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Nahtod Geplänkel

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24.04.2003
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Nahtod Geplänkel

Wer die Tore des Himmels einmal gesehen hat, der begnügt sich nicht länger mit dem Diesseits.

"Wie gehts dir?"
"Geht so."
"Ich habe dir was zum Lesen mitgebracht."
"Danke."
"Wo ist dein Bettnachbar? Schon entlassen?"
"Er ist gestern Nacht gestorben."
"Oh."
"Ja, oh. Ekelst du dich nicht vor mir?"
...
"Sieh mich an. Sabrina, tue dir selbst einen Gefallen, und verpiss dich von hier. Lass mich allein."

Der kitschige Tunnel aus Licht, wie man schon tausendmal von ihm gehört hat.
Die Ärzte sagen, es ist so eine Art Illusion im Gehirn. Hervorgerufen durch das Trauma.
Die Ärzte ... sie sind selbst bloß eine Illusion.

"Hallo mein Schatz. Schaust du was im Fernsehen? Wir stören doch nicht? War eigentlich gar nicht geplant, dass wir heute kommen, aber wir waren noch beim IKEA, schau, das ist diese Blumenvase aus der Werbung. Naja, jedenfalls dachten wir, wenn wir schon in der Nähe des Krankenhauses sind ..."
"Ihr stört nicht. Setzt euch."
"Kommt Sabrina noch?"
"Ich habe sie fortgeschickt. Aber das habe ich euch schon erzählt. Was ist los Papa? Du darfst ruhig herschauen. Oder gibt es etwas Interessantes auf dem Boden?"
...
"Ach, dein Vater meint das doch nicht so."
"Wieso verlässt er dann das Zimmer?"
"Er hat sich einfach noch nicht mit der Situation abgefunden. Dieser Unfall hat uns alle ziemlich mitgenommen."
"Hat er das? Na wenigstens weiß ich, dass ich nicht der Einzige bin. Obwohl, außer mir liegt ja wohl niemand in diesem beschissenen Bett, mit diesen verkackten Brandwunden überall, oder Mutter? Oder wie siehst du das?"
"Paul, bitte."

Eine entfernte Musik, die man nicht hören kann, weil sie zu schön ist für die grobe Wahrnehmung. Der Tunnel ist kein Gang, er ist ein allgegenwärtiges Feld, das keine Grenzen kennt, und einem Wärme schenkt.
Ich bin so froh, hier zu sein.

"Hey Alter. Ich hoffe, ich hab dich nicht beim wichsen gestört, oder so."
"Komm rein, und mach bloß die Tür zu. Ich kann diese gaffenden Schwestern nicht mehr ertragen, wenn sie auf dem Korridor vorbeilaufen."
"Hab´ das mit Sabrina gehört. Vergess die blöde Kuh. Die hat sich eh nie für dich interessiert."
"Sonst noch was Aufmunterndes für mich?"
"Klar doch! Vermutlich kein guter Jahrgang, aber Whisky ist Whisky, oder?"
"Schieb rüber, und versteck die Pulle. Wenn man mich damit erwischt, krieg ich die Hölle heiß gemacht."
"Hey, an Hitze solltest du doch jetzt gewöhnt sein."
...
"Sorry, war ein blöder Witz. Tut mir Leid."
"Schon gut. Mach lieber die Flasche auf und gieß ein."
"Scheiße, was brennt das Zeug. Sorry!"
"Hör auf dich für jeden Scheiß zu entschuldigen, Mann! Du kannst auch nichts dafür. Ich bin schließlich selbst am Steuer eingeschlafen."
"Kommen deine Eltern wieder?"
"Nein. Ist auch egal. Wegen Mutter tut es mir Leid, aber Papa kann sich ... er kann sich ... "
"Schon okay. Warte, ich hab hier irgendwo noch Taschentücher."
"Es ist nur ... es ist nur alles so verdammt ... ich wünschte, ich wäre tot."
"Kann ich verstehen. Würde ich mir auch wünschen an deiner Stelle."
"Wenigstens du bist wie immer geblieben."
"Hey, kennst mich doch!"
"Mach nochmal voll, den Becher."
"Aber immer doch."

Es wird intensiver.
Ich bin spät in der Nacht eingeschlafen, nachdem die Schwestern mir die volle Dosis an Tabletten gegeben hatten. Meine Eintrittskarte, die mich weg von dem Diesseits führt.
Gedankenrevue.
Auf keinen kannst du dich verlassen, nicht einmal auf die, die dich gezeugt haben.
Ich lasse die Probleme hinter mir, und zwinkere meinem besten Freund zu, der in seinem Zimmer liegt und schnarcht.
Er dreht sich im Bett um und lächelt. Wenigstens er hat zu mir gehalten.

Das Licht verändert sich. Es lässt sich nicht mehr sehen, und während ich aufgesogen werde als dichter, kosmischer Staub, verlieren sich meine Gedanken.
Die Bilder flackern kurz auf, in dem Moment des Vergessens.

Ich auf der Schaukel. In den Armen meiner Mutter, als sie mich noch gestillt hat.
Alex, mein bester Freund seit der Grundschule.
Auch Sabrina ist dabei.
Mein erster Kuss. Der Geschmack von Lippenstift.
Die Abschiedsfeier.
Die Sonnenuntergänge und der volle Mond mit seinen Kratern.
Die Tage am Meer. Im Watt, später bei dem Leuchtturm. Der zweite Kuss, und das Erwachsenwerden.
Der Wagen, gegen den Baum geprallt.
All die Momente, die verloren gehen.

Sie sind weg.

Und so verschwinde auch ich.

"Schlüsselerlebnisse und das bewusste Ich.
Zwei Zutaten, die erst im Tod zu einem Gericht werden können, oder was meinst du, Alter?"

 

auf Wunsch des Autoren verschoben nach Philosophisches

 

Hallo Adrian!

Groß.
Was anderes fällt mir nicht ein.

Ganz aufrichtigen Dank für dieses Kompliment.

Es freut mich, wenn dich die Geschichte beeindruckt hat.
Diese "Schlüsselerlebnisse", die markanten, einprägsamen Stationen eines Lebens, die einen großen Teil des bewussten Ichs ausmachen, weil man sich mit ihnen identifiziert, weil man sie stellvertretend für ganze Lebensabschnitte betrachtet, ich finde sie ungemein faszinierend.
Das Thema Nahtod ist nicht ganz neu, ich fand es in diesem Zusammenhang aber interessant, und hielt es für geeignet.

Viele Grüße

Cerberus

 

Mal nich triefend vor Schmerz/Selbstmitleid, und dennoch schmerzlich/versöhnlich...
Nich schlecht. Prost.
Lord

 

Hi Cerberus,

ich sprach einmal mit einer Frau, die schon seit Jahren gegen Krebse kämpfte und mir erzählte, sie wisse seit dem Tag, als sie neben einer Verbrannten im Zimmer lag, wie gut es ihr doch ginge und sie dankbar um ihre Krankheit sein konnte.

So verwunderte mich die Ruhe, die deine Geschichte auf mich ausstrahlte.
Ich kam ich zum Schluß, dass es nur so sein kann, dass der Prot derartig mit Schmerzmitteln vollgepumpt ist, dass er sowieso schon halb im Delirium hängt und eine quere Wahrnehmung hat, ansonsten müßte der Schmerz doch für mich spürbarer werden.

"Es ist nur ... es ist nur alles so verdammt ... ich wünschte, ich wäre tot."
"Kann ich verstehen. Würde ich mir auch wünschen an deiner Stelle."

Wie gut, dass es einen Freund gibt, der ehrlich ist. Er könnte noch ein Stück weitergehen...


Wär ja tröstlich, wenn man so verschwinden kann, wie du es beschrieben hast. Still und leise.

Lieber Gruß
ber

 

Lord Arion schrieb:
Mal nich triefend vor Schmerz/Selbstmitleid, und dennoch schmerzlich/versöhnlich...
Nich schlecht. Prost.
Lord

Schließe mich der Meinung an. Endlich mal etwas in der Rubrik, was nicht trieft und sogar unterhält. So muss dat sin.

 

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