Was ist neu

Ohne dich

Mitglied
Beitritt
15.12.2009
Beiträge
23

Ohne dich

Der Wecker schellt, wie jeden Tag. Ich bin genervt.
Draußen ist es noch dunkel, scheinbar tiefe Nacht. Ich schlage die Decke zurück, verlasse die wohltuende Wärme und gehe ins Bad, wo mir eine unbarmherzige Kälte den Schlaf aus den Augen treibt. Nach kurzem Duschen steuere ich die Küche an, greife eine Dose Red Bull und lasse mich im Wohnzimmer ins Sofa fallen.
"Hat der Tag schon begonnen", fragt immer noch verschlafen die Stimme in meinem Kopf und verlangt nach Energie.
Langsam wird es draußen hell. Ich muss los, packe hektisch meinen Rucksack, suche gestresst nach Schal und Jacke, ziehe meine Schuhe an und flitze los, mit angezündeter Zigarette in der Hand und Musik in den Ohren. Uni von 10-20 Uhr, fast jeden Tag. Schon wenn ich daran denke überkommt mich Langeweile und Mutlosigkeit, doch entschieden habe ich ja schließlich selbst. Und so sitze ich in Hörsälen und Klassenräumen, lausche abwechselnd den Stimmen meiner Professoren und schaue teilnahmslos aus dem Fenster in den Himmel, der mir so endlos, so ewig scheint, wie die Zeit, die ich täglich hier verbringe.
Um halb 9 abends bin ich wieder zu Hause, begrüße meinen Freund mit einem Gewohnheitskuss und lasse mich müde und geschafft ins Sofa fallen, doch diesmal tue ich nichts, während mein Bett auf mich wartet.
Ich gehe nicht zu Freunden, weil mir die Zeit und die Kraft dazu fehlt. Ich gehe nicht ins Kino, mache keinen Sport, habe keine Familie, denn meine Eltern sind längst tot. Ich plane nicht voraus, lebe von einem zum anderen Tag. Mein Leben ist immer eintönig und obwohl ich auch nichts ändere, bin ich stets unzufrieden.
Mein Freund lebt mit mir zusammen. Er steht früher als ich auf, geht zur Arbeit bis halb 5, dann kommt er nach Hause, pflanzt sich aufs Sofa, wirft die Konsole an und spielt.
Um 23 Uhr geht er schlafen, um 24 Uhr folge ich und morgens schellt der Wecker wieder.

Es ist Samstag Morgen.
Wir fahren nach Belgien, seine Eltern besuchen, eine Stunde Fahrt.
Der neue C4 brummt fröhlich vor sich hin, schlürft Benzin. Aus dem CD-Player dröhnt laute Musik. Es regnet, doch die Sicht ist gut. Ich denke nach und Tom drückt aufs Gas.
Plötzlich stören quietschende Reifen meine Träume. Tom reißt erschrocken die Augen auf.
Bedrohlich schwankt vor uns ein mit Holz beladener LKW, als ein lauter Knall ertönt und die Luft nach verbranntem Gummi riecht. Tom bremst, der Laster schert aus und verliert die Kontrolle. Mein Herz rast, pumpt Adrenalin durch meine Adern. Tom ist gefasst, er ist konzentriert, weicht dem Transporter aus, versucht sein Glück auf der rechten Spur, doch von hinten rast ein Auto heran, das die Gefahr zu spät erkannte und so lenkt er zurück zur linken Spur. Der Schwertransporter kippt um, blockiert die linke Spur komplett. Auf der rechten kämpft der andere Fahrer mit seinem Fahrzeug. Er schafft es nicht. Frontal fährt er auf ein Auto drauf, während Tom Richtung Leitplanke lenkt. Ich schaue ihn an, so als wäre es das letzte Mal, dann folgt der Aufprall, der mir fast die Sinne raubt. Metall trifft auf Metall. Ich habe mehr als nur Angst. Die Leitplanke hält, aber das Auto driftet ab und streift noch den Laster. Ich werde hin und her geschleudert, während sich unser Fahrzeug dreht und irgendwann endlich zum Stehen kommt. Einerseits dröhnt der eben gehörte Krach noch in meinen Ohren, andererseits höre ich nichts als furchtbare Stille, dumpf und erschreckend.
"Tom", krächzt meine tonlose Stimme. Er hängt bewegungslos und blutüberströmt in seinem Gurt. Ich bekomme Angst, mir fehlt die Luft zum Atmen und ich gerate in Panik.
"Tom", schreie ich, "wach auf!"
Ich befreie mich vom Sicherheitsgurt, steige aus dem Auto. Die Tür klemmt, doch es gelingt mir, sie zu öffnen. Ich schaue mich nicht um, sondern laufe, erfüllt von Vorahnungen zur Fahrertür, reiße sie auf, öffne Toms Gurt und ziehe ihn aus dem völlig geschrotteten Fahrzeug heraus. Ich suche seinen Puls, kann ihn nicht finden, mein Herzschlag setzt aus, meine Welt beginnt zu zerbrechen.
Ich schlage auf seinen Brustkorb, hauche ihm Luft in den Mund, aber sein Körper bleibt ruhig, seine Atmung bleibt aus. Ich schüttel ihn, küsse seine kalten Lippen, will und kann es nicht glauben. Meine Tränen laufen.
Kniend schaue ich zum endlos scheinenden Himmel hinauf, schreie mir mein Leiden aus der Seele, bis meine Stimme versagt. Ich lege mich neben meinen Liebsten und verstumme, während die Welt um mich herum im Chaos versinkt und mein Herz langsam verdorrt.
Wir befinden uns auf einer Autobahnbrücke. Ich höre die Sirenen nicht, aber sie kommen.
"Ich liebe dich", flüstere ich zu dem Körper an meiner Seite, zu dem Einen mit dem ich eigentlich für immer mein Leben teilen wollte.
Dann küsse ich ihn noch ein letztes Mal und stehe auf. Die Luft riecht seltsam. Es kümmert mich nicht. Ich gehe zur Brüstung, klettere hinauf und blicke zurück.
"Ohne dich will und kann ich nicht leben. Gleich sehen wir uns wieder, mein Liebster", spricht meine Stimme und ich springe.

