- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Noch ein Abenteuer
„Was für ein dämlicher Ort, um eine Burg zu bauen!“ Missmutig trat Beryl nach einem Stein, der sich in einer Wurzel verfangen hatte und jetzt darüber hinweg hüpfte, kleinere Kiesel mit sich reißend. Hagyl nickte und brummte etwas in seinen vom Frost ergrauten Bart.
Tatsächlich führte der steile, verschlungene Pfad, den sie sich hinauf quälten, zu einem Felsmassiv, das wie eine Krone auf der Spitze eines einzelnen, dem Gebirge vorgelagerten Berges thronte. Darauf saß eine Wehrburg, wie keiner der beiden Zwerge je eine gesehen hatte: Die äußeren Befestigungswälle schienen direkt aus dem kahlen, schwarzen Felsmassiv zu wachsen. Dahinter drängten sich weitere Befestigungsmauern und Wachtürme so eng aneinander, als hätten sie Angst vor dem schieren Abgrund, der im Norden, Osten und Westen drohte.
Beryl konnte es ihnen nicht verdenken.
Sie bedachte ihren Weggefährten mit einem düsteren Blick und fragte sich wohl zum hundertsten Mal, wieso sie ihn auf diese Reise begleitete. Sie kannte Hagyl schon seit vielen dutzend Jahren, und wahrscheinlich besser als irgendjemand anders, auch wenn sie einander in den letzten Jahrzehnten selten gesehen hatten; er weilte die meiste Zeit bei Hofe, sie zog durch die Welt, oder doch von Banquett zu Banquett, und dichtete.
Als sie dann wieder einmal bei Hofe aufgetaucht war, hatte er gesagt: Du bist ein Wink des Himmels, lass uns ausziehen auf ein letztes Abenteuer. Noch einmal, hatte er gesagt, nur noch einmal. Ehrlich.
Hagyl bedeutete ihr, endlich weiter zu gehen. „Du schnaufst wie eine alte Vettel. Vielleicht solltest du etwas mehr für deine Gesundheit tun.“ Damit wandte er sich wieder dem Aufstieg zu. Beryl machte hinter seinem Rücken eine unhöfliche Geste und folgte ihm, wobei sie versuchte, leiser zu atmen. Das gab ihrem Keuchen allerdings eine asthmatische Note, und handelte ihr ein vielsagendes Grinsen Hagyls ein. Wütend stapfte sie hinter ihrem Freund her.
Hagyl war ein Krieger, früher ein Held, jetzt Ausbilder junger Zwerge, die es für ihre Pflicht hielten, dem Hochkönig und seiner Königin, die traditioneller Weise den Posten des ersten Heerführers bekleidete, zu dienen. Kein Wunder, dass er so verdammt ausdauernd ist, fluchte Beryl innerlich, und schämte sich gleichzeitig ihres Neides. Wenn er auch nicht mehr der Jüngste war, die Königin bekam trotzdem noch immer leuchtende Augen, wenn sie ihn sah … Beryl seufzte tief. Sie selbst war Skaldin, fahrende Sängerin, für den Hochkönig auf der Suche nach Sagen, Märchen und Gesängen. Außerdem liebte sie Honigspeisen und Met, und die bekam sie für ihre Darbietungen auch häufig. Leider war weder das eine noch das andere dazu angetan, ihre Ausdauer zu stärken. Aber die Königin hatte sie inständig gebeten, einmal noch, hatte sie gesagt, nur ein einziges Mal noch, und der König hatte grimmig genickt.
Also hatte sie zugestimmt, noch einmal ein Abenteuer, wie sie es früher so oft erlebt hatten, im Namen der Königin. Aber es war natürlich nicht wie früher. Hagyl war wortkarg auf dieser Reise, früher hatte er begeistert und sehr unterhaltsam von seinen Heldentaten getönt: schon begangenen und denen, die noch folgen sollten. Diesmal passierte es manchmal, dass er feuchte Augen bekam, wenn sie abends eines ihrer sentimentaleren Lieder sang. Früher hätte er sie aufgefordert, die Klappe zu halten. Aber so war es eben mit letzten Abenteuern, sie stimmten melancholisch. Manchmal strich er abends am Feuer über seine Axt, zärtlich, und erzählte stolz, wie er sie von der Königin selbst erhalten hatte. „Sie ist eine unglaubliche Frau, die Königin. Wirklich, Beryl, eine unglaubliche Frau …“ Beryl schaute dann über das Feuer zu ihm hin, aber sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nie erkennen.
