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Serie Nico Lindner: "Ein Tier, das ich nicht sein will"

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05.05.2001
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Nico Lindner: "Ein Tier, das ich nicht sein will"

Gedanken sind frei und schwer zu bändigen. Erst vor kurzem, als ich aus dem Auto stieg (es hatte gerade geregnet), trat ich unabsichtlich auf ein Schneckenhaus. Das Gehäuse und ihr Inhalt hatten keine Chance. Produktiv war dieses Erlebnis aber dennoch – denn ein merkwürdiger Gedanke kam mir.

Wie muß es wohl sein, als Schnecke zu existieren ? Etwa als eine, die gerade stolz in ihr neues Haus ziehen will und plötzlich wie oben beschrieben merkt, dass ihr Haus gar nicht so sicher ist, wie der Verkäufer es behauptete?

Sicherlich niederschmetternd, wobei die wenigsten dieser Tiere nach so einem Erlebnis noch Zeit haben, darüber nachzudenken. Während der gewiefte Hausverkäufer seine schleimigen Schneckenfühler reibt, bleibt vom Käufer nicht viel übrig als ein Klumpen, verziert und gespickt mit dem, was einmal "als vier Wände, die nie wackeln werden" gepriesen wurde.

Auch sonst ist ein Schneckendarsein seltsam. Stellt Euch vor, wir würden ständig eine Schleimspur hinter uns herziehen. Wie würde das denn aussehen? Wir kämen kaum dazu, Häuser zu besichtigen, da die Vermieter nichts mehr hassen, als den ganzen Schleim wieder wegzumachen. Dagegen eine Schutzfolie tragen? Wie denn, als Schnecke? Wir hätten nicht mehr als einen großen Fuß, der zur Fortbewegung wellenförmig bewegt wird. Und mit einer Folie witzlos wäre. Auch Verstecken spielen wird mit Schleimspur aussichtslos, wenig Hoffnung für einen Sieg besteht ebenfalls bei Sportarten wie Hürdenspringen oder Kugelstoßen. Und vom Schuhkauf will ich erst gar nicht schreiben.

Dann die Entfernungen. Und die Geschwindigkeit. Keine Schnecke würde sich auch nur kurz überlegen, zu Verwandten zu kriechen, die im Nachbarort leben. Denn das käme einer Weltreise gleich - ehe man ankommt, stirbt man, wird von Zwei- oder Mehrbeinern zertrampelt, überfahren, gefressen, zermatscht, aufgepickt, gekocht, verschluckt, weggeschossen, man vertrocknet, oder noch Schlimmeres stößt einem zu.

Denn fast alles, was neben der Schnecke auf der Erde lebt, ist schneller als die Schnecke selber und damit für ein potentieller Feind. Ausweichen oder Fliehen ist witzlos. Verstecken im Schneckenhaus? Wie das enden kann, solltet Ihr bereits wissen...

Dämlich auch die Aussicht, mit zwei Augen zu sehen, die gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen schauen können. Klingt zwar erst recht vorteilhaft, das folgende Chaos der Eindrücke kann ich mir aber nur zu gut vorstellen. Ständig auch diese Fragen von der lieben Schneckenfrau: "Schaust Du mich an oder etwa diese Schleimerin von Nachbarin?" und Vorwürfe wie "Nie schaust Du mich mit beiden Augen an!". Hilfe!!!

Zuletzt noch der unwiderstehliche Drang, nach frischen Regenfällen wie wild loszukriechen, irgendwohin, in der Hoffnung, beim Aufwachen nicht in einer Pfütze aufzuwachen und tot zu sein. Was selten klappt. In den meisten Fällen trocknet das niedergegangene Wasser schnell durch die schöne Sommersonne, die wieder zum Vorschein kommt. Und auch uns als Schnecke den Garaus macht, weil wir nicht gerade für Hitzewellen geschaffen sind. Von juckenden Stellen auf unserem Schneckenkörper möchte ich lieber nicht anfangen; wie unangenehm es ist, eine Stelle zu haben, die man nicht erreichen kann, mag sich jeder ausmalen.

Nein, Schnecke möchte ich wirklich nicht sein.

 

Ein wirklich gelungene Geschichte. Gelungen vor allem deshalb, weil sie ein bisschen aus der Reihe tanzt. Eine gute Idee und eine etwas paradoxe Denkweise kombiniert mit dem Schuss Humor.

 

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