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Ohnmacht

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10.03.2020
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Ohnmacht

Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig.

Als es geschieht bin ich jung, halte mich für erwachsen und stehe am Empfangstresen des Kieferorthopäden. Noch vor wenigen Minuten waren zwei Fremde mit Skalpell, Spüler, Sauger, Wattebäuschen und anderem Kram in meinem Mund zugange. Nun habe ich zwei Weisheitszähne weniger und kein Gefühl mehr in der rechten Gesichtshälfte. Das Schlimmste sind immer die Betäubungsspritzen. Die sind sogar schlimmer als das Knacken, wenn der Zahn aus dem Kiefer gebrochen wird. Aber ich habe mir meine innere Unruhe nicht anmerken lassen, meinetwegen hätte Papa gar nicht mitkommen müssen, ich hätte das auch alleine geschafft. Die Plüschrobbe, die sie mir in die Hand gedrückt haben, war hinterher zerknautscht und durchgeschwitzt. Aber das hat keiner gemerkt und jetzt stehen wir wieder alle am Tresen. Ich höre zu, wie ich die Wunde spülen muss und was ich essen darf, bis plötzlich der Infozettel in meiner Hand verschwimmt und alles schwarz wird. Als ich aufwache sind zwei Gesichter über mir, das von Papa und das, mit dem ich eben noch am Tresens geredet habe. Ich frage mich, was die beiden an meinem Bett wollen und denke "Lasst mich schlafen!". Es dauert einen Moment bis ich wieder weiß wo ich bin. Das Tresengesicht ist verschwunden und sucht einen freien Raum, in dem ich mich von meinem unfreiwilligen Nickerchen erholen kann. Das Gesicht von Papa ist noch da. "Du warst ohnmächtig, ich hab dich gefangen und hingelegt. Du hattest die Augen auf, so wie tot!" – Ich bin so froh, dass er da ist.

Es gibt noch einen Moment – da bin ich aber nur kurz davor, ohnmächtig zu werden. Ich liege bäuchlings auf der Klappliege meiner Physiotherapeutin und sie drückt an meiner verschobenen Wirbelsäule herum bis ich Sterne sehe. "Werd endlich gerade!", denken wir beide. Ich kenne den Schmerz. Ich mag ihn sogar, denn er ist eine Abwechslung zu den Verspannungen, die ich sonst habe und je mehr es weh tut, desto mehr wird es helfen, rede ich mir ein. Dieses Mal nicht, denn mein Kreislauf ist noch nicht so bereit für die Behandlung wie ich. Ich versuche, das Flimmern vor meine Augen wegzuatmen, doch es klappt nicht. Ich schwitze und die Sterne verwandeln sich in schwarze Flecken, die immer größer werden. Erschrocken japse ich, denn reden kann ich gesichtunter durch das Loch der Liege nicht. Zum Glück bemerkt sie es und lässt von mir ab. Wir drehen mich auf den Rücken. Ich habe fast nichts an, doch es gibt nichts, was mir in dem Moment egaler ist. Die Flecken kreisen immer noch, darum geht sie und holt mir ein Glas Wasser. Ich bin froh, alleine zu sein, atme und endlich kommen die Farben zurück.

Ich finde heraus, dass man ohnmächtig wird wenn das Gehirn in physischen oder psychischen Stresssituationen seine eigenen Funktionen drosselt, um lebenserhaltenden Körperfunktionen wie Atmung und Herzschlag aufrecht zu erhalten. Man verliert also kurzzeitig die Macht über sich selbst, schaltet auf Autopilot und die Lichter gehen aus.

Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig.

Abgesehen natürlich von dem Mal, als mir im Club ein Typ von hinten die Hand in die Hose schiebt. In die Hose, in des Slip und in mich. Ohne Vorwarnung und ohne Erlaubnis nimmt er sich meine Macht und ich sehe sein Grinsen, dann sehe ich nichts mehr, werde innerlich ohnmächtig. Als ich zwischen all den tanzenden Menschen aus dem Schock erwache sind nur ein paar Sekunden vergangen – vielleicht weniger. Die fremde Hand ist weg und auch er ist verschwunden. Ach, und abgesehen von dem Mal, als ich nach meinem ersten Unitag nach Hause komme. In einer fremden Stadt, mit fremden Leuten und aufgeregt bin und glücklich und das Leben spannend und hell ist. Bis das Telefon klingelt, eine fremde Nummer aber eine bekannte Stimme, die mir sagt, dass ein wichtiger Mensch nicht mehr da ist. Drei Worte und die innere Ohnmacht reißt mich aus der Realität. Und abgesehen auch von dem Mal, als ich gehen muss. Weg von der Zukunft, die ich einmal wollte. Als ich alles zurücklassen muss, weil ich verstehe, dass es keinen anderen Weg gibt. Als diese eine Zeile aus diesem einen Lied nur von mir gesungen werden kann: „I broke your heart so carelessly – but made the pieces part of me“. Ich schlafe nicht mehr und werde krank und ich esse nicht mehr und werde darum nicht gesund. Ich bin ohnmächtig vor Schmerz.

Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig.
Ich habe diese Ohnmacht in meinem Leben unzählige Male gespürt. Nur konnte mich dann keiner auffangen, hinlegen und warten bis ich wieder aufwache – bis das Licht wieder angeht.

Ich sitze am Frühstückstisch. Du sitzt mir gegenüber und fischt vorsichtig ein Stück Eierschale von deiner Brötchenhälfte. Es ist schön, mit dir zu frühstücken. Dann gibt es jeden Tag Sonntagsei und Aufbackbrötchen und Kaffee bis unsere Herzen galoppieren. Du magst das Gefühl, ich nicht. "Ich war in meinem Leben erst ein Mal ohnmächtig", sage ich. Mein Kaffee ist noch zu heiß, ich verbrenne mir die Zunge, aber das ist gerade unwichtig. "Cool!", sagst du, siehst mich fröhlich an und wischt zufrieden die Eierschale am Tellerrand ab.

 

Hallo @hesa

bevor ich anfange auf deine Kurzgeschichte einzugehen, möchte ich dich im Forum willkommen heißen.

Grundsätzlich finde ich die Idee cool, dass eine Person aus Ereignissen ihres Lebens erzählt und dadurch einen Abriss über mehrere Jahre gibt.

Ich verstehe nur nicht so ganz, was du mir als Leser sagen möchtest, beziehungsweise wo die Handlung hinführt. Für mich ist da eben eine Person, die einmal ohnmächtig wurde, einmal kurz davor stand und sich das ein oder andere Mal machtlos fühlte. Mehr lese ich persönlich da nicht raus.

Ich lese den Text ein zweites Mal und möchte dabei kommentieren:

Als es passiert bin ich jung, halte mich für erwachsen und stehe am Empfangstresen des Kieferorthopäden.
Am Anfang sieht die Figur in die Vergangenheit zurück und dann bist du in der Gegenwart. Vielleicht kann man das ja so machen; ich bin da drüber gestolpert.

mit Skalpell und Spüler und Sauger und Wattebäuschen und anderem Kram in meinem Mund zugange
Warum keine Kommas?
Die sind sogar schlimmer als das Knacken wenn der Zahn aus dem Kiefer gebrochen wird.
Da fehlt ein Komma, oder?
Zum Glück bin ich cool, meinetwegen hätte Papa gar nicht mitkommen müssen, ich wäre auch mit der Bahn gefahren.
Das "zum Glück bin ich cool" fand ich persönlich unpassend.
Aber das hat keiner gemerkt und jetzt stehen wir am Tresen und ich höre zu, wie ich die Wunden spülen muss und was ich essen darf und dann verschwimmt der Infozettel in meiner Hand und alles wird schwarz
Der Satz wirkt auf mich etwas arg lang.
und denke „Lasst mich
und denke: " …"
Tresengesicht
Das fand ich lustig.
„Du warst ohnmächtig, ich hab dich gefangen und hingelegt. Das sah cool aus. Du hattest die Augen auf, so wie tot.“
Das klingt unwirklich. Würde ein Vater sagen, dass es cool aussieht, wenn sein Kind ohnmächtig wird und sagen, dass es wie tot aussah? Klingt das realistisch? Für mich nicht.
der echte Tod würde doch etwas spektakulärer werden
Was für eine krasse Figur, dass sie einen spektakulären Tod möchte.
Dieses Mal nicht. Ich versuche, das Flimmern vor meine Augen wegzuatmen, doch es klappt nicht. Ich schwitze und die Sterne verwandeln sich in schwarze Flecken, die immer größer werden.
Was ist das für eine Physiotherapeutin, dass die dermaßen reindrückt? Kann man dadurch ohnmächtig werden?
Ohne Vorwarnung und nimmt er sich meine Macht und ich sehe sein Grinsen aber ihn sehe ich nicht, ich sehe nichts mehr, werde ohnmächtig.
Das erste "und" würde ich rauslassen.
Der zweite Teil des Satzes klingt meiner Meinung nach nicht ganz flüssig.


Das wars soweit von mir.