80 Meter über dem Boden war ich dem Tod entgegen geflogen, den Blick wie immer gen Himmel gerichtet, während der Wind brutal an meinen Haaren riss. Ich sah mein Leben, vom Anfang bis zum Ende.
Meine schreckliche Kindheit, von Gewalt und Lieblosigkeit geprägt, meine verlorene Jugend, die toten Eltern, die verlorenen Geschwister, die verstorbenen Großeltern und die vergessenen Freunde und schließlich sah ich ihn, Tom, meinen Geliebten. Ich spürte, was ich fühlte, als wir uns kennenlernten, hörte mich das erste Mal "Ich liebe dich" sagen und ihn dasselbe voller Liebe erwidern. Ich erlebte unseren ersten Sex, spürte seine Wärme, seine Stärke, seine Lust. Noch einmal fuhr ich mit ihm in Ferien, noch einmal lachten wir gemeinsam, noch einmal ging unser Verliebtsein in Liebe über, noch einmal wurde das Besondere zum Alltag.
Jeden Tag hatten wir gelacht, jeder Tag hatte irgendwie dann doch Spaß gemacht. Er war weit mehr, als ich je für mich erwartet hatte. Und zum Schluss sah ich ihn noch einmal dort liegen, mit blutendem Kopf, ohne Puls, ohne Leben. Ich spürte den Wind in meinem Rücken, realisierte meinen Fall und verabschiedete mich reinen Gewissens vom Leben. Auf dem Boden prallte ich hart auf. Die Welt vor meinen Augen verschwand. Sie wurde schwarz.

Der LKW-Fahrer saß verletzt, doch bei Bewusstsein und eingeklemmt in seinem Fahrzeug fest. Ungläubig und betroffen hatte er alles hilflos mit angesehen und stand nun unter Schock.
In dem Moment, als meine Füße festen Boden verließen und mein Körper sich dem Fall hingab, regte sich ein männlicher Körper, der auf dem Asphalt lag und schnappte nach Luft, wo vorher keine gewesen war, was den Fahrer des Lasters zum Weinen brachte.
Feuerwehrwagen erschienen, Sanitäter bahnten sich ihren Weg zu den Verletzten. Polizisten sperrten die Autobahn und leiteten den Verkehr um. Notärzte eilten durch Reihen schreiender und weinender Menschen, checkten die Lage und halfen, wo sie konnten. Mit Flex und Motorsäge befreiten sie den stammelnden Lastwagenfahrer, der von einem Mädchen sprach, das gesprungen war, doch die Helfer hörten ihm nicht zu.
Der Mann, der neben dem zerbeulten C4 lag, war schwerverletzt, aber bei klarem Verstand.
Er rief ständig einen weiblichen Namen, fragte nach seiner Freundin, doch niemand konnte ihm genaueres sagen. Sie verpassten ihm eine Atemmaske, legten ihm eine Infusion an und brachten ihn eilig zum Krankenwagen, wo er begleitet von kreischenden Sirenen und quietschenden Reifen weggefahren wurde. Immer wieder verlor er das Bewusstsein, nur um beim Aufwachen nach Mona zu fragen.
"Es tut mir Leid. Wir haben kein Mädchen mit diesem Namen gefunden."
"Sie saß auf dem Beifahrersitz. Sie war da. Ich habe sie schreien gehört."
Er sprach mit sich selbst, obwohl die Worte auch an den Sanitäter gerichtet waren.
"Da war kein Mädchen", meinte dieser hilflos.
Im Raum nebenan wurde der Lastwagenfahrer behandelt, der immer noch weinte und unter Schock stand. Er wiederholte stets die gleichen Worte:
"Sie ist gesprungen. Sie ist gesprungen..."
"Wer ist gesprungen", fragte der behandelnde Arzt seinen Patienten und unterbrach damit dessen Litanei.
"Die junge Frau."
"Welche junge Frau?"
"Sie ist von der Brücke gesprungen."
Der Arzt wurde hellhörig, unterbrach kurz seine Arbeit und nahm Toms Sanitäter zur Seite.
"Sag mal, sucht dein Patient nicht nach seiner Freundin?"
"Ja."
"Meiner ist der Meinung, da wäre eine Frau gewesen, die von der Brücke gesprungen ist."
"Ist sie tot", fragte Tom verzweifelt und verlor erneut das Bewusstsein.

