "Oma, du schummelst!"
"Na, na," erwiderte Oma Hedwig, "was höre ich da? Ich und schummeln? Ich habe dem Würfel nur gut zugeredet, dass er mir eine Fünf gibt. Eine Sechs wollte ich gar nicht. Das hat doch nichts mit Schummeln zu tun."
"Du schummelst trotzdem!" wiederholte Susi ärgerlich.
Oma Hedwig sah Susi an und versuchte sie zu trösten. "Jetzt ärger Dich doch nicht Susi! Es ist doch nur ein Spiel. Und außerdem heißt das Spiel "Mensch ärgere Dich nicht"."
Susi verzog ihr Gesicht und wollte gerade wieder protestieren, als die Oma weitersprach "Wisst Ihr eigentlich, warum dieses Spiel "Mensch ärgere Dich nicht" heißt?"
Toni und Susi sahen sie ratlos an.
"Das dachte ich mir." fuhr Oma Hedwig fort, "Na dann hört gut zu. - Schon immer war das Spielen eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Menschen. Doch immer wieder kam es zu Streitereien, da niemand gern verliert. Das ist ja auch verständlich. Deshalb kam irgendwann ein friedliebender Mensch auf die Idee, dass man ein Spiel erfinden müsste, bei dem auch der Verlierer nicht traurig ist."
"Wie soll das denn gehen?" fragte Toni ungläubig.
"Na ja," entgegnete Oma Hedwig "dieser Mensch entwickelte ein Brettspiel. Um genau zu sein, war es das Spiel, dass wir gerade spielen, und derjenige, der verlor, wurde mit einer vorher festgelegten netten Geste, wieder versöhnlich gestimmt. Entweder durch nette Worte, einen Becher Kakao oder auch selbstgebackene Kekse. Diese Tradition gibt es auch noch heute, wenn auch in abgewandelter Form."
"Ach ja?" bemerkte Susi erwartungsvoll.
"Ja Kinder, denn wie ihr wisst, darf der Verlierer beim nächsten Spiel mit dem Würfeln beginnen."
"Ach soo.." stöhnten die Kinder im Chor.
"Oma," sagte Susi schließlich, "Dein Kakao ist zwar der leckerste auf der ganzen Welt, aber schummeln darfst Du trotzdem nicht!"
"Aber wie kommst Du nur darauf Susi?" fragte die Oma.
Susi seufzte und zeigte auf eine gelbe Spielfigur, die vor Oma Hedwig auf dem Tisch stand. "Na, du musst bei einer Sechs doch erst absetzen!" erklärte sie.
Die Oma stutzte und blickte dann verwundert auf die gelbe Figur vor sich.
"Mensch ärgere Dich nicht Oma!" sagte Toni, "wenn Du verlierst, decken wir morgen den Frühstückstisch. Und beim nächsten Spiel darfst Du auch beginnen."
Oma Hedwig und die Kinder sahen sich an, und plötzlich mussten sie alle laut loslachen.