„Willst du noch eine Pause machen?“, fragte Hagyl, als die Schatten länger wurden. Beryl verneinte und gebot ihm mit einer ungeduldigen Geste zu schweigen. Ihr ging ein unvollendetes Lied durch den Kopf, das sie unbewusst vor sich hin summte.
„Bist du sicher? So eilig haben wir es ja auch nicht.“ Er bot ihr einen Schluck aus seiner Wasserflasche an und strich sanft irgend etwas von ihrem Reisemantel. Beryl starrte in die Schlucht neben ihr und beachtete ihn nicht. Statt dessen summte sie eine kleine, schwermütige Tonfolge und stampfte dazu den Takt mit den kalten Füßen. Dann schaute sie mit glänzenden Augen auf und erklärte: „Jetzt hab' ich's! Pass auf, so“, sie summte die Tonfolge noch mal und fügte am Ende einen Triller an. Dabei lief sie wieder los, jetzt völlig gleichgültig gegenüber der Anstrengung des Aufstiegs.
Hagyl sah sie von der Seite an und lächelte. „Gefällt mir! Merk dir das für mein Abenteuer!“ Dann zog er mit langen Schritten an ihr vorbei und stapfte wieder vor ihr her. Das klingt eher nach dem alten Hagyl, dachte Beryl, und konnte doch eine schleichende Unruhe nicht abschütteln.
Der Aufstieg nahm fast den ganzen Tag in Anspruch. Die Sonne verschwand schon am späten Nachmittag, aber kurz bevor sie hinter das gewaltige Gebirgsmassiv glitt, ließ sie die Umrisse der Burg rot aufglühen: Schwarze Schatten lauerten in den den Reisenden zugewandten Nischen, und setzten sich scharf fort, wo die Burgtürme der untergehenden Sonne trotzten.
Beryl schauderte. Ja, das, was sie suchten, würde an genau so einem Ort zu finden sein. An einem unheimlichen Ort ohne jegliche Sanftheit. Sie wandte den Blick ab und starrte fest auf einen Punkt zwischen Hagyls Schulterblättern. Beryl packte das Schwert an ihrer Seite etwas fester. Eine Skaldin mochte sie sein, aber keine Närrin. Natürlich wusste sie mit einer Waffe umzugehen. Sie konnte nur hoffen, dass sie das nicht würde beweisen müssen.
Als sie das Burgtor erreichten, standen die Sterne klar und fern über den Wehrtürmen. Das Tor war verschlossen, und würde das auch bis zum Sonnenaufgang bleiben. Die Wächter öffneten noch nicht einmal die Gesichtsluke. Hagyl machte also rechts neben dem Tor ein kleines Feuer und rollte seinen Schlafsack aus. Als er es sich gemütlich gemacht hatte, grunzte er: „Wenn du ein bisschen schneller gewesen wärst, dann wären wir noch rein gekommen. Du solltest wirklich weniger von diesem widerlichen Honigzeug essen, weißt du“, und war eingeschlafen, noch bevor er richtig lag. Beryl ballte wütend die Fäuste. Wenn sie doch nur etwas zu erwidern gewusst hätte! Sie legte ihren eigenen Schlafsack so weit wie möglich weg von Hagyls und rollte sich zusammen. Ein heller Mond ließ sie nur unruhig schlafen. Einmal wachte sie von einem Geräusch auf, dass wie ein Schluchzen klang. Schaudernd kroch sie tiefer unter ihre Decke. Es musste ein Käuzchen gewesen sein …
Der nächste Morgen legte strahlenden Sonnenschein über die Burg. Beryl hätte erwartet, dass sie dadurch weniger feindselig gewirkt hätte; statt dessen jedoch untermalte die Helligkeit des Tages noch die scharfkantige Unwirtlichkeit des Ortes. Hagyl stand am Rand der Felsen, die sich direkt vor ihm in die Tiefe stürzten. Er zitterte ein wenig, und schien im schneidenden Wind zu schwanken. Vielleicht hat er Recht, vielleicht wird er alt, dachte Beryl, und spürte plötzlich einen Kloß in ihrem Hals. Noch einmal … und was dann? Die Königin würde ihm wohl ein Altenteil zukommen lassen … Zögernd machte sie ein paar Schritte auf ihn zu. Bevor sie ihn jedoch erreichen konnte, drehte er sich um und grinste sie schief an. „Na los, du alte Zupfgeigerin, gehen wir rein und holen uns das Ding!“ Beryl grinste zurück. „Und wehe denen, die’s uns streitig machen wollen!“ komplettierte sie ihren alten Schlachtruf.
