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Novemberregen
Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, stand er an der Bushaltestelle. Die Linie 8 hatte mal wieder Verspätung und der Regen prasselte gnadenlos auf ihn ein. Mit seinen schwarzen Klamotten hob er sich nur wenig ab vom novembergrau, das ihn umgab.
„Mistwetter“, murmelte er vor sich hin, als ihn plötzlich laut kreischend jemand von der Seite anspringt. „Klaus! Hey, was machst du denn hier?“, fragte die junge Frau, die gerade dabei war ihn zu erwürgen. „Was soll das, verpiss dich!“, schrie er wütend und stieß sie energisch von sich. „Was ist denn mit dir los? Kennste mich nicht mehr Klaus Marbold? Ich bins, Samira.“, rief sie ihm furchtlos entgegen. Düster blickten seine Augen unter der Kapuze hervor und musterten die junge Frau. Sie war noch genauso schön wie damals. Sie trug einen roten Filzmantel mit kastanienfarbenen Lederknöpfen und zwei unzähmbare braune Locken hingen ihr ins Gesicht. Doch wie immer waren es ihre dunklen, geheimnisvollen Augen, die ihn in ihren Bann zogen. „Lass mich in Ruhe.“, sagte er leise zu ihr und drehte sich um.
Auf dem Signal neben der Bushaltestelle leuchtete in großen gelben Buchstaben der Hinweis auf „Linie 8 – cancelled“.
„Verdammt“, fluchte er vor sich hin. Jemand fasste ihn sanft am Arm und als er sich umdreht, blickte er wieder in diese unergründlichen Augen. „Hier kommen wir heut nicht mehr weg. Haste Lust auf ein Bier? Ich lade dich ein.“, sagte sie freundlich. Er wischte sich einen Regentropfen von der Nase, löste sich von ihrem Blick und ließ sie einfach stehen. „Ein Bier! Auf die alten Zeiten! Und dreh dich um, wenn ich mit dir rede.“, rief sie ihm entschlossen hinterher. Und tatsächlich blieb er stehen. Er war ihr schon damals nicht gewachsen, dieser Entschiedenheit, dieser Stärke und Hartnäckigkeit. Langsam drehte er sich um und blickte sie lange an. „Ein Bier!“, sagte er.
"Du stehst mitten in einer Pfütze!“, sagte sie lächelnd zu ihm, „Lass uns gehen, sonst bekommst du noch nasse Füße.“ Schweigend überquerten sie die Straße. „Wohin gehen wir?“, fragte Klaus mit misstrauischer Stimme. „Sind gleich da.“, antwortete Samira, „Nur noch um die nächste Ecke.“
Naja, immerhin würde er gleich im Trockenen sitzen. Die Nässe war nämlich bereits bis auf seine Haut durchgedrungen und ihm fröstelte. Vor einem kleinen Imbiss blieb sie stehen. Über dem Eingang stand in roten Buchstaben „ARIF DÖNER“.
„Hey, keine Angst.“, sagte sie, als sie seinen entsetzten Blick bemerkte. „Arif ist mein Bruder. Er macht den besten Dürüm auf dem Planeten. Die Spezialsoße ist der absolute Wahnsinn.“
„Sorry, aber ich kann nicht.“, antwortete er und wandte sich ab zum Gehen. Doch sie stellte sich vor ihn, schaute ihm tief in das hart gewordene Gesicht und erwiderte ruhig, „Ein Bier! Du hast es mir versprochen.“ Er atmete tief aus und nickte.
Im Inneren sah es aus, wie in einem typischen Dönerlader. Direkt vor ihnen befand sich der Tresen, in dessen Hintergrund zwei Spieße beständig ihre Runden drehten. Rechts in der Ecke gab es drei kleine Tische mit insgesamt sechs Stühlen. Der Raum war menschenleer. Aus einer Tür, die sich hinter dem Verkaufstisch befand, drangen Stimmen. Klaus ging zu einem der Tische, nahm seine Kapuze ab und zog die Jacke aus. Dann stellte er sich wieder neben Samira, die an der Theke gewartet hatte.
„Oh mein Gott!“, rief sie plötzlich erschrocken, „Wo sind deine Haare? Du hattest doch so schöne schwarze Locken.“ Etwas verdutzt schaute er sie an. Er hatte ganz vergessen, dass sie ihn so noch nie gesehen hatte. „Aber dein Kopf hat eine schöne ovale Form ohne Beulen und Dellen. Und außerdem wachsen Haare ja zum Glück wieder nach.“, betonte sie sofort mit einem kleinen Zwinkern.