Man liest sich!
Gruß aufdemWeg

 
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Hallo aufdemWeg, ich danke Dir sehr für Deine Anmerkungen!

 

Hallo hesa,

ich fange mit dem konstruktiven Teil der Kritik an. Am Ende komme ich zu den positiven Aspekten, damit du diese genießen kannst.


Erstens bin ich bei deinem Text über die vielen "und" gestolpert.

Noch vor wenigen Minuten waren zwei Fremde mit Skalpell und Spüler und Sauger und Wattebäuschen und anderem Kram in meinem Mund zugange.

Mein Lesefluss wird dadurch beeinträchtigt. Für mich wäre es leichter, wenn es mit Kommata formuliert wäre:

Noch vor wenigen Minuten waren zwei Fremde mit Skalpell, Spüler, Sauger, Wattebäuschen und anderem Kram in meinem Mund zugange.

Hierbei sind mir auch die vielen "und" aufgefallen. Für mich wirkt das sprachlich nicht ganz sauber. Ich habe den Eindruck, dass dein Text an Qualität gewinnen könnten, wenn du daraus mehrere Sätze machst.

Aber das hat keiner gemerkt und jetzt stehen wir am Tresen und ich höre zu, wie ich die Wunden spülen muss und was ich essen darf und dann verschwimmt der Infozettel in meiner Hand und alles wird schwarz.

Aber das hat keiner gemerkt und jetzt stehen wir am Tresen. Ich höre zu, wie ich die Wunden spülen muss, was ich essen darf und dann verschwimmt der Infozettel in meiner Hand. Alles wird schwarz.

Drittens kommt mir dieser Teil (siehe Zitat) als zu kurz vor im Vergleich zu der Anfangsszene mit der Weisheitszahnoperation. Es ist eine schockierende Stelle, die mir als düster und bedrohlich vorkommt (zumindest steckt es als Potential darin). Hier hätte ich mir eine ausführlichere Darstellung gewünscht, die den Schock deutlicher herausstellt, was es bedeutet sich "ohnmächtig" zu fühlen.

Abgesehen natürlich von dem Mal, als mir im Club ein Typ von hinten die Hand in die Hose schiebt. In die Hose, in des Slip und in mich. Ohne Vorwarnung und nimmt er sich meine Macht und ich sehe sein Grinsen aber ihn sehe ich nicht, ich sehe nichts mehr, werde ohnmächtig. Als ich aus dem Schock erwache sind nur ein paar Sekunden vergangen – vielleicht weniger.

Ich hoffe, dass du mit diesen Anmerkungen etwas anfangen kannst. Kommen wir jetzt zum positiven Teil:

Du hast mich am Anfang richtig gut abgeholt. Ich musste selbst an meine eigene Operation denken und dieser Satz ist mir besonders positiv in Erscheinung getreten:

Das Schlimmste sind immer die Betäubungsspritzen. Die sind sogar schlimmer als das Knacken wenn der Zahn aus dem Kiefer gebrochen wird

Da war ich emotional bei dem Text und wollte weiterlesen, weil es sehr plastisch beschrieben ist. Ich konnte mir die Szene sehr gut vorstellen. Sehr schön geschrieben!

Mir gefällt vor allem auch das Ende - ich musste schmunzeln. Da reflektiert die Protagonistin während ihres inneren Monologs tiefgründig über das Thema "Ohnmacht" (bzw. ohne Macht), nur um dann die lapidare Antwort: "Cool" zu bekommen. Gleichzeitig steckt in diesen Zeilen ein schöner Kontrast. Auf der einen Seite steht die Dunkelheit der Protagonistin und auf der anderen Seite das "fröhliche" Gegenüber.


Ich freue mich auf weitere Texte oder Überarbeitungen von dir. Außerdem schätze ich es, dass du deine Geschichte veröffentlicht hast. Das erfordert immer ein bisschen Mut (zumindest ist das mein ganz persönlicher Eindruck). In dem Sinne bedanke ich mich für deinen Text.

 

Hallo @MRG ,
vielen Danke für dein Feedback und die ehrlichen, freundlichen Worte! Es freut mich, wie Du den Text verstanden hast. Das trifft genau die Intention – hart, aber trotzdem mit der Ironie des Moments.

Ich habe mir die Anmerkungen von Dir und @aufdemWeg zu Herzen genommen und finde, Ihr liegt sehr richtig mit Euren Aussagen. Das hilft mir weiter und sensibilisiert beim zukünftigen Schreiben. Danke!

Ich habe manche Stellen noch einmal angepasst und denke, es ist etwas flüssiger geworden.

Viele Grüße
hesa

 

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