Zunächst jedoch passierten sie ganz gesittet das Haupttor. Die Torwächter warfen einen Blick auf die beiden Zwerge, sahen keine Waffen und winkten sie freundlich durch. Hagyl und Beryl grinsten sich zufrieden an. Hagyls Axt war, wie immer, auf seinem Rücken unter dem Reisemantel verborgen, Beryls Schwert steckte, ebenfalls wie immer, im Rahmen ihrer Harfe. „Such du schon mal den Tempel, ich gebe die Botschaft des Hochkönigs beim Burgvogt ab.“ So lief es immer ab, und so würde es auch diesmal geschehen. Die Königin erteilte den Befehl – nein, äußerte den Wunsch - dass ein bestimmtes Kleinod in einem bestimmten Tempel ins Reich der Zwerge zurückgebracht werden sollte, das vor Jahrhunderten von den Menschen geraubt worden war. Hagyl machte sich auf den Weg, Beryl begleitete ihn und dichtete hinterher ein Lied über seine Heldentat und der Hochkönig teilte den Menschen in einer von Beryl überbrachten Botschaft mit, dass sich das Kleinod nun wieder in den rechtmäßigen Händen befand. Meist, besonders, wenn es sich um wertvolle Gegenstände handelte, war dem Brief oft auch Gold als Entschädigung beigefügt, so auch diesmal. Der Hochkönig glaubte, so unnötigen Zwist mit den Menschen vermeiden zu können, und gab gleichzeitig seinen Recken Beschäftigung in einer Zeit, in der die Drachen rar geworden waren.
Also ging Beryl jetzt zum Haus des Burgvogts, verbeugte sich höflich, und überreichte seinem Hausdiener den Brief im Wissen, dass der Vogt ihn erst zu sehen bekommen würde, wenn es zu spät war. Sie wartete, bis der Diener mit dem Brief im Haus verschwunden war und machte sich dann auf, Hagyl in einer der Schenken unterhalb der Burg zu finden.
Der Ort war geometrisch um die Burg angelegt, was ihnen die Suche nach dem Tempel sehr erleichterte. Niemand in dieser Ansiedlung hoch gewachsener Menschen dachte auch nur im Traum daran, zwei alternden Zwergen den Eintritt in das Heiligtum zu verwehren, und als sie ihn erst durch das Portal betreten hatten, war der Rest Routine. Hagyl kümmerte sich um die paar Tempelwächter, Beryl hielt den Fluchtweg mit ihrer Klinge frei. Hagyl verschwand in einer Kammer und kam überraschend schnell, viel zu schnell, dachte Beryl, mit einem erstaunlich flachen, in weiße Seide eingewickelten Gegenstand zurück. Jetzt mussten sie nur noch still und unauffällig zuerst den Tempel und dann die Stadt verlassen. So machten sie es immer, so war es immer gut gegangen. Hagyl warf Beryl das Paket zu. Es war ziemlich leicht und knisterte ein bisschen. Als sie es neugierig öffnen wollte, zischte er so feindselig „Finger weg!“, dass Beryl ihn erschrocken ansah. „Finger weg“, wiederholte er sanfter. „Es ist für die Königin.“
Er wandte sich ab und starrte lange mit geballten Fäusten in die Luft, als bewunderte er die Deckenfresken über ihm, die das Leben nach dem Tod zeigten. „Komm schon … wir müssen hier weg!“ stammelte Beryl. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Wieso benahm er sich bloß so seltsam? Was war nur los mit ihm auf dieser Reise? Sie sollten schon längst den Tempel verlassen haben! Hagyl wandte sich ihr zu und lächelte. „Bist eine famose Zupfgeigerin“, sagte er fast zärtlich und brummte dann: „Also los, verdien dir dein Honigzeug! Gib mir jetzt das Ding zurück, es gehört der Königin.“ Beryl reichte ihm verwirrt das Seidenbündel und schaute zu, wie er es sorgfältig in seinen Hosenbund klemmte. Dann rannte er plötzlich wild brüllend und seine Axt schwingend aus dem Tempel, und Beryl fragte sich entsetzt, ob er den Verstand verloren hätte, bis sie Kampfgeschrei und das Klirren von Waffen vernahm und hinter Hagyl herhastete.
Als sie durch das Portal rannte, war schon alles vorbei. Hagyl lag am Boden, röchelnd, in einer Blutlache, und vier Soldaten standen um ihn herum. Beryl ließ sich kraftlos neben ihm zu Boden sinken. Sie versuchte zu sprechen, aber ihr trockener Mund erlaubte es nicht. Verzweifelt drückte sie ihre Hände erst auf die eine, dann die andere Wunde, um den Blutstrom zu stocken. Hagyl schüttelte langsam den Kopf, seine Augen waren glasig vor Schmerz. Einer der Soldaten packte Beryl am Arm und sagte mit verschlagenem Blick: „Keine Sorge, wir haben ihn erwischt. Danke für die Warnung, Skaldin, wir sind dem Hochkönig höchst dankbar. Er hat auch nichts stehlen können, da ist nur dieses ... Pergament.“ Beryl starrte ihn fassungslos an. „Was … aber …“ Sie nahm das Packet aus den Händen des Soldaten. Die weiße Seide war blutgetränkt, und darin, ebenfalls voller Blut, lag ein gefaltetes Pergament, um einen schwarzen Stein gewickelt. Beryl schluckte. So wurde das Urteil für Ehebrecher übergeben. Hagyl mußte es die ganze Zeit bei sich getragen haben.
„ ... ein Todesurteil vom Hochkönig...“, hauchte sie. Benommen starrte sie auf ihren Gefährten, der verlegen wirkte, als er nickte. Beryl musste die Lippen befeuchten, um sprechen zu können. „Ein letztes Abenteuer statt dem Strang, du alter Narr …“ flüsterte sie. Ihre Kehle war so eng, dass sie kaum noch Luft bekam. Eine Träne rollte über ihr Kinn und fiel auf Hagyls Nasenspitze. Beryl fühlte, wie seine Hand nach ihrer tastete, und drückte sie sanft. „… famose alte Zupfgeigerin …“ lächelte er sie an, und Blut lief aus seinem Mund, und dann sagte er nichts mehr.
„Ihr solltet jetzt gehen, Zwergin. So schnell Ihr könnt“, raunte der Soldat ihr zu. Beryl nickte zitternd. Sie kniete noch einmal neben ihrem Freund nieder, und nahm seine Axt an sich, das Seidenpaket und ein kleines Amulett, das er immer getragen hatte, immer, seit sie ihn kannte. Dann verließ sie die Burg auf ihrer schwarzen Felskrone.
Als der Berg außer Sichtweite war, begann sie eine Melodie zu summen, schwermütig, mit einem kleinen Triller am Ende.
Sie erreichte den Sitz des Hochkönigs und seiner Frau zum Fest der Tag- und Nachtgleiche. Die Königin sah blass aus, als Beryl den Thronsaal betrat, der Hochkönig grimmig. "Ihr habt mich zur Mittäterin gemacht", sagte Beryl, und weinte.
Als Beryl in dieser Nacht das Zwergenreich auf immer verließ, summte dort überall ein schwermütiges Lied, und Gerüchte wollten, dass die Königin sich das Leben genommen hätte.