Klaus konnte darauf nichts erwidern, denn im selben Moment, trat ein kräftiger Türke von durchschnittlicher Größe durch die Tür hinter dem Ladentisch. Samira stürmte sofort auf ihn zu. „Arif!“, rief sie und fiel ihm um den Hals, „Mensch, hab ich dich vermisst!“. Er versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien, was ihm nur mit einiger Anstrengung gelang. „Man könnte denke, wir hätten uns Jahre nicht gesehen. Dabei war es doch erst vorgestern, als du das letzte Mal bei mir gegessen hast.“, sagte er etwas belustigt.
Dann fiel sein Blick auf Klaus und sein Gesicht verfinsterte sich. „Was will der denn hier?“, fragte Arif mit nun drohender Stimme.
Samira legt ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte,“Er ist ein alter Freund. Wir wollen nur zwei Bier und zwei der weltbesten Dürüm.“
Klaus bemerkte, dass die Drohung aus Arifs Blick verschwand. Doch mehr als geduldet war er hier nicht. „OK.“, sagte Arif und gab ihr zwei Bier, „Nehmt Platz. Das Essen kommt gleich.“
Klaus setzte sich mit dem Rücken zur Wand, so dass er Arif immer im Blick hatte. Samira, die ihm gegenüber Platz genommen hatte, hob ihre Becksflasche und sagt, „Auf die guten alten Zeiten!“.
„Prost!“, erwiderte Klaus und sie stießen an. „Weißt du eigentlich wie gern ich früher mit deinen Haaren gespielt habe.“, sagte sie nachdenklich. „Wir waren sechzehn. Menschen verändern sich.“, antwortete Klaus mürrisch.
„So, zweimal Dürüm.“, Arif stellte die beiden Teller auf den Tisch, „Lasst es euch schmecken.“. Dann ging er wieder hinter den Tresen.
„Na los, beiß schon rein! Ist echt der Wahnsinn!“, drängte ihn Samira. „Und wie findest du ihn?“ fragte sie nachdem er den ersten Bissen im Mund hatte. Klaus hob den Daumen zum Zeichen das es ihm schmeckte. „Ich muss erst mal für kleine Mädchen. Bin gleich wieder da.“, sagte sie und war blitzschnell um die nächste Ecke verschwunden.
Er aß weiter und bemerkte, dass Arif ihn musterte. Er schaute zum Tresen hinüber und sah ihn lächeln. „Na schmeckt‘s? Das Fleisch ist von einem echten deutschen Rindvieh.“, sagte er mit einem breiten provokanten Grinsen. Klaus erhob sich, warf Arif einen düsteren Blick zu, ging um den halben Tisch herum und nahm auf Samiras Stuhl Platz. So hatte er wenigstens nicht ständig diesen feixenden Türken vor Augen.
Er nahm gerade einen großen Schluck von seinem Bier, als er unvermittelt zwei warme Hände spürte, die zärtlich seinen Kopf erforschten. „Fühlt sich komisch an.“, sagte Samira, die wie aus dem Nichts hinter ihm stand. „Hey, lass das.“, wehrte sich Klaus halbherzig. „Schon fertig.“, sagte sie lächelnd, nahm ihr Handy aus der Tasche und drückte auf den Auslöser.
Abrupt dreht er sich um und riss ihr das Smartphone aus der Hand. Auf dem Display erkannt er seinen kahlgeschorenen Hinterkopf, von dem ihm ein großes rotes Smiley anstrahlte.
Er packte sie unsanft am Arm. „Hast du noch alle Tassen im Schrank, du dämliche Fotze.“, schrie er sie mit hasserfüllten Augen an. „Lass meine Schwester los.“, rief Arif, der sich hinter dem Tresen bereits mit dem Dönermesser bewaffnet hatte.
„Beruhigt euch wieder Jungs.“, sagte Samira unerschrocken. Sie blickte sanft in das wütende Gesicht vor ihr. „Früher hättest du drüber gelacht.“
Klaus lockerte den Griff um ihren Arm und sagte mit leicht bebender Stimme, „Sieh zu, dass du den Scheiß wieder von meinem Schädel bekommst.“
„Entspann dich. Ist kein wasserfester Lippenstift.“, sagte sie und holte eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche. Wenige Minuten später war das Gemälde wieder von seinem Kopf verschwunden. Zum Beweis machte sie noch ein Foto und zeigte es Klaus. Dieser nickte kurz, zog seine Kapuze über den Kopf und sagte, „Ich verpiss mich jetzt.“ Dann ging er durch die Tür hinaus in den Regen.
Er war noch keine fünf Meter gekommen, da wurde er erneut festgehalten. „Wir haben unser Bier noch immer nicht getrunken.“, sagte Samira, die in seinem Rücken stand. „Wir hatten einen schlechten Start. Aber einen Versuch musst du mir noch geben.“
„Was willst du von mir?“, fragte Klaus leicht genervt ohne sich umzudrehen. „Ich möchte nicht allein durch die Nacht ziehen. Es gibt gefährliche Ecken hier.“, antwortete sie. Früher hatte es immer funktioniert, wenn sie an seinen Beschützerinstinkt appellierte.
Sie spürte, wie er leicht in sich zusammensackte und stellte sich vor ihn. „Na los. Eine letzte Chance.“, ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie ihn an der Hand und zog ihn mit sich die Straße entlang.
Lange gingen Sie schweigend durch die Gassen des Viertels. In den Pfützen spiegelten sich die Lichter der Stadt. Sie bogen erst zweimal rechts ab, dann dreimal links bevor er irgendwann die Orientierung verlor. Vor einem alten Gebäude an dem der Zahn der Zeit schon deutliche Spuren hinterlassen hatte, blieben sie stehen. Aus dem Keller drangen dumpfe Töne auf die Straße hinaus. „Lass und rein gehen.“, sagte sie und drückte die schwere Holztür auf. Eine Wendeltreppe aus alten gemauerten Stufen führte sie tief ins Innere des Gebäudes. Am Ende der Treppe befand sich eine ziemlich marode Holztür die im Rhythmus der Musik vibrierte. Es war lediglich ein Knauf dran, so dass man sie von außen nicht öffnen konnte. Gerade als sie klopfen wollte, schwang die Tür auf und ein großer Schwarzer kam heraus. Mit einem breiten Lachen ging er an ihnen vorbei. Sie nutzten die Chance und schlüpften durch die Tür bevor diese wieder zu schlug.
Der Raum in dem sie standen, war vielleicht doppelt so groß wie Arifs Dönerladen. Schwaden von Zigarrenqualm durchzogen die Luft. Es wimmelte von Menschen, die sich unterhielten, rauchten und tranken oder zu kubanischen Klängen ihre Hüften bewegten. Trotz des schummrigen Lichts, erkannte Klaus sofort, dass der größte Teil Latinos und Schwarze waren. Er fühlte sich unwohl. Alle schienen ihn anzustarren, als er den Raum durchschritt.
Sie zogen Ihre Jacken aus, legten sie über die Barhocker und setzten sich. Samira bestellte zwei Kuba Libre. „Na, wie findest du den Laden?“, fragte sie. „Ist doch super hier“, beantwortete sie ihre Frage gleich selbst. „Weißt du noch, wie wir uns beim Salsakurs kennengelernt haben?“ fragte sie. Er nickte noch immer etwas beklommen. „War eine echt tolle Zeit. Und du warst mit Abstand der beste Tänzer in der Gruppe.“ Er musste lächeln, als er an damals dachte. Sein Hüftschwung war wirklich legendär und die Mädchen lagen ihm zu Füßen.
„Wir wär‘s? Wollen wir mal probieren, ob wir‘s noch drauf haben?“, fragte sie ihn. Dabei boxte sie ihn leicht gegen die Schulter und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
„Lieber nicht!“, sagte er, „Ich verletz mich sonst noch.“ Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen.
Sie stand auf und begann sich im Takt zu bewegen. Erst noch etwas zurückhaltend, doch es dauerte nicht lange und ihre Schritte wurden selbstsicherer. Und kurze Zeit später tanzte sie vollkommen eins mit der Musik durch den Raum. Klaus beobachtete sie und er musste sich eingestehen, dass ihn der Rhythmus bereits gepackt hatte. Seine Füße begannen im Takt zu wippen und der Kuba-Libre tat sein Übriges.
Da kam Samira mit leichtem Schritt auf ihn zu. „Hey du Spaßbremse. Los jetzt, lass mich nicht solange alleine tanzen.“ Dann schnappte sie seine Hände und zog ihn auf die Tanzfläche. „Keine Angst! Ist wie Fahrradfahren. Das verlernste nicht.“, rief sie ihm aufmunternd entgegen. Und tatsächlich, nach anfänglichen Schwierigkeiten erinnerten sich seine Füße wieder an das Gelernte und seine Bewegungen wurden geschmeidiger. Wenig später hielt er Samira genauso fest wie früher und sie schwebten gemeinsam durch den Raum.
„Bin gleich wieder da.“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Dann löste sie sich von ihm und verschwand in der Menge. Doch Klaus war so gefesselt von der Musik, dass er einfach weitermachte. Er konnte nicht aufhören zu tanzen. Die schwarzen Springerstiefel wirbelten nur so durch den Raum. Noch nie hatten sie sich so leicht angefühlt.
Dann wurde die Musik langsamer und zahlreiche Pärchen drängten sich auf die Tanzfläche. Samira fiel ihm wieder ein und er ging zurück an die Bar. Doch ihr Hocker war leer. Auch ihre Jacke war verschwunden. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte sich im Raum um. Er konnte sie nicht finden.
Kurzerhand zog er seine Jacke an, leerte sein Glas und zwängte sich energisch durch die Massen.
Hart klangen seine Schritte auf der Wendeltreppe, die ihn wieder in den Novemberregen entließ.