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Ohnmacht
Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig.
Als es geschieht bin ich jung, halte mich für erwachsen und stehe am Empfangstresen des Kieferorthopäden. Noch vor wenigen Minuten waren zwei Fremde mit Skalpell, Spüler, Sauger, Wattebäuschen und anderem Kram in meinem Mund zugange. Nun habe ich zwei Weisheitszähne weniger und kein Gefühl mehr in der rechten Gesichtshälfte. Das Schlimmste sind immer die Betäubungsspritzen. Die sind sogar schlimmer als das Knacken, wenn der Zahn aus dem Kiefer gebrochen wird. Aber ich habe mir meine innere Unruhe nicht anmerken lassen, meinetwegen hätte Papa gar nicht mitkommen müssen, ich hätte das auch alleine geschafft. Die Plüschrobbe, die sie mir in die Hand gedrückt haben, war hinterher zerknautscht und durchgeschwitzt. Aber das hat keiner gemerkt und jetzt stehen wir wieder alle am Tresen. Ich höre zu, wie ich die Wunde spülen muss und was ich essen darf, bis plötzlich der Infozettel in meiner Hand verschwimmt und alles schwarz wird. Als ich aufwache sind zwei Gesichter über mir, das von Papa und das, mit dem ich eben noch am Tresens geredet habe. Ich frage mich, was die beiden an meinem Bett wollen und denke "Lasst mich schlafen!". Es dauert einen Moment bis ich wieder weiß wo ich bin. Das Tresengesicht ist verschwunden und sucht einen freien Raum, in dem ich mich von meinem unfreiwilligen Nickerchen erholen kann. Das Gesicht von Papa ist noch da. "Du warst ohnmächtig, ich hab dich gefangen und hingelegt. Du hattest die Augen auf, so wie tot!" – Ich bin so froh, dass er da ist.
Es gibt noch einen Moment – da bin ich aber nur kurz davor, ohnmächtig zu werden. Ich liege bäuchlings auf der Klappliege meiner Physiotherapeutin und sie drückt an meiner verschobenen Wirbelsäule herum bis ich Sterne sehe. "Werd endlich gerade!", denken wir beide. Ich kenne den Schmerz. Ich mag ihn sogar, denn er ist eine Abwechslung zu den Verspannungen, die ich sonst habe und je mehr es weh tut, desto mehr wird es helfen, rede ich mir ein. Dieses Mal nicht, denn mein Kreislauf ist noch nicht so bereit für die Behandlung wie ich. Ich versuche, das Flimmern vor meine Augen wegzuatmen, doch es klappt nicht. Ich schwitze und die Sterne verwandeln sich in schwarze Flecken, die immer größer werden. Erschrocken japse ich, denn reden kann ich gesichtunter durch das Loch der Liege nicht. Zum Glück bemerkt sie es und lässt von mir ab. Wir drehen mich auf den Rücken. Ich habe fast nichts an, doch es gibt nichts, was mir in dem Moment egaler ist. Die Flecken kreisen immer noch, darum geht sie und holt mir ein Glas Wasser. Ich bin froh, alleine zu sein, atme und endlich kommen die Farben zurück.
Ich finde heraus, dass man ohnmächtig wird wenn das Gehirn in physischen oder psychischen Stresssituationen seine eigenen Funktionen drosselt, um lebenserhaltenden Körperfunktionen wie Atmung und Herzschlag aufrecht zu erhalten. Man verliert also kurzzeitig die Macht über sich selbst, schaltet auf Autopilot und die Lichter gehen aus.
Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig.
Abgesehen natürlich von dem Mal, als mir im Club ein Typ von hinten die Hand in die Hose schiebt. In die Hose, in des Slip und in mich. Ohne Vorwarnung und ohne Erlaubnis nimmt er sich meine Macht und ich sehe sein Grinsen, dann sehe ich nichts mehr, werde innerlich ohnmächtig. Als ich zwischen all den tanzenden Menschen aus dem Schock erwache sind nur ein paar Sekunden vergangen – vielleicht weniger. Die fremde Hand ist weg und auch er ist verschwunden. Ach, und abgesehen von dem Mal, als ich nach meinem ersten Unitag nach Hause komme. In einer fremden Stadt, mit fremden Leuten und aufgeregt bin und glücklich und das Leben spannend und hell ist. Bis das Telefon klingelt, eine fremde Nummer aber eine bekannte Stimme, die mir sagt, dass ein wichtiger Mensch nicht mehr da ist. Drei Worte und die innere Ohnmacht reißt mich aus der Realität. Und abgesehen auch von dem Mal, als ich gehen muss. Weg von der Zukunft, die ich einmal wollte. Als ich alles zurücklassen muss, weil ich verstehe, dass es keinen anderen Weg gibt. Als diese eine Zeile aus diesem einen Lied nur von mir gesungen werden kann: „I broke your heart so carelessly – but made the pieces part of me“. Ich schlafe nicht mehr und werde krank und ich esse nicht mehr und werde darum nicht gesund. Ich bin ohnmächtig vor Schmerz.
Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig.
Ich habe diese Ohnmacht in meinem Leben unzählige Male gespürt. Nur konnte mich dann keiner auffangen, hinlegen und warten bis ich wieder aufwache – bis das Licht wieder angeht.
Ich sitze am Frühstückstisch. Du sitzt mir gegenüber und fischt vorsichtig ein Stück Eierschale von deiner Brötchenhälfte. Es ist schön, mit dir zu frühstücken. Dann gibt es jeden Tag Sonntagsei und Aufbackbrötchen und Kaffee bis unsere Herzen galoppieren. Du magst das Gefühl, ich nicht. "Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig", sage ich. Mein Kaffee ist noch zu heiß, ich verbrenne mir die Zunge, aber das ist gerade unwichtig. "Cool!", sagst du, siehst mich fröhlich an und wischt zufrieden die Eierschale am Tellerrand ab.