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Noicemail von Tante Hertha

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26.10.2017
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Noicemail von Tante Hertha

Lustlos schaute sich Paul ein Video auf seinem Handy an, in dem eine stark übergewichtige, schwarze Katze unbeholfen zu einem Playback zu Beethovens 9. Sinfonie an einem Flügel saß und mit ihren Tatzen auf die Tastatur drückte. Plötzlich wurde er von seinem Freund Can aus seinen Gedanken gerissen.

„Oh mein Gott. Wie krass ist das denn?!“, schrie Can aufgeregt.
„Was denn?“, fragte ihn Basti.
„Das Foto hier! Das musst du dir ansehen! Warte! Das hat ein Kumpel von mir hier bei Edeka, in Wipperfürth gefunden. Bei den Annoncen direkt am Eingang. Ich schick’s dir eben!“, erwiderte Can.
„Bruh. Voll peinlich. Alter, teil‘ das mal. Schick‘ das an die anderen in der Gruppe. Das müssen die sehen. Unfassbar so was!“, kommentierte Basti.

Sensationslüstern starrten die drei Jungen in Bastis Kinderzimmer auf die Displays ihrer Smartphones, ohne sich dabei auch nur ein einziges Mal direkt anzuschauen. Paul war der einzige, der noch gebannt auf die vermeintlich neueste virtuelle Entdeckung warten musste. Als das Foto einer Annonce auch endlich auf seinem Handy aufpoppte, trat bei ihm allerdings vollkommene Ernüchterung ein.
„Seid ihr zwei dämlich? Erstens heißt das nicht „bei Edeka“, sondern in der Edeka-Filiale in Wipperfürth, lieber Can, und zweitens ist das doch nicht peinlich. Das einzige was wirklich peinlich ist, ist dein erschreckend niedriges Sprachniveau. Ich finde das, was du mir geschickt hast, ist in Wahrheit einfach nur traurig.“
„Paul, halt‘s Maul!“, entgegnete Can.
Paul reagierte nicht auf diese Provokation. Er war völlig in die mit blauer Tinte verfasste Annonce vertieft. Das handgeschriebene Dokument auf kariertem Papier, welches zum Teil derart verschmiert war, dass der Eindruck entstehen konnte, dass der Verfasser beim Erstellen der Anzeige einige Tränen verdrückt hatte, enthielt lediglich ein paar Zeilen. Diese aber brannten sich schlagartig in Pauls Gewissen.


Einsamer Witwer mit geringer Rente sucht für das anstehende Osterfest eine Familie, die ihm für ein paar Stunden Gesellschaft inklusive warmer Mahlzeit leistet und zum Gottesdienst am Ostersonntag in die Pfarrkirche in Wipperfürth begleitet. Als Gegenleistung gibt es eine Menge spannender Geschichten aus 88 Jahren Lebenserfahrung.
Winfried Weber
Ringstraße 27
51688 Wipperfürth
02267/71888


„Was für ein Trottel ist das denn? Der gibt einfach seine komplette Adresse an. Das ist doch leichtsinnig! Den pranken wir mal so richtig, oder?“
„Das ist ein alter Mann. Das kannst du nicht bringen! Was ist denn bei dir kaputt! Diese Menschen haben Respekt verdient!“, fuhr Paul ihn an.
„Paul hat Recht. Das geht zu weit. Bei uns in der Türkei würde so etwas nie passieren. Da kümmert man sich um seine Familie. Wallah, vor Älteren hat man dort noch richtig Respekt! Da wäre niemals ein älterer Mann so allein. Schande über seine Familie!“
„Vielleicht hat er einfach gar keine Familie mehr? Oder sie sind zerstritten? Denkt doch mal logisch! Keiner schreibt so etwas ohne Grund. Der Mann muss schon ziemlich verzweifelt sein. Ich finde es heftig. Ihr wisst doch gar nicht was dieser Mann alles schon erlebt hat. Der Mann ist fast sechsmal so alt wie wir. Wie könnt ihr beurteilen, wie es in ihm aussieht? Ich wette, dass da ganz viel hinter steckt! “, sagte Paul.
Bislang kannte Paul solche Hilferufe nur aus dem Fernsehen und aus Großstädten wie Frankfurt, Berlin oder Köln. In Wipperfürth hätte er so etwas nicht vermutet. Das Bild hatte sofort alte Wunden bei ihm aufgerissen.
Während Basti und Can sich noch angeregt über die Anzeige des Mannes austauschten, leitete Paul das Bild an eine Person weiter, die unter dem Namen „Tante Hertha“ unter seinen Kontakten gespeichert war. Binnen weniger Sekunden wurde das Foto durch zwei blaue Häkchen als erhalten und angeschaut gekennzeichnet. Prompt erhielt Paul eine Sprachnachricht. Sie dauerte zwei Sekunden. Er spielte diese vor seinen Freunden ab.
Nichts.
Darauf folgte ein erneuter Versuch. Diesmal dauerte die Nachricht fünf Sekunden.
Wieder nichts.
Die dritte Sprachnachricht, die direkt auf die anderen beiden folgte, dauerte wieder nur zwei Sekunden.
„Und wieder nichts“, rief Basti, der sich kaum noch einkriegte.
Irritiert schauten sich die drei Jungen zum ersten Mal nach Stunden in Bastis Zimmer direkt in die Augen. Doch ehe sie die Situation weiter kommentieren konnten, folgte innerhalb einer Minute eine Salve von neuen Nachrichten, die allesamt kaum zu verstehen waren, da im Hintergrund der Fernseher, vermutlich auf der höchsten Lautstärkenstufe eingestellt, lief.
Außer dem Satz „Die nächste Ausgabe der Tagesschau sehen Sie um 16 Uhr…“ konnte Paul nur folgende Silben und Wortfetzen identifizieren.

„Hal
lo
Hier ist
T
T
T
ante
Hertha“

„Sehr informativ. Aber ein Smartphone mit einer Arthritis zu bedienen, ist verdammt schwer“, dachte sich Paul verständnisvoll, während Can und Basti in lautes Gelächter ausbrachen.
„Von wem stammt denn diese Noicemail?“, fragte Can, der sich kaum noch einkriegte.
„Noicemail? Was is’n das?“, fragte Paul.
„Kennst du das nicht? Eine nervige Voicemail! Voll peinlich! Meine Mutter und meine Schwester schicken mir oft so was! Nervig ey! Die sind lang. Man versteht nichts und man kann sie nicht einmal überall abhören. Einfach nur nervig! Meine Mutter klingt dabei oft wie ein Roboter, wenn sie mir was schickt. Richtig krank!“, erklärte Basti.
Paul dachte nach.
„Achso. Jetzt verstehe ich es. Ein Kofferwort aus „noise“ wie Lärm und „Voicemail“, was so viel wie Sprachnachricht bedeutet, oder?“, fragte Paul.
„HÄH?..Nein. Nix Koffer, du Pseudodeutschlehrer! Noicemail!!! Einfach nur Noicemail. Keine Ahnung, wie ich das besser erklären soll!“, pflaumte Basti ihn an.
Paul schlug verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen.
„Na gut, ihr Banausen. Muss los. Cya!“, sagte Paul leicht genervt und sprang auf. „Bin spät dran!“
„Wieso das denn?“, fragte Can.
„Heute findet wieder ein Austauschtag mit Tante Hertha statt.“
„Was tauscht ihr denn aus! Körperflüssigkeiten oder was?“, fragte Basti und fing an, hämisch zu grölen.
„Leute, Haut rein! Ich hätte mich gerne geistig mit euch duelliert, aber leider seid ihr zwei Oberstrategen, wie so oft, völlig unbewaffnet erschienen. Bis zum nächsten Mal.“

Paul ließ die beiden Jungen kommentarlos und völlig verdutzt auf der Couch zurück. Schließlich musste er sich beeilen. Tante Hertha wartete bestimmt schon auf ihn.
Auf dem Weg zu ihr schaute Paul wie paralysiert mehrmals auf das Foto der Annonce. Er machte sich einige Gedanken, die ihn sehr traurig machten.

***

Bei der Frau handelte es sich jedoch nicht um seine biologische Tante. Dennoch war die vertraute alte Dame für Paul sehr wertvoll.
Tante Hertha war bereits vor über 20 Jahren die Babysitterin von Pauls Mutter gewesen, die nun mit ihrem Sohn allein lebte. Geschwister hatte Paul keine und sein Vater war wie sein Großvater bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es gab nur zwei Personen, die dieses Unglück überlebt hatten. Pauls Großmutter väterlicherseits sowie Paul. Daran erinnern konnte Paul sich nicht. Seine Mutter, die Paul innig liebte, konnte nie mit ihm darüber sprechen. Wie sollte sie auch? Sie war fast nur damit beschäftigt, Paul und sich finanziell über Wasser zu halten. Mit dem Job als Krankenschwester in der Helios Klinik und ihrer Nebentätigkeit als Kellnerin im Hansecafé hatte sie kaum Zeit für ihr Privatleben. Paul sah sie nur selten, so dass er in den letzten Jahren quasi von Tante Hertha großgezogen wurde.
An seine biologische Oma konnte sich Paul kaum noch erinnern. Gesehen hatte er diese Frau schon lange nicht mehr. Bei der letzten Begegnung war er nicht einmal drei Jahre alt. Das einzige, was er über Karla wusste, war, dass sie in Wipperfeld lebte. Karla - so nannte Pauls Mutter ihre Schwiegermutter, falls sie ihren Namen überhaupt erwähnte. Dies kam äußerst selten vor. Von Tante Hertha hatte Paul erfahren, dass Karla eine sehr liebevolle Mutter und Oma gewesen war, bei Jung und Alt stets beliebt, bis ein einziger Tag das Leben von Pauls Familie völlig auf den Kopf stellen sollte.

