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Regen.

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27.10.2017
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Regen.

REGEN

Wasser fiel in dicken Tropfen aus der Wolkendecke hinab, die den Himmel wie ein blauschwarzer Schleier einzuhüllen schien. Wirkte dabei so dunkel und trüb wie die Gedanken der Menschen in dem Boot, auf das es gerade unaufhörlich hinabprasselte und das unter ihm fast unwirklich, so unsagbar klein anmutete. Die armen Geschöpfe, die sich darin befanden, sahen dabei wie die Komposition eines Malers aus, der mit dem Pinsel scheinbar willkürlich bunte Farbkleckse auf seiner Leinwand in der Mitte einer einfarbigen Wasserlandschaft platziert hatte. Blickte man in ihre Gesichter, meinte man die Lethargie förmlich spüren zu können, die bereits Besitz von ihnen ergriffen hatte. In manchen Augenpaaren spiegelte sich wiederum ein angesichts der Situation fast absurd erscheinender Hoffnungsschimmer wider, der sich von ihren ausdruckslosen Mienen deutlich abhob.

Ein junger Mann im hinteren Bereich der schwimmenden, übervollen Nussschale klammerte sich zitternd abwechselnd an der Reling und am Nacken seines Vordermannes fest. Das Krachen der Wellen, durch den aufkommenden Wind längst zu Wogen erwachsen, ließ ihn in jenen Augenblicken, als sie gegen die Holzplanken schlugen, immer wieder aufs Neue zusammenzucken. Er wusste nicht, was schlimmer war: Das Bewusstsein für die Schuld, seine Familie, seine Heimat, sein bisheriges Leben hinter sich, ja, im Stich gelassen zu haben, und die nun wie eine schwere Last auf seinen Schultern ruhte. Oder dieser immer wieder aufkeimende Angstzustand, der ihn seit dem Besteigen des kleinen Schiffes quälte, und noch um den Verstand zu bringen drohte.

Zu Hause in Nigeria waren es ganz andere Dinge gewesen, die ihn beschäftigen. Wie der Krieg, der zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen seines Landes tobte. In seinen Augen etwas Fürchterliches, Unbegreifliches. Waren sie doch letzten Endes alle Bürger des ein und desselben Landes, verbunden durch Kultur, Nationalität und Mentalität. Religion allein konnte und durfte einfach keine Rolle in der Entscheidung über Leben und Tod spielen. Mit Schrecken kam ihm dabei die Erinnerung an die Geräuschkulisse in den Sinn, die sich einem an den vielen Kriegsschauplätzen, die über das ganze Land verstreut waren bot, und die sich ihm mit der Zeit schier unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hatte. Wie ein Echo hallten die verzweifelten Schreie und ratternden Gewehrsalven noch immer durch seinen Gehörgang, der bis tief in seine Erinnerung reichte.
Heute wie damals empfand er diese wie schwere, zähflüssige Regentropfen, die vom dunkelgrauen Himmel auf die staubtrockene afrikanische Erde herabfielen, und die ihn förmlich dazu zwangen, sich die Ohren mit Watte zu verstopfen.

Minuten waren allmählich zu Stunden geworden. Ein Tag folgte dem nächsten, um ihn psychisch dermaßen an den Rand der Erschöpfung zu treiben, als hätte er ein ganzes Jahr durchlebt. Er wusste nicht mehr, wann seine Füße zuletzt festen Boden betreten hatten, geschweige denn, wo genau er sich im Moment tatsächlich befand.

Auf der anderen Seite des Wassers wartet das bessere Leben, hatten sie gesagt. Seine Familie, die Freunde, alle. Also war er gegangen, um etwas zu ändern, es besser zu machen. Für sie. Und dennoch fühlte er sich schuldig, sie verlassen zu haben. Womöglich für immer.

Vielleicht waren es nur noch eine Handvoll Kilometer bis nach Italien. Der Hunger und die in unregelmäßigen Abständen wiederkehrende Seekrankheit taten ihr Übriges dazu, dass er während dieser zu seiner persönlichen Odyssee gewordenen Reise nicht nur einmal meinte, er könne bereits den schmalen Küstenstreifen Siziliens vor seinen Augen tanzen sehen. Ob der alte Fischkutter, auf dem er mitsamt den anderen Passagieren zusammengepfercht wie ein Stück Vieh kauerte, womöglich aber auch erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, daran wagte er gar nicht erst zu denken.

Je mehr er sich den Kopf darüber zermarterte, desto klarer erschien es ihm mit einem Mal:
Er musste es irgendwie schaffen, von hier fortzukommen. Und sei es auch nur für einen winzigen Moment. Wenn es seinem Körper auch nicht gelingen würde, dieses schwimmende Gefängnis zu verlassen, so blieb ihm zumindest noch, sich von dort aus in seine Gedanken zu flüchten, die ihn weit wegtrieben vom Hier und Jetzt. Vom Meer hinauf in die Wolken. Dorthin, von wo es gekommen war. Das Wasser. Er schloss die Augen, um die Welt für einen Augenblick in den Hintergrund treten zu lassen.

Und so fand er sich selbst als Tropfen wieder, der sich langsam vom Himmel loslöste. Im Fallen begegnete er Gleichgesinnten. Viele Einzelne formten allmählich eine Einheit, wurden zum wilden Strom. Er taumelte, stürzte, flog irgendwohin. Fiel immer weiter. Würde zerschellen, verlaufen, verloren gehen. Sich dennoch wieder finden. Irgendwann wieