Platzen - sterben - warten
Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass er nicht tot war. Bis eine Nachricht von ihm eintraf. Es täte ihm leid. So leid. Das war gut, denn nun wusste sie, dass er nicht tot war. Jetzt konnte sie es mit Sicherheit sagen, tot, nein, tot ist er nicht.
Können Gefühle sterben? Wo gehen tote Gefühle hin? Vielleicht treffen wir alle nach unserem Ableben auf unsere Gefühle, auf alle, die wir mal gefühlt haben im Leben. Für sehr sensible Menschen könnte das traumatisch werden.
Sie vermutet seine Gefühle in diesem Zwischenraum, dort, wo die Gefühle auf ihre Menschen warten.
Das war nicht immer so. Sie versteht auch nicht, warum seine Gefühle plötzlich beschlossen haben, in den Warteraum zu gehen. Niemand ist gerne in Warteräumen, da riecht es immer so steril. Aber seine wollten das offenbar.
Vor ungefähr drei Jahren wurden sie geboren. Er war längere Zeit schwanger mit ihnen, gab ihnen schon einen Namen. Mehrmals täglich wiederholte er den Namen. Im Bus, beim Zähneputzen, beim Joggen im Wald. Und dann, auf einmal am Bahnhof, platze die Fruchtblase. Er stieg mit ihr in den Zug, das Fruchtwasser durchströmte die Gänge, lief unter die Sitze. Die Leute hoben kurz ihre Füsse und wunderten sich dann nicht weiter darüber..
Sie war eine schlechte Hebamme. Erfahrung ist essentiell in diesem Feld und daran fehlte es ihr. Sie sass einfach da, im Zug, und hielt seine Hand. Aber die Gefühle kamen! Sie kamen, wennauch unkontrolliert. Ob sie gesund waren, das konnte die junge Hebamme nicht beurteilen, sie waren einfach....da.
Einige Tage später erkannte sie, dass auch sie schwanger war. Sie wusste es eigentlich schon lange, seit sie ihn das erste mal gesehen hatte, bewusst gesehen. Das geht nicht gut, das geht ganz und gar nicht gut, rief sie panisch. Sie hatte erst grad eine Fehlgeburt hinter sich. Und irgendwie hegte sie noch die Hoffnung auf Reanimation dieser verlorenen Gefühle. Die toten Gefühle fänden den Warteraum vielleicht auch viel zu steril und sie kämen zurück, redete sie sich ein. Sie wollte kein Risiko eingehen, nichts Neues gebären, bevor sie sich nicht sicher sein konnte, dass die Fehlgeburt eben doch keine war.
Aber damit verhalf sie sich nur zum zweiten Unglück.
Sie trieb ab.
Sie tötete, was er geboren hatte.
Sie hatte ihn geschwängert, oder er sie, man weiss es nicht genau, aber am Ende hat sie sein Kind getötet.
Drei Jahre nach dem Mord empfand sie eine ziehende Sehnsucht nach diesen Gefühlen. Sie schrieb ihm eine Nachricht, ob sie sich sehen könnten, er war einverstanden, sie machten einen Winterspaziergang. Durch den Schnee wandernd wurde sie schwanger vom Mondlicht. Sie dachte, ihm sei das selbe passiert. Weil er sie nämlich küssen wollte. Sie hatte Angst davor, weil sie nicht wollte, dass die Fruchtblase wieder so unkontrolliert platzte. Diesmal wollte sie alles richtig machen. Er küsste sie stattdessen auf die Stirn. Der Berg sieht aus wie eine Hand, sagte er. Wie ein Scherenschnitt, dachte sie.
Diesmal war es nicht das Fruchtwasser, es war eine Lawine. Eine Wortlawine, die keine war, weil sie stumm war. Sie wusste, dass sie in seiner Lawine des Unausgesprochenen sterben würde. Und damit ihre ungeborenen Gefühle. Er wollte, dass die Lawine sie verschluckt. Vielleicht aus Rache. Vielleicht, weil er die Erinnerung an seine Totgeburt nicht wecken wollte, alles, was damit zu tun hatte, begraben wollte.
Er hat einen Namen, der ans Meer erinnert. Das fand sie schön.