Ich öffnete meine Augen. Ich dachte, ich wäre tot. Doch ich konnte mich nicht bewegen.
Langsam begriff ich also, dass ich noch lebte. Büsche hatten meinen Fall gebremst.
Nach einer Weile setzte dann auch der Schmerz ein und mir kam ein Spruch in den Sinn, den ich irgendwo irgendwann aufgeschnappt hatte: "Wissen Sie, was das Gute am Schmerz ist? Er lässt Sie wissen, dass sie noch leben."
Jeder Knochen in meinem Körper schien gebrochen zu sein.
Ich war enttäuscht, blieb einfach liegen. Ich hatte ja auch nicht gerade eine Wahl.
Mit der Zeit wurde es dunkel und eiskalt. Die Kälte betäubte die Schmerzen und meine Gedanken kamen zur Ruhe. Des Nachts schien der Himmel noch größer, noch mysteriöser zu sein. Die Sterne funkelten hell, waren für mich voller Leben.
Ich lag ewig dort, wurde immer schwächer, schloss immer öfter meine Augen, mein Atem ging flach, entfloh meinen Lippen als weißer Dunst.
Dann hörte ich plötzlich Stimmen in der Nähe und sah Licht. Sie durchstreiften die Gegend. Sie suchten nach mir.
Ich regte mich nicht, sagte kein Wort. Ich wollte nur sterben, nicht gefunden werden.
"Dort", rief einer, "ich habe sie gefunden." Er rannte zu mir, kniete sich neben mich, sah mich an und war erstaunt. "Sie lebt!"
"Bitte lass mich hier liegen", flehte ich, "ich will nicht leben."
Meine Augen füllten sich mit Tränen.
"Dein Freund, er heißt Tom, oder?"
Ich nickte, weil sich mein Herz verkrampfte und der Kloß in meinem Hals wohl keinen Laut zugelassen hätte.
"Er ist nicht tot", eröffnete mir der Fremde mit einem verständnisvollen Lächeln im Gesicht.
Ich glaubte ihm nicht, bis ich bereit war zu glauben.
Gedanken rasten rasendschnell durch meinen Kopf, überdachten meine Meinungen, meine Situation und kamen zu dem Schluss: "Ok. Dann flickt mich bitte schnell zusammen. Ich will zu ihm."
Ich versuchte mich ebenfalls an einem Lächeln, das jedoch kläglich misslang, ließ mich ins Krankenhaus bringen und behandeln.

Ich war alles andere als schnell zusammengeflickt, das gilt für Tom genauso. Wir lagen beide mehr als 6 Wochen flach, er wegen Kopfverletzungen und inneren Blutungen, ich wegen zahlreichen Frakturen und einer Verletzung an der Wirbelsäule und auch danach mussten wir uns noch lange schonen, Rehabilitationen durchlaufen, Medikamente nehmen und zur Physiotherapie gehen. Doch irgendwann hatten wir das alles überstanden und die Erlebnisse hatten uns noch mehr als sowieso schon zusammengeschweißt. Wir lernten das Leben und das Gegebene zu schätzen. Wir veränderten uns sehr.

Und die Moral der Geschichte: Manchmal dauert die Ewigkeit nur einen kurzen Moment.

 

Hallo Darinka!

Das Thema deiner Geschichte war für mich nicht einfach zu finden.
Zunächst wirkte der erste Absatz (bis „Es ist Samstagmorgen“) unpassend.
Dort steht nichts von großer Liebe geschrieben, auch nichts von Liebe, sondern von einer mit Langeweile und Unzufriedenheit geprägten Beziehung. Dadurch wird der Selbstmordversuch vollkommen unglaubwürdig.