Jeder wusste, dass Karla Gin über alles liebte. Eigentlich liebte sie ihn sogar ein bisschen zu sehr. Besonders schlimm wurde es vermutlich, nachdem ihre geliebte Patentochter aufgrund von Mobbingattacken in der Schule der Magersucht verfallen war und sich innerhalb weniger Monate anschließend mit einer Tablettenüberdosis umgebracht hatte. Wie schlimm der Verlust für Karla gewesen war, war lange Zeit niemandem bewusst.
Nach der Geburtstagsfeier von Pauls Vater im Restaurant Napoleon bot Karla sich freiwillig als Fahrerin an und wollte Paul, seinen Vater und Pauls Großvater nach Hause bringen, da man nach dem feierlichen Mittagessen zu Hause bei Pauls Eltern auf der Lüdenscheider Straße einkehren wollte. Keiner hatte beobachtet, dass Karla an diesem Tag vermutlich mindestens einen Gin zu viel getrunken und schon bei sich zu Hause mit dem Verzehr angefangen hatte.
Laut Polizeibericht muss Karla mit überhöhter Geschwindigkeit während eines Überholmanövers in den Gegenverkehr gerast sein. Karlas Ehemann und ihr Sohn waren sofort tot. Der Fahrer des entgegenkommenden Lastwagens überlebte schwer verletzt. Nur Paul, der als Zweijähriger in seinem Kindersitz angeschnallt gewesen war und neben seinem Vater saß, blieb nahezu unbeschadet. Pauls Mutter saß nicht im Wagen. Sie war bei Tante Hertha eingestiegen.
Karla trug bei diesem Unglück schwere Quetschungen und Knochenbrüche davon und war lange Zeit auf starke Medikamente angewiesen. Obwohl sie von Pauls Mutter offiziell ausgeladen worden war, erschien sie zwei Wochen später dennoch zur Beisetzung ihres Sohnes. Laut Aussagen von Tante Hertha muss Karla unmittelbar davor erneut zu mehreren Gläsern Gin gegriffen haben, um ihre seelische Trauer zu bekämpfen.
Danach kam es zu einem Eklat. Aufgrund der Kombination der schmerzlindernden Tabletten und des Alkohols übergab sie sich während der Trauerfeier mehrfach in ihrem Rollstuhl, so dass sogar der Notarzt und später, nach anschließender Entwarnung, auch die Polizei anrücken musste. Das Blutbild ergab 1,5 Promille. Seit diesem Tag hatte Karla endgültig keinen Kontakt mehr zu Pauls Familie.


Paul hatte sich nie getraut, mit seiner hartarbeitenden Mutter über Karla zu sprechen, ihr mitzuteilen, dass es ihn traurig machte, keinen Kontakt zu seiner letzten Großmutter zu haben. Pauls andere Großmutter war bereits bei der Geburt von Pauls Mutter gestorben. Wer Pauls Großvater mütterlicherseits war, wusste niemand. So kam es, dass Pauls Mutter bei einem Großonkel aufwachsen musste. Dieser war mit Tante Hertha befreundet gewesen und so ergab es sich, dass Tante Hertha oft auf Pauls Mutter aufpasste und ihre erste Babysitterin wurde.

***

Tante Hertha war die einzige, die wusste, wie sehr Paul darunter litt, Karla nicht kennenlernen zu dürfen. Seiner ausgelasteten Mutter, die er ohnehin nur abends ganz kurz sah, konnte er dieses Geheimnis nicht anvertrauen. Er wollte sie nicht belasten. Für eine gewisse Zeit fühlte Paul sich derart einsam, dass er nichts mehr aß. Zeitweise war er so dünn, dass er 10 Kilo zu wenig gewogen hatte. Besonders in dieser Zeit hatten er und seine Mutter sich sehr oft gestritten. Seine Mutter war sogar kurz davor, ihn einweisen zu lassen. Erst als sich Tante Hertha um Paul kümmerte und beide sich öfters trafen, verflog seine Einsamkeit allmählich.
Seitdem Paul aber in der Schule Anschluss gefunden hatte, sah er Tante Hertha nur noch ein paar Mal in der Woche. Auch die Situation mit seiner Mutter hatte sich deutlich entspannt.
***

Auf dem Weg zu Tante Hertha starrte Paul immer noch auf sein Handy. Er war derart in Gedanken versunken, dass er eine rote Ampel übersah. Nur ein heranfahrendes, hupendes Auto konnte ihn warnen, so dass er rechtzeitig stehen blieb.
„Was ist, wenn Karla auch schon einmal solch‘ eine Annonce verfasst hat?“, dachte sich Paul, während er nach dem Überqueren der Straßenseite wieder gebannt auf sein Handy starrte und die Anzeige näher betrachtete.
„Sie ist doch auch ganz alleine und hat niemanden mehr. Ihre Alkoholsucht hat so viele Leben verändert. Bestimmt hat dann auch niemand auf ihren Brief geantwortet, falls sie jemals solch einen verfasst haben sollte. Wenn es stimmt, was Tante Hertha sagt, meiden sie ganz viele in Wipperfürth. Doch hat auch sie nicht eine letzte Chance verdient?“, fragte er sich leise.
Paul war tief in Gedanken versunken. Er stellte sich vor, wie Karla einsam und verlassen in ihrer Wohnung lebte und keiner zu ihr Kontakt hatte. Im Hintergrund ihres Zimmers stellte er sich viele leere Flaschen Gin vor.
Eigentlich wäre es wieder Zeit für einen Austauschtag mit Tante Hertha gewesen. Doch Paul hatte diesmal völlig andere Sorgen, die ihn beschäftigten und die er mit seiner Tante bereden wollte.
***

An einem gewöhnlichen Austauschtag setzten sich Tante Hertha und Paul mindestens einmal pro Woche zusammen und jeder brachte dem anderen für genau 120 Minuten etwas Neues bei. Die Idee stammte von Tante Hertha. Jeder sollte in die Welt des anderen eintauchen. Eigentlich handelte es sich um eine Art von Generationenaustausch. Nach diesen 120 Minuten wurden die Rollen getauscht.
So nutzte Tante Hertha meistens die Zeit, um Paul etwas aus den Werken von Heinrich von Kleist oder Schiller vorzulesen oder mit ihm alte Loriot-Sketche und Miss Marple-Filme zu schauen. Letztere erinnerte Paul mit ihrer gewitzten und schrulligen Art auch ein bisschen an Tante Hertha. Manchmal erzählte Tante Hertha aber auch einfach von ihrem bewegtem Leben und der Zeit während des Zweiten Weltkrieges. Oft vergingen dabei mehr als zwei Stunden, aber Paul nahm es ihr nie übel, wenn Tante Hertha alles was sie erlebt hatte, ganz detailliert schilderte. Für Paul war dies interessanter als jeder Film. Für ihn war es schlichtweg unfassbar, was Tante Hertha in ihrem Leben alles er- und vor allem überlebt hatte.
Sie hatte Paul im Vertrauen erzählt, wie sie im Zweiten Weltkrieg in Schleswig- Holstein die Ermordung ihres Vaters durch die NDSAP, eine unglückliche Liaison mit einem polnischen Saisonarbeiter, den sie anschließend nie wieder gesehen hatte und das Verschwinden ihres erstgeborenen Sohnes verkraften musste.
Und im Verlaufe des Krieges waren sogar weitere Schicksalsschläge hinzugekommen. So hatte Tante Hertha nur knapp mehrfache Vergewaltigungen durch russische Soldaten sowie eine daraus resultierende Fehlgeburt und mehrere auf ihren Körper gerichtete Schüsse überstanden.
„Das ist alles einem einzigen Menschen passiert?! Keine einzige Netflix-Serie hat so eine dramatische Story!“, dachte sich Paul als er das erste Mal Tante Herthas Biografie gehört hatte.
Für ihn schien es schier unfassbar, dass ein Mensch, der so viele schreckliche Dinge durchgestanden hatte, noch so viel Liebe in sich trug, fast immer fröhlich wirkte und lachte, sich kaum anmerken ließ, welche Schicksalsschläge er schon erlitten hatte. Dadurch wusste Paul, dass es wertvoll sein kann, hinter die Fassade zu blicken, da hinter ihr eine einmalige Geschichte verborgen liegt, die jeden Menschen zu einem Unikat macht.

Paul fragte sich oft, ob seine Großmutter Karla nach all den schlimmen Dingen, die ihr widerfahren waren, auch noch so lachen konnte wie Tante Hertha. Bei Karla konnte er es sich aber einfach nicht vorstellen.

Umso begeisterter war Paul, dass Tante Hertha sich in ihrem hohen Alter auf ihn einließ und ihm das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Wenn er bei den Austauschtagen an der Reihe war, schaute er mit der älteren Dame Serien wie „House of Cards“ und „Stranger Things“ oder beide spielten zusammen das Videospiel „Minecraft“ auf ihren Smartphones.
Manchmal wurde auch einfach nur Radio über das Internet gehört. Wenn Tante Hertha an der Reihe war, genoss man selbstverständlich die Klänge von WDR 3 und WDR 4 oder in Ausnahmefällen hörte man Radio Berg während Paul seiner Tante den Sender 1Live näher brachte.
Eigentlich war alles erlaubt. Es gab nur eine Regel. In den 120 Minuten beschwerte sich niemand über das Austauschprogramm und man ließ sich auf die andere Person und ihre Interessen ein. Von diesem Austausch profierten beide Seiten zu gleichen Anteilen. Paul war in Deutsch aufgrund seines sprachlichen Ausdrucks einer der besten Schüler auf dem St. Angela Gymnasium und auch in Geschichte und Musik konnte ihm dort kaum einer das Wasser reichen.
Zudem gab es den positiven Nebeneffekt, dass Slangausdrücke wie „Bruh“ aus Pauls aktivem Wortschatz verschwunden waren. Tante Hertha hatte sich oft darüber mokiert, wenn Paul dieses Wort benutzte, welches eigentlich nur eine Kurzform des englischen Wortes „Bro“, die Abkürzung für das Wort „Bruder“ ist, und synonym zu dem Ausdruck „Ey Junge!“ verwendet wird. Jedes Mal wenn Paul dieses Wort aussprach, um seine Verwunderung zu demonstrieren, kommentierte Tante Hertha es mit den Worten: „Hast du Sodbrennen oder warum rülpst du?“

Ansonsten aber trat Tante Hertha der Jugendsprache durchaus aufgeschlossen gegenüber. Ihr Anliegen war es, dass Paul und sie dieselbe Sprache sprechen. Nur so konnten sich beide wirklich verstehen und auch auf Augenhöhe begegnen. Und wenn dies bedeutete, dass sie amerikanische Serien schauen und sich Raps von Eminem anhören musste, dann biss sie gerne in den sauren Apfel. Schließlich musste Paul sich als Gegenleistung ebenso opfern und sich alle Sinfonien von Beethoven und das Best-Of Album von Abba mit ihr anhören.
Tante Hertha war durch ihren Austauschtag in Wipperfürth die einzige Frau über 90, die mehrere Youtube-Kanäle abonniert und auch WhatsApp auf ihrem Handy installiert hatte. Zudem hatte sie wahrhaftig alle Teile von „The Fast and the Furious“ gesehen.
Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn solch ein Austausch zwischen allen Menschen verschiedener Generationen stattgefunden hätte, so dass Deutschland nicht nur auf dem Papier als ein wiedervereintes Land gelten würde.
„Ein Land, aber so viele schöne Sprachen, die von den anderen nicht verstanden werden.“
Damit meinte sie nicht nur die Sprachen anderer Nationen, sondern auch die verschiedenen Sprachregister, die eine Barriere zwischen Jung und Alt darstellten.
„Vier Stunden pro Woche, um sich auszutauschen und dem anderen einmal aufmerksam zuzuhören, können doch nicht zu viel verlangt sein, oder?“, pflegte sie Paul gerne rhetorisch zu fragen.


Paul wusste aber ganz genau, dass der Ausgleichstag für Tante Hertha nicht nur dazu diente, Einblicke in die jeweils andere Generation zu gewinnen. Aufgrund der Vergewaltigungen im Krieg, war es Tante Hertha leider vergönnt eigene Kinder zu bekommen. Nachdem ihr Ehemann viele Jahre zuvor an einer Leberzirrhose verstorben war, lebte Tante Hertha völlig allein. Ihr Mann hatte es nicht verkraftet, dass sie beide keinen eigenen Nachwuchs zeugen konnten und suchte jahrelang Trost im Alkohol. Nach seinem Ableben ließ sich Tante Hertha allerdings nicht hängen. Sie verbrachte viel Zeit mit Pauls Mutter und Paul. Dennoch war es ihr anzumerken, dass auch sie sich oft allein fühlte.


Paul ließ Tante Hertha in solchen Momenten oft merken, wie stolz er auf sie war. Erst eine Woche zuvor hatte er versucht, sie zu trösten, nachdem eine gemeinsame Internetrecherche nach ihrem im Krieg verschollenen Sohn wieder im Sande verlaufen war.
„Kopf hoch! Eines Tages finden wir ihn! Verlier‘ nicht den Mut! Du bist eine richtige Stehauf-Tante!“, sagte er zu ihr.
Tante Hertha musste darauf kurz schmunzeln.
„Das wird schon! Du hast schon so viele Dinge überstanden! Du lässt dich doch auch sonst nie unterkriegen! Denk dran, wie du immer gegen die AfD ankämpfst und dich in Youtube-Videos über diese Schwachmaten aufregst, wie du mit dem Rollator von Aula zu Aula tingelst, um in den Schulen dafür zu sorgen, dass niemand vergisst, was für ein Unglück eine zu rechte Gesinnung über ganz Deutschland gebracht hat. Du bist unser Gewissen. Das sagt Mama immer. Du bist eine Heldin! Und deinen Dieter werden wir auch noch finden. Versprochen!“
Tante Hertha hatte ihn in diesem Moment ungläubig angeschaut. Sie hatte zwar eine eigene Youtube-Sendung mit dem Titel „AfD- Ahnungslose für Deutschland“, aber sie sah sich nicht als Heldin. Für sie war es eine zivile Pflicht, Leute darüber aufzuklären, wie das Leben in Deutschland wirklich war, als eine politisch rechte Partei die Kontrolle über das Land und ihre Bürger hatte.
„Ich? Eine Heldin? Du spinnst doch, Paulchen!“, entgegnete sie ihm.
„Doch. Doch. Und zudem bist du für mich die Oma, die ich nie hatte. Du trägst so viel Liebe in dir. Ich habe noch nie richtig danke gesagt. Danke, Tante Hertha! Danke, dass du mich so lieb hast, dass ich das Gefühl habe, mit dir verwandt zu sein.“
„Für mich bist du das doch auch, du kleines Trottelchen!“, sagte Tante Hertha vor Rührung schluchzend.
Paul erinnerte sich, wie sich beide nach diesen Worten innig umarmt hatten. Sie hatte Paul ganz fest an sich gedrückt und zwar so, wie eine Oma ihren Enkel drücken würde.

Tante Hertha musste in Pauls Augen zwar noch an ihren Sprachnachrichten feilen, aber Paul schämte sich bestimmt nicht dafür, wenn er vor seinen Kumpels eine unverständliche Noicemail von ihr abspielte. Er war beeindruckt von dem, was seine Tante in ihrem Alter alles über Smartphones und Social Networks gelernt hatte. Zudem verstand er, dass es Tante Hertha mit ihrer Arthritis schwer fiel, das Handy dauerhaft zu bedienen und für längere Zeit Texte zu tippen. Eine Noicemail war da die deutlich bequemere Lösung.
Auch darauf, dass auf ihre Veranlassung hin, zukünftig in der Volkshochschule ein Abendkurs für Senioren mit dem Titel „Kein Whats Depp mehr sein - Korrekter Umgang mit sozialen Medien“ eingerichtet werden sollte, war Paul sehr stolz.

Tante Hertha war sich sicher, dass eine gemeinsame Sprache die wichtigste Brücke zwischen den Generationen darstellte. Aus diesem Grund sollten ihrer Meinung nach auch ältere Menschen vor allem mit dem Medium Internet vertraut sein, da die virtuelle Welt den sprachlichen Kosmos der jungen Generation widerspiegele.
„Wenn ältere Menschen sich dem Internet verschließen, entsteht bald eine generationsübergreifende Parallelgesellschaft. Das darf nicht sein. Auch wir müssen die positiven Aspekte des Internets für uns nutzen“, pflegte Tante Hertha stets in ihren Youtube-Videos zu warnen.
In dieser Hinsicht stimmte Paul ihr zu.

***

Die Annonce aus der Edeka-Filiale hatte Pauls Gedanken über Karla wieder aufgewärmt. Wenn sogar eine so lebensbejahende Frau wie Tante Hertha in manchen Momenten traurig und zerbrechlich sein konnte, wie sollte sich dann erst Karla fühlen, eine Frau, die ihre Familie nicht sehen durfte, weil sie zweimal einen schlimmen Fehler begangen hatte?
„Sie muss doch jeden Tag weinen, weil sie niemanden mehr hat! Oder sie trinkt, damit sie nicht daran denken muss, wie traurig sie ist…“, dachte sich Paul ganz ängstlich.
Weil er so sehr an Karla denken musste, hatte er nicht registriert, dass er bereits an dem Hochhaus Alte-Kölner-Straße 40 angekommen war. In diesem Gebäude mit mehreren Stockwerken gab es zahlreiche Mietwohnungen. Er steckte sein Handy in die Tasche. Als er bei Tante Hertha geklingelt hatte, dauerte es einige Sekunden bis die alte Frau von ihrer Wohnung aus die Eingangstür des Wohnblocks geöffnet hatte. Doch als er die Stufen zum ersten Stock hochgespurtet war, stand die rüstige Dame mit ihrem Rollator schon vor ihm. Sein trauriger Gesichtsausdruck, war Paul immer noch anzusehen.
„Und ich dachte schon, du hättest unseren Austauschtag vergessen!“, scherzte die alte Dame leicht zitternd mit einem verschmitzten Lächeln. „Heute tausche ich ein Gedicht von Ringelnatz gegen ein weiteres Let’s Play Tutorial zu Minecraft von diesem Youtuber. Warte. Warte. Sag’s nicht. Sein Name fällt mir gleich ein… Gronkh, oder?!“
Paul nickte mit einem zufriedenen Lächeln und reckte ihr den ausgestreckten Daumen entgegen.
„Nicht schlecht, Tante Hertha. Du hast einiges dazu gelernt!“
Anschließend verzog sich seine Miene wieder. Paul betrat die Wohnung der alten Dame. Zuerst fiel sein Blick auf den neuen 56 Zoll Flachbildfernseher, den die beiden vor kurzem im Internet bestellt hatten.
„Sieht gut aus!“, kommentierte Paul relativ desenthusiastisch.
„Ok, schieß los. Wenn ich eines weiß, dann das, dass ich traurige Gesichter immer ernst nehmen sollte. Also Paulchen, was ist los?“
Paul zückte sein Handy und starrte auf das Display. Anschließend zeigte er Tante Hertha das Foto der Annonce.
„Meinst du, jemand hat auf die Anzeige des Mannes geantwortet? Oder ist er wirklich nächste Woche Ostern ganz alleine?“
„Hm. Das weiß ich nicht. Aber weißt du, was ich ganz sicher weiß?“
„Was‘n?“
„Dass du mir jetzt hilfst! Ich habe mir bereits eben schon Gedanken gemacht und wir beide gründen jetzt eine Gruppe! Aber tippen musst du. Mit meiner Arthritis fällt mir das nicht so leicht!“
„Häh? Was für eine Gruppe denn?“
„Mensch Paulchen, jetzt denk doch mal nach! Für jeden Mist gibt es heutzutage eine WhatsApp-Gruppe. Aber warum gibt es nicht in jeder Stadt eine Gruppe für einsame Senioren, in der sich Leute verabreden können, die alleine sind und die zusammen etwas unternehmen möchten?“
„Tante Hertha, aber der Mann hat doch gar keine Handynummer angegeben! Bestimmt ist er noch Old School-mäßig unterwegs.“
„Ach, das ist kein Problem. Das besorgen wir ihm noch. Wie du weißt, habe ich ja da meine Kontakte. Und dann laden wir ganz viele junge und alte Menschen in diese Gruppe ein, die sich nicht nur an Feiertagen, sondern auch viel öfter treffen.“
„Tante Hertha. Du bist genial!“, rief Paul mit einem Strahlen in seinen Augen.

Den restlichen Austauschtag verbrachten Tante Hertha und Paul damit, ihre WhatsApp-Gruppe zu erstellen und geeignete Mitglieder zu finden.
Zudem kontaktierten sie Winfried Weber per Telefon. Der kinderlose Witwer freute sich sehr über die Idee der beiden und fing vor Glück an, am Hörer zu weinen.
Tante Hertha hatte den Plan, zum Osterfest ein Essen bei sich zu Hause zu organisieren. Über zehn Personen hatten schon zugesagt.
Als es dunkel wurde, machte Paul sich auf den Nachhauseweg. Nur mit dem Namen der Gruppe war er noch nicht zufrieden.
Einsame Senioren in Wipperfürth
„Das klingt ziemlich lahm!“, fand Paul.

***

Als er nach dem gemeinsamen Abendessen mit seiner Mutter in sein Kinderzimmer verschwunden war, vibrierte nach einer halben Stunde Pauls Handy.
Er hatte schon wieder eine Armada an Noicemails von Tante Hertha erhalten, die Paul sich mit stoischer Gelassenheit zu Gemüte führte.
Die erste Nachricht war, gewohntermaßen, vollkommen leer.
Die anderen dauerten nur zwei Sekunden an.
„Ha
Ha
Hallo, Paul.
Hier ist Tante Hertha.“
Ihre Sprachnachricht klang so hölzern wie die Sprachfunktion eines Navigationssystems im Auto oder die lieblos installierte Durchsage in einem öffentlichen Nahverkehrsbus. Den drei Nachrichten folgte eine weitere.
Paul starrte leicht nervös auf sein Display.
„24 Sekunden. Oha!“, dachte er sich.
Gespannt lauschte Paul der neuen Nachricht und versuchte die Aussagen von Tante Hertha zu verstehen, was nicht so einfach war, da parallel eine Volksmusiksendung im Hintergrund zu vernehmen war, vermutlich noch auf der höchsten Lautstärkenstufe eingestellt. Eine weibliche Stimme verabschiedete gerade einen Künstler.
„Vielen Dank an „Die Amigos“ mit ihrem Megahit „Ich geh‘ für dich durchs Feuer“.
Paul musste sich sehr bemühen, um die Worte aus Tante Herthas schwacher, gebrechlicher Stimme herauszufiltern. Beim zweiten Abspielen der Noicemail gelang es ihm endlich.
„Ich habe mir noch mal Gedanken gemacht, um einen Namen zu finden, der noch mehr Swag hat, wie du es sagen würdest. Außerdem schau‘ dir mal an, wie viele und besonders WER alles mittlerweile in unserer Gruppe ist. Du wirst erstaunt sein. Ich war es auf jeden Fall.
Und Herr Weber wird sich bestimmt freuen.
Ich habe eben noch einmal mit ihm telefoniert. Morgen kaufen wir zwei ein Handy für ihn.

Liebe Grüße
Tante Hertha“


Paul schaute nun in die WhatsApp-Gruppe, die umbenannt worden war.


Lost VVips


Die Gruppe hatte bereits 51 Teilnehmer aus verschiedenen Generationen. Einige waren sogar Rentner aus Pauls unmittelbarer Nachbarschaft. Er hätte nicht vermutet, dass auch diese Menschen sich einsam fühlten.

„Herr Eicker, zum Beispiel, grüßt doch nie zurück“, dachte er sich.

Woher hätte Paul wissen sollen, dass dieser Mann sich einsam fühlte?


Die Nachricht über Tante Herthas Gruppe hatte sich wie ein virtuelles Lauffeuer verbreitet. Auch ein paar Schulkameraden waren der Gruppe beigetreten. Einige Sekunden später hatte die Gruppe schon 55 Teilnehmer. Dann antwortete Paul seiner Tante mit einem „Daumen hoch“- Emoji.


Als er die Teilnehmerprofile der Gruppe näher inspizierte, sah er plötzlich ein Foto. Verwundert rieb Paul sich seine Augen. Er irrte sich nicht. Beim näheren Hinblicken stellte er es fest: Auf dem Foto war sein eigenes Gesicht zu sehen. Im Hintergrund des Bildes entdeckte er plötzlich seinen Vater. Paul befand sich auf dessen Arm und lachte freudestrahlend.

„Oh mein Gott. Da war ich ungefähr zwei Jahre alt! Das Foto muss uralt sein. Wie kann das sein?“

Paul war erschrocken. Er selber hatte aus Sicherheitsgründen kein Profilbild. Da war er sehr gewissenhaft. Nur sein Name und seine Nummer waren in der neuen Gruppe deutlich sichtbar. Sein Bild konnte es nicht sein.
Sofort tippte er auf das Profil der Teilnehmerin. Als er den Namen noch einmal las, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Karla Floßbach

Nachdem er Tante Hertha ein blinkendes Herz-Emoji geschickt hatte, erhielt er eine weitere Noicemail.

„Schreib‘ sie ruhig an. Ich habe Mama eben angerufen und es ihr erzählt. Sie wäre einverstanden. Wir wissen, was dir das bedeutet.“

In dem Moment stand Pauls Mutter im Kinderzimmer. Er starrte in ihre ozeanblauen Augen. Sie nickte ihm verständnisvoll zu. Ihr Lächeln war jedoch etwas reserviert.

„Tante Hertha hat Recht. Ich muss Ostern sowieso kellnern, aber wenn du möchtest, darfst du gerne dahingehen. Nur weil ich dieser Frau nicht verzeihen kann, heißt es nicht, dass du sie nicht kennenlernen darfst. Ich weiß ja selber, dass sie kein böser, sondern einfach nur ein kranker Mensch ist“, sprach Pauls Mutter mit besonnener Stimme.

Paul sprang auf und umarmte seine Mutter innig.

„Sicher, Mama?“

Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Ja. Ganz sicher!“


Nachdem seine Mutter wieder gegangen war, begab Paul sich an sein Handy. Sichtlich angespannt und stark schnaubend klickte er auf das Profil seiner Oma. Es dauerte mehrere Minuten, bis Paul seinen ganzen Mut zusammengefasst hatte. Sorgsam wählte er seine Worte, die er mehrmals überarbeitete. Dann entschloss er sich für ein schlichtes, lachendes Smiley. Schnell löschte er auch das wieder. Pauls Hände fingen an zu zittern.

„Was wäre wohl eine passende Nachricht? Mir fällt einfach nichts Gutes ein! Mist! Mist! Mist!“, dachte er sich.

