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Nachtschwarm

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12.07.2015
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Nachtschwarm

Träge fließt es, zähes Gemisch aus Blut und Spucke, zwischen meine Schenkel. Da liegt es nun und glänzt kreisrund. Ich sitze am Straßenrand und fahre mir durchs staubige Haar. Mein Backenzahn schmerzt seit einigen Tagen dröhnend. Er fühlt sich beängstigend nachgiebig an. Wenn ich mit der Zunge darüberfahre, dagegen presse, so scheint es mir, als könnte ich ihn verschieben, mit genug Willen, mit genug Kraft gar aus der Mulde drücken. Hin und her. Hin und wieder blutet er dann. Nein, meistens. Ach, immer. Ich weiß natürlich, ich sollte damit möglichst zügig beim Arzt vorstellig werden. Aber es ist nur, ich bin so müde, wenn ich aufstehe.

Es ist spätnachts und ich sollte schlafen. Dennoch sitze ich hier. Der Asphalt drückt sich kalt an meinen Hintern. Autos passieren mich. Ich sehe aufgerissene Augen, Beifahrer, die mich anstarren. Ich folge ihnen mit dem Blick und sie tun es mir gleich. Köpfe, die sich drehen, weit drehen, umso weiter sie sich von mir entfernen. Ich schmecke Metallenes.

Die Ladenfassaden sind stets hell beleuchtet, obwohl bereits lange geschlossen. Ich ziehe an Dingen vorbei, die ich gerne besäße. Die Scheiben fühlen sich so wunderbar glatt an, so weich, wenn ich mit den Fingerspitzen darüber streiche. Ein Bahnwaggon auf der anderen Straßenseite schlägt die Glocken, entlässt die letzten Passagiere, bevor er abhebt und in den Himmel schwebt. Schwere Wolken verschlucken das goldene Licht dieses plumpen Seelenfängers. Ich sehe ihm lange nach, bevor mir kalt wird und ich mich abwende.

Meine Gedanken kreisen um meinen linken Backenzahn, den ich scheinbar zeitnah zu verlieren drohe. Ich überlege, wann ich mir das letzte Mal die Zähne geputzt habe. So etwas ist wichtig zu wissen. Irgendwo verliere ich mich jedoch. Ein Dönnermann hat noch geöffnet.
Dönnermann, ich hätte gerne einen Döner.
Der Dönnermann fragt mich nicht viel, nur, welche Soße.
Und Schafskäse“, sage ich.
Hier und da streiten sich schlaflose Pärchen mit aufjaulenden, sich selbst verzehrenden Genitalien. Ich bin nicht allein in dieser Nacht, ein beruhigendes, wärmendes Gefühl. Salat und Fleisch, Brot und Soße. Alles in meinem Mund. Wird eins mit Blut und Spucke.

Flopp, ein Gemisch aus Blut und Spucke, Salat und Fleisch, Brot und Soße floppt aus meinem Mund zwischen meine Schenkel. Ich sitze am Straßenrand und befühle hastig meine Mundhöhle. Oh nein! Es ist kalt. Ich fühle die Kälte in meinem Mund. Die Kälte füllt meinen Magen.

Ein Mann rennt an mir vorbei. Behände springt er an einen Laternenpfahl. Das Körpergewicht an Händen und Beinen, ist er dennoch überraschend schnell ganz oben und schnappt sogleich nach den umherschwirrenden Motten. Ich höre seine Zähne aufeinander klacken. Klack. Klack. Klack. Verschwinden die Insekten unter dem fahlen Schein. Eine Aktentasche liegt am Fuße des Pfahls auf dem Grund. Ich schmecke Metallenes. Was da wohl drin sein mag?

Ich laufe am Straßenrand entlang. Neugierig, überrascht, entsetzt, ich kann die Gesichtsausdrücke der Beifahrer erahnen, meine ich. Aus meinem Mund fließt Blut und Speichel, hin und wieder spucke ich aus. Etwas davon ist an meinem Kinn getrocknet, das spüre ich. Ich achte darauf, dass nichts davon auf die Aktentasche tropft, die fröhlich bei jedem Schritt hin und her wippt und meine Laune damit hebt. Wie schwer sie sich anfühlt. Ich bin so gespannt, was sich darin befinden mag.

Ich erreiche meine U-Bahn-Haltestelle. Ich mag es nicht, wenn ich den Himmel nicht sehen kann. Unter der Erde. Dort ist es immer kalt und dunkel. Ich fahre umgedreht auf der Rolltreppe nach unten, um die Nacht noch möglichst lange im Blick halten zu können. Dabei ist noch so früh. Ohne die Aktentasche wäre ich wahrscheinlich noch viel länger draußen geblieben.

Meine Bahn kommt in einigen Stunden, daher habe ich ausreichend Zeit, den Inhalt der Aktentasche genauestens zu untersuchen. Wer weiß, was sich alles finden lässt? Gespannt drücke ich den Metallverschluss auf und spähe hinein. Viel Papier - das war zu erwarten. Ich staple die Unterlagen neben mir auf der Bank. Oh, ein schöner Kugelschreiber. Diesen stecke ihn ein. Ein Buch, „Wie werde ich glücklicher? – Ein Ratgeber für Erwachsene“ von A. B. Cab. Kenne ich schon. Schade. Mir steigen die Tränen auf, ganz plötzlich, als ich mich an das traurige Ende des Buches erinnere. Nun gut. Mehr ist nicht drin.

Ich schlage die Zeit tot. Schiebe mir den Finger in den Mund und zeichne auf die Unterlagen mit den vielen Zahlen. Rot. Rote Motten. Rote Zähne. Rote Zahlen. Ich schreibe rote Zahlen. Ich kichere. Dann werfe ich die Blätter ins Gleisbett. Ein kräftiger Windzug wirbelt sie auf und verteilt sie auf der ganzen Plattform. Überallhin. Hier und da. Da. Hier. Überall. Überall Blätter mit roten Zahlen. So viele waren das doch gar nicht. Ich spüre, wie sie sich unter meinen Schuhen zu türmen beginnen. Ich trete sie platt. Alles platt.

Die Bahn hält. Ich steige ein. Mit einem kräftigen Ruck geht es weiter. Ich sehe den rastlosen Blättern nach, die inzwischen schon die Metallbank verschluckt haben. Beim Hinsetzen spüre ich den Kugelschreiber gegen meinen Oberschenkel drücken. Ein Glück. Ein schöner Kugelschreiber. Silbern glänzend, mit einer Gravur in einer Sprache, die ich nicht lesen kann. Dann sind da noch Zahlen. Eine Jahreszahl. Von vor hunderten Jahren. Ich schließe die Augen und befühle meine kalte Mundhöhle. Wo der wohl herkommt? Wie alt der Kugelschreiber wohl sein mag? Ich schlucke Blut und Spucke und rolle den Kugelschreiber zwischen meinen Fingern hin und her, bis er ganz dünn, bleistiftminendünn ist. „Nächster Halt“, tönt es aus der Sprechanlage. Ich hatte mal eine Freundin, die hat diese Ansagen professionell gemacht. Live. Das war gut im Bett. „Nächster Halt“, sagte sie immer. „Nächster Halt, meine Fotze“ und so.
Endstation“, als sie mich verließ. Das war lustig.

Müde erwache ich. Ich krieche aus meinem Bett. Wäre ich doch nur früher Schlafen gegangen. Heute ist immerhin ein wichtiger Tag. Heute ist so viel zu tun. Ich gähne lange, reiße den Mund so weit auf, dass es knackt und blicke mit vertränten Augen aus dem Fenster. Eine geschäftige Stadt. Der Himmel darüber in drögem Orange. Ich lasse mich fallen. Wie schön, sich einmal fallen zu lassen.

 

Hallo Melanchoholiker (cooler Name übrigens)!

Guter Einstand wie ich finde. Abstrus und stimmungsvoll - sowas lese ich gerne.

Mir scheint, als träume dein Protagonist einen abstrusen, beängstigenden und traurigen Traum. Nur das Aufwachen will nicht so recht dazu passen. Ein solcher Traum hallt nach. Dein Protagonist hat ihn aber anscheinend schon beim Aufstehen schon wieder vergessen und zwar nicht nur den Inhalt (das passiert ja häufig) sondern das Gefühl und die Stimmung des Traumes gleich mit. Das hat mich beim Lesen gestört. Deuten könnte man allenfalls freudianisch, dass dein Protagonist die Beziehung zu seiner eigenen Gefühlswelt verloren hat, die jetzt nur noch im unterbewussten Träumen durchschimmert. Aber das scheint mir doch sehr weit geholt.
Zudem wird, mir zumindest, überhaupt nicht klar, wie das "sich fallen lassen" gemeint ist, noch woher die Sehnsucht des Protagonisten kommt sich fallen zu lassen. Das ist ein bisschen schade. Man hat als Leser das Gefühl, dass diese letzten Sätze der Schlüssel zum Verständnis sein sollen, aber ich finde sie dann doch zu diffus, um wirklich etwas damit anfangen zu können. Ich würde an dieser Stelle vorschlagen, entweder mehr Klarheit in den letzten Absatz zu bringen oder aber konsequent zu sein und die Geschichte mit dem vorletzten Absatz gewissermaßen abbrechen. Damit ließe man den Leser zwar ziemlich im Regen stehen, aber das macht in meinen Augen nichts. Dann bliebe einfach ein stimmungsvolles Bild, das irgendwie (wie ein Traum) nachhallt, ohne dass man es versteht. So jedoch wirkt dein Ende ein bisschen wie ein hilfloser Versuch, den Leser in eine bestimmte Deutungsrichtung zu lenken.

Zusammenfassend: Ich finde deine KG erzählerisch gut gelungen, sie lässt sich trotz aller Abstrusitäten flüssig lesen. Allerdings raubst du ihr unnötigerweise durch das Ende etwas ihr eigenes Potential.

Liebe Grüße
Arete

 

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