Dagegen entsteht in der Rückblende -

„… und schließlich sah ich ihn, Tom, meinen Geliebten. Ich spürte, was ich fühlte, als wir uns kennenlernten, hörte mich das erste Mal "Ich liebe dich" sagen und ihn dasselbe voller Liebe erwidern. Ich erlebte unseren ersten Sex, spürte seine Wärme, seine Stärke, seine Lust. Noch einmal fuhr ich mit ihm in Ferien, noch einmal lachten wir gemeinsam, noch einmal ging unser Verliebtsein in Liebe über, noch einmal wurde das Besondere zum Alltag.
Jeden Tag hatten wir gelacht, jeder Tag hatte irgendwie dann doch Spaß gemacht. Er war weit mehr, als ich je für mich erwartet hatte.“

- ein ganz anderes Bild der Beziehung. Danach kann ich den Selbstmordversuch in der Schocksituation nach dem Unfall schon eher verstehen.
Ich glaube, du wolltest zeigen, dass manchmal erst eine Katastrophe die schönen Seiten einer Beziehung wiederbelebt.

Bestimmt wird die Geschichte einfacher zu erfassen sein, wenn du das Perspektiv-Durcheinander beseitigst.

„Der LKW-Fahrer saß verletzt, doch bei Bewusstsein und eingeklemmt in seinem Fahrzeug fest.“

So, dort findet ein Zeit- und Perspektivwechsel statt.
Bisher Gegenwart und Ich-Perspektive (Hauptfigur), nun Vergangenheit und Er-Perspektive (LKW-Fahrer), später wieder zurück zur Ich-Perspektive (Hauptfigur), aber in Vergangenheitsform verbleibend, obwohl das chronologisch nicht richtig ist. Sie war erst auf der Brücke, dann im Krankenhaus! Ein ziemliches Durcheinander, welches wunderbar die Nachteile und Grenzen einer Ich-Erzählung aufzeigt.
Ich würde die ganze Story als allwissender Erzähler und in der 3. Person Vergangenheit schreiben. Den Text entsprechend zu ändern ist leicht und geht ruck zuck.
Ein weiterer, nicht zu verachtender Vorteil käme noch hinzu: Die Geschichte wird für den Leser viel spannender, weil er nicht wissen kann, ob das Mädchen den Sprung überlebt! Aus der Ich-Perspektive ist von vornherein klar, dass sie irgendwie mit dem Leben davon kommt. Sonst könnte sie die Geschichte schließlich nicht erzählen!

+++
„80 Meter über dem Boden war ich dem Tod entgegen geflogen, …“

Nach 80 Metern Fallhöhe überlebt sie den Aufprall, gebremst durch Gebüsch? Woher weißt du, dass das möglich ist?
+++

„Und die Moral der Geschichte: Manchmal dauert die Ewigkeit nur einen kurzen Moment.“

Den Satz würd ich streichen.
+++


Gruß

Asterix

 

Hallo Asterix,
weißt du, es geht mir in diesem Text eigentlich um ziemlich viel.
Zum einen geht es um die Ewigkeit, angefangen mit einem Alltag, der einem unbedeutend, sinnlos und einfach nur langweilig vorkommt, in dem man Gegebenes als normal ansieht, einem Alltag, der jedem wie die Ewigkeit vorkommt. Symbolisiert durch den Blick aus dem Fenster in den endlos scheinenden Himmel. Und dann kommt der Moment, wo der ewig scheinende Alltag aus seinen Fugen gerät und der Mensch, der einem am meisten bedeutet, weil man sein Leben um ihn herum aufgebaut hat, ist tot, oder hier glaubt man eben nur, er sei tot. Es geht um den Schmerz des Verlustes, um den Moment, in dem das Herz bricht und der Verstand aussetzt, weil man bemerkt, dass man etwas verloren hat, was man als selbstverständlich angesehen hatte. In diesem Moment steht die Zeit still, weil man das Geschehene nicht verkraftet. Auch dieser Augenblick scheint ewig zu dauern.
Die Reaktion, der Sprung von der Brücke ist ein Liebesbeweis der Protagonistin. Sie tut dies aber nicht nur für ihren totgeglaubten Freund, sondern auch für sich.
Und einen Sprung aus 80 m Höhe kann man überleben. Es gab schon Menschen, die aus Flugzeugen und Heißluftballons gefallen sind, tausende Meter in die Tiefe. Sie haben überlebt.
Vielen dank für die Ratschläge zum Perspektivenwechsel. Ich werde den Text nochmal überarbeiten und schauen, ob ich das nicht besser hinbekomme.

Darinka

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom