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Die Narbe fühlte sich an wie Plastilin. Leise vor sich hinsummend saß Birol in einem Raum, der lediglich mit einem Metallstuhl ausgestattet war und fuhr mit seinen Fingern die Furche an seiner Stirn entlang, welche sich von seinem Nasenbein bis zum linken Haaransatz erstreckte.
Die Tür öffnete sich und mehrere Ärzte, darunter Dr. Volker, betraten den Raum. Er ging auf Birol zu und lächelte ihm aufmunternd zu.
„Sind sie bereit, Herr Karatas?“
Birol atmete tief durch.
„Kann losgehen.“
„Na, dann auf!“
Sie verließen den Raum um einem langen Gang zu folgen, der vor einer massiven Metalltür endete. Auf dem Weg stellte Dr. Volker ununterbrochen dieselben nervigen Fragen, die sie schon tausendmal durchgekaut hatten.
"Was ist Ihr Auftrag?"
"Observieren."
"Was müssen Sie unter allen Umständen vermeiden?"
"Kontakt zu irgendwelchen Personen aufnehmen."
"Warum müssen Sie das vermeiden?"
"Um den Lauf der Zeit nicht zu beeinflussen."
"Wieviel Zeit haben Sie?"
"Soviel Sie mir geben."
"Was haben Sie gefrühstückt?"
"Zwei Spiegeleier, zwei Scheiben gebutterten Toast und eine Tasse ausgezeichneten türkischen, schwarzen Tee."
Dr. Volker nickte lächelnd und tätschelte Birol's Arm.
Sie erreichten das Ende des Gangs. Die tonnenschwere Tür, die den Weg in die Schleuse und den dahinter liegenden Transportraum freigab, öffnete sich mit einem zischenden Geräusch. Der Arzt drehte sich zu Birol um und sah ihn mit ernster Mine an.
„Sie wissen, was sie zu tun haben. Tun Sie's.“
Birol setzte sein strahlendstes Superheldenlächeln auf.
„Rein, gucken, raus. Alles klar. Ich weiß Bescheid. Machen sie sich keine Sorgen Dr. Volker.“
Der Arzt zwinkerte Birol zu und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Na, dann los mein Guter. Viel Glück und viel Erfolg!“
Birol betrat die Schleuse, drehte sich um und wartete, bis das Metalltor hinter ihm mit einem dumpfen Geräusch zufiel. Nachdem er seinen Kittel abgelegt hatte und desinfiziert wurde, teilte ihm ein grün blinkendes Signal auf dem einzigen Monitor in diesem Raum mit, dass er den Transportraum betraten konnte. Nahezu lautlos glitt die dicke Glastür, die in einen kleinen Raum führte, zur Seite und Birol trat ein. In der Mitte befand sich eine Liege, neben der einige Apparate auf ihren Einsatz warteten. Er setzte sich auf die Liege und befestigte alle notwendigen Teile an seinem Arm. Birol wusste, dass sein Körper diesen Raum nicht verlassen würde. Die Mischung aus dem Hauptserum und einigen Kontakten, die er zum Schluss an verschiedenen Stellen seines Körpers anbrachte, würde dafür Sorge tragen, dass er imstande war, bereits stattgefundene Geschehnisse erneut zu erleben, allerdings in seinem damaligen Erscheinungsbild.
Die Zeit, die einem zur Verfügung stand um sich in der Vergangenheit umzusehen, war begrenzt. Die Rückreise war etwas, auf das man keinen Einfluss hatte. Jede Zeitreise war mit einem Zeitfenster ausgestattet, in dem der Auftrag ausgeführt werden musste. Bei Ablauf der Zeit wurden sofort medizinische Maßnahmen zur Rückholung des Reisenden getroffen. Birol musste sich also beeilen.
Nachdem er alle Dioden und die Injektionsautomatik an seinem Arm befestigt hatte, legte er sich auf den Rücken und wartete auf Dr. Volker’s Startsignal.
„Okay, alles läuft prima. Systeme laufen stabil. Wir haben grünes Licht! Sind sie bereit?“
Birol schloss seine Augen.
„Bereit!“
Mit einem Zischen bohrte sich die Nadel in seine Vene und jagte ihm das Serum in den Körper. Die Welt um ihn herum verschwand komplett.
* * * * *
Mit offenem Mund stand Birol vor einem Supermarkt und betrachtete die Leute, die ein und ausgingen. Er war auf alles gefasst gewesen, nur nicht auf sein Spiegelbild, welches ihm aus einer Auslagenscheibe dümmlich entgegengeglotzte. Er war wieder elf Jahre alt! Teils euphorisch wieder jung zu sein, teils bis ins Mark erschüttert, stand er regungslos da und betrachtete seine Hände und seine Kleidung. Auf dem Rücken befand sich sein Adidas Rucksack, den er behalten hatte, bis er sich irgendwann vollends aufgelöst und in seine Einzelteile zerfallen war. Schließlich drehte er sich um und erkannte auf einer Uhr über einem Juweliergeschäft, dass es viertel nach sieben morgens war. Er musste langsam loslegen.
Während er schnellen Schrittes zu seinem Bestimmungsort ging, fuhr seine Hand automatisch an seine Stirn um nach der Narbe zu tasten. Sie war fort. Oder, besser gesagt, sie war noch gar nicht da. An einer Kreuzung blieb Birol stehen und sah sich um. Eine schmale Gasse zu seiner Rechten führte direkt zu seiner ehemaligen Schule. Er beschleunigte seine Schritte, als er von weitem das Schulgebäude erblickte. Drei Jungen standen vor dem Schultor und rauchten Zigaretten. Birol rannte los, überquerte die Strasse und schälte im Laufen die Träger seines Rucksacks vom Rücken. Das dumpfe Aufprallgeräusch ließ die drei Jungen zu ihm hersehen. Es war genau wie damals. Sie standen da, rauchten Zigaretten und suchten jemanden, den sie fertig machen konnten. Aber nicht heute.
„Guckt mal, da kommt Mustafa!“, höhnte der Größte. Das musste Stefan sein. Birol fiel sein Spitzname wieder ein, den ihm diese Idioten verpasst hatten, nachdem irgendwann eine Tatort Folge mit einem türkischen Kriminellen im Fernsehen gelaufen war, der auf diesen Namen hörte. Ehe die anderen auch nur ein Wort sagen konnten, rannte Birol auf Stefan zu und rammte ihm seinen Schuh in die Weichteile. Mit einem Grnuzer klappte Stefan zusammen. Die anderen zwei Jungs, Jürgen und Siegfried, sprangen erschrocken zur Seite. Kommentarlos drehte sich Birol um, drosch seine Faust immer wieder in Jürgen’s Gesicht und ließ nicht locker, ehe er ihm die Nase zu Brei geschlagen hatte und er blutend und halbohnmächtig zu Boden ging.
Weiß wie ein Bettlaken hatte sich Siegfried an die Wand gedrängt und beobachtete Birol dabei, wie er sich wieder dem am Boden liegenden Stefan zuwandte und ihn mit Tritten an den Kopf traktierte, bis dieser sich nicht mehr rührte. Schließlich ließ er von ihm ab, wischte sich die blutigen Knöchel seiner Hand an seiner Hose ab und näherte sich Siegfried mit mordlüsternem Gesicht.
„Warte mal, warte mal..“, stieß dieser ängstlich hervor. Birol nahm Anlauf und donnerte ihm die Stirn gegen die Nase. Sein Hinterkopf krachte gegen die Mauer des Schulgebäudes und Sterne explodierten vor Siegfrieds Augen. Sofort spritzte schwallartig heißes Blut aus der Nase und er sackte in sich zusammen. Birol trat ihm noch ein paar Mal in den Bauch, ehe er auch von ihm abließ und sich umdrehte. Er blickte in mehrere fassungslose Gesichter anderer Schulkinder, die sich vor dem Gebäude eingefunden und seinen Amoklauf mit angesehen hatten. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und lief die Straße entlang.
Sein Herz pochte wie verrückt, als er mehrere Häuserblocks weiter schließlich völlig außer Atem stehen blieb und sich an die Hausmauer lehnte.
Er hatte es geschafft! Lächelnd setzte er sich auf die Stufe vor dem Hauseingang und versuchte sich beruhigen. Sein kleiner Ausflug hatte sicher nicht länger als fünf Minuten gedauert. Genug Zeit seinen eigentlichen, persönlichen Auftrag zu erfüllen. Die Ärzte würden nichts mitbekommen, immerhin gab es keine Möglichkeit der Aufzeichnung. Inwiefern sich seine Handlungen auf die Zukunft auswirken würden, konnte er nicht sagen, niemand konnte das. Letzten Endes war es ihm auch egal. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand eine Riesenlast von den Schultern genommen. Was für ein Riesenglück, dass gerade er für diesen Auftrag ausgesucht worden war! Als er erfahren hatte, dass ihn der Zeitsprung genau an diesen Tag zurückbringen würde, hatte er alles Menschenmögliche getan um sich gegen seine Kontrahenten zu behaupten. Mit Erfolg. Niemand würde ihn heute Tag mit dem Gesicht in eine Fensterscheibe schubsen. Es würde keine Narbe geben, die ihn für den Rest seines Lebens entstellen würde. Lächelnd strich er mit seinen Fingern über seine glatte Stirn. Sie fühlte sich toll an! Er war gespannt darauf, wie er sein neues Ich bei seiner Heimreise vorfinden würde.
Er stand auf und klopfte sich den Straßenstaub vom Hosenboden. Zeit, sich um seinen eigentlichen Auftrag zu kümmern, der ein paar Gassen weiter auf ihn wartete. Rein, gucken, raus – ein Kinderspiel!
Birol begann erneut zu laufen. Zuerst langsam, dann immer schneller. Als er zwischen den Passanten hindurchflitzte, begann er zu lachen. Ein neues Leben erwartete ihn und er war verdammt gespannt darauf.