Nach mehreren Minuten schickte er sie endlich ab. Es handelte sich nun doch um ein freudestrahlendes Smiley.

Er blickte gebannt auf sein Smartphone. Dann poppten zwei blaue Häkchen auf. Die Nachricht war empfangen und gelesen worden. Nervös blickte Paul auf den Chatverlauf.

Karla schreibt…


Gleich würde die Antwort kommen. Paul konnte seinen eigenen Herzschlag hören. Er atmete ganz hektisch. Danach schmiss er aufgeregt das Handy auf sein Sofa. Aus der Distanz betrachtete er es angespannt.

„Was ist, wenn sie gerade betrunken ist und mich beschimpft?“, dachte sich Paul.

Viele gruselige Gedanken rasten durch seinen Kopf.

Zögerlich stand er auf und ging auf sein Bett zu. Dann nahm er das Smartphone und schaute sich den Chatverlauf an. Noch war nichts Neues zu sehen.

Plötzlich poppte eine neue Nachricht auf.

Ein Herz-Emoji und ein lachendes Smiley waren zu sehen. Hinter ihnen standen folgenden Worte mit kleinen Leerzeichenfehlern:

„Hallo Paul. Hier ist Oma. Dankefürdeine Nachricht. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass du mirschreibst. Wie geht es dir?“

Paul lächelte erleichtert.


ENDE

 

Hallo, Epiphany

Meine Großeltern besuchen tatsächlich einen Kurs zum Umgang mit WhatsApp. Als sie noch kein Smartphone hatten, haben sie meiner Schwester einmal für jedes Wort eine einzelne SMS geschickt, weil sie die Leerzeile nicht gefunden haben.

Dein Thema ist also durchaus lebensnah, und ich konnte mich selbst gut darin wiederfinden. Was ich jedoch häufig nicht finden konnte, war ein roter Faden.

Erst machen sich ein paar Jungs über eine Annonce lustig, dann denkt Paul an seine Tante Hertha, dann an seine Großmutter Klara, dann an irgendwas mit Magersucht, dann wieder an Klara, dann erkenne ich, dass die Annonce die Erinnerung an Klara geweckt hat. Dann geht es um Herthas Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg, schließlich um Austauschtage, dann um Herthas soziales Engagement und am Ende wieder um Klara.

Was ich meine: Ich brauche ewig, bis ich verstehe, dass es um Folgendes geht. Paul sieht eine Annonce, das erinnert ihn an Klara. Er möchte sie gerne kennenlernen, und Hertha hat eine gute Idee. Du bringst aber riesige Erklärblöcke, die Deine Geschichte zerreißen.

Das Problem daran ist, dass Du bei jedem Erklärblock die eigentlichen Geschehnisse verlässt und Deinen Blick woanders hinrichtest. Es gibt zwei Möglichkeiten, dies besser zu machen. 1. Du integrierst die Erklärblöcke in die Geschichte. Keine plötzlichen Blöcke aus Erklärungen, sondern eingestreute Bemerkungen, die zu den aktuellen Geschehnissen der Handlung passen. 2. Die Erklärblöcke müssen selbst zu kleinen Geschichten werden. Das heißt, sie brauchen richtige Szenen und Spannungsbögen.

Ersteres wäre Möglichkeit der Wahl. Zweiteres ist, glaube ich, auf den zweiten Blick sogar anspruchsvoller, könnte Dir aber möglicherweise mehr liegen. Auf jeden Fall solltest Du schauen, dass Du den roten Faden Deiner Geschichte nicht ständig aus der Hand legst. Frage Dich bei jeder Information, wie sie die Kerngeschichte voranbringt. Mach nicht zu viele Fässer auf einmal auf.

Den Anfang fand ich nicht so gelungen. Pauls Kumpel Basti benimmt sich hysterisch und arschlochmäßig. Ich sehe keinen eigenen Grund, aus dem ein Junge wie Paul mit ihm befreundet sein sollte. Das passt nicht zusammen. Basti muss auch etwas Gutes an sich haben, damit ich Pauls Beziehung zu ihm verstehen kann. Da würde ich an Deiner Stelle sehr sorgfältig umbauen. Das ist alles so überzogen theatralisch und wirklich ziemlich bescheuert.

Ich nehme an, dass das Kürzen von Überflüssigem Dir schwerfallen dürfte. Das nehme ich an, weil ich das Gefühl habe, dass Du Dir sehr viele Gedanken gemacht hast und Deinen Charakteren (abgesehen von Basti) sehr nahe stehst. Das ist erstmal etwas Gutes. Ich mag Deine Charaktere auch. Trotzdem darfst Du niemals Deinem Leser das Gefühl geben, Du würdest Erklärblöcke schreiben. Alleine, dass ich so etwas wahrnehmen kann, ist nicht gut. Da musst Du ordentlich eindampfen und umbauen. Die Geschichte muss fließen, und Du darfst diesen Fluss nicht ständig unterbrechen.

Ich hoffe, ich konnte Dir weiterhelfen. Make it work!

Viele Grüße,
Maria

 

Hallo Maria,

vielen Dank für deine Mühe und das Lesen meiner Geschichte. Ich habe mich sehr über dein Feedback gefreut. Ich werde versuche die Erklärblöcke auf Seite zu räumen ;)

Liebe Grüße
Epiphany

 

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