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Nanobots - Zum Leben verdammt
„Herzlichen Glückwunsch zum zweihundertfünfzigsten Geburtstag.“
Linda Carter stellte sich auf die Fußspitzen und schloss ihren Ehemann mit einem Lächeln in die Arme. Alle Familienmitglieder waren scheinbar anwesend, registrierte Samuel. Die vierzehn Töchter und neun Söhne ... Wie viele sind das nun eigentlich, inklusive Schwiegertöchtern, Schwiegersöhnen, Enkelkindern, Urenkelkindern und was da noch so rumkriecht? grübelte er. Er konnte dieser Soap noch nie viel abgewinnen.
Samuel verdrehte die Augen und hob das Gesicht zur Decke des Holoraumes. Unruhe hatte ihn hierher getrieben und nun bereute er es, sich wieder einmal diesen Mist anzuschauen. Vielleicht hatte er auch nur Ellas Nähe gesucht, er wusste es nicht. Vierhunderzwölf Lebensjahre hatten ein dunkles Loch in ihm hinterlassen. Oft starrte er minutenlang vor sich hin, dann wieder könnte er alles zerschlagen, was in seiner Reichweite war. Mit schlaffen Gesichtsmuskeln schaute er zu Ella hinüber.
„Seit achtzig Jahren schaust du dir diesen Kitsch nun an. Bekommst du nie genug davon?“ raunte er. Ella stand dicht neben dem Hologramm des jüngsten Sohnes und starrte ihn lüstern an. Sie hätte ihm wohl am liebsten an den Arsch gepackt.
„Es ist die beste Serie, die jemals ausgestrahlt wurde“, murmelte sie, ohne den Blick von Benjamin abzuwenden. „Du musst ja nicht bleiben, wenn sie dir nicht gefällt.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und bewegte ihr Gesicht ganz nah an das Gesicht des etwa Neunzigjährigen heran.
Ein junger Spund, auch wenn er schmalzig aussieht, dachte Samuel. Fehlt nur noch, das sie auf die Knie geht und den Mund aufmacht. Mit einem Ruck erhob er sich aus dem Sessel und verließ den Projektionsraum.
Ihn quälte Langeweile und das seit Jahrzehnten. Er fühlte sich auslaugt, gefangen in einem grauen Dunst aus Routine und endloser Wiederholung. Etwas ihn ihm war zerbrochen, hatte seine Begehren weggefegt und seine Träume verblassen lassen. Dumpfe Erinnerungen. Er hatte keine Lust mehr auf Holofilme, auf Spaziergänge, er wollte nicht einmal mehr die Wonung verlassen und scheute die menschliche Gesellschaft mit ihren immer wiederkehrenden Phrasen. Die ständige Fresserei kotzte ihn an. Er stürzte etwas Flüssiges hinunter, wenn der Hunger ihn quälte, das war gerade noch zu ertragen. Auch Ella wollte er nicht mehr vögeln, tat es aber trotzdem, weil dieses verdammte Organ ihm einfach keine Wahl ließ. Sie mussten nun schon über zweihundert Jahre verheiratet sein. Zum Glück hatte sie in dieser Zeit nichts an Attraktivität eingebüßt. Trotzdem stand es ihm bis zum Hals.
Samuel schlenderte zur Bar in der Wohnzimmerecke und goss sich einen Whisky ein. Einen Vierfachen, den gönnte er sich gern. Und dann noch ein paar hinterher. Besoffen konnte er sein Leben noch halbwegs aushalten. Er wusste nicht mehr, ob die Nanobots in seinem Körper nun ein Segen oder ein Fluch waren. Achthundert Jahre Lebenserwartung ..., er presste einen Luftstoß durch die geschlossenen Lippen. Fünfhundert Gramm Bots machten es möglich. Er wurde nicht krank, Verletzungen heilten schnell, er alterte nicht. Sterben konnte er nur durch äußere Einflüsse. Das fand er lange gar nicht schlecht, doch es half ihm nicht dabei, seine Zeit totzuschlagen.
Samuel kippte den Alkohol hinunter und verzog mit einem Zischen das Gesicht. Der nächste Vierfache goss sich wie von allein ein, kein Problem. Das Geschenk der Technik hielt auch seine Leber im Bestzustand. Zum Glück waren die Bots nur darauf programmiert, Alkoholspiegel über drei Promille abzubauen. Samuels größte Befürchtung diesbezüglich war, dass die Regierung einen geringeren Höchstpromillesatz beschloss und die Bots eine neue Aufgabenstellung bekamen.
Er ließ das gefüllte Glas auf dem Tresen stehen, griff sich die Flasche und schlurfte zur Sicherheitsscheibe. Samuel blickte hinab in die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern, die wie anklagende Finger in den trüben Himmel griffen. Aus der Ferne rollte der Donner eines aufziehenden Sturmes heran. 226 Milliarden Menschen in einer einzigen brodelnden Stadt, die den gesamten verschissenen Planeten umspannte.
Er nahm einen Zug aus der Flasche, bis er das Brennen im Rachen nicht mehr ertrug und riss sie sich vom Mund. Der Alkohol lief ihm am Kinn hinab, während er nach Luft schnappte und Speichel spuckte. Er hatte die Schnauze voll. Gestrichen voll. Immer öfter gab er sich der Vorstellung hin, es zu beenden. Aber er hatte Angst vor dem Sterben. Und noch mehr vor den Schmerzen. Aber sollte es noch vier Jahrhunderte so weitergehen?
Allein die letzten dreiundneunzig Jahre als Gleitbahnfahrer machten ihn krank. In seinen Träumen karrte er nur noch dieses Mistding durch die Gegend und wusste nach dem Aufwachen oft nicht mehr, ob seine Arbeit nun gleich begann oder gerade zu Ende war. Alle Arten von Beschäftigungen hatte er durch. Sport, Spiele, Hobbys, Seitensprünge, so ein Scheiß. Allein der Alk hielt ihn noch halbwegs gerade.
Samuel schaute hinab auf den niemals enden wollenden Strom aus Fahrzeugen und tippte mit dem Flaschenhals auf die Scheibe. Einfach springen. Nur einige Sekunden Selbstbeherrschung. Alle Ängste beiseite schieben, verdrängen, nur für einen kurzen Moment. Ein winziger Schritt nach vorn und es war nicht mehr aufzuhalten. Ein müdes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Die Fenster waren nicht zu öffnen und um die Scheiben zu zertrümmern, bräuchte er eine Bazuka. Auch das verdankte er seiner Regierung. Er wollte die Flasche erneut an den Mund setzen.
„Samuel.“
Die Soap war scheinbar zu Ende. Er blickte stumpf auf eine der Holowerbungen zwischen den Wolkenkratzern.
„Ich habe Lust auf Sex.“
Samuel nickte deprimiert und ließ die Flasche aus der Hand gleiten. Es polterte und begann zu gluckern. Er schaute nicht hin.
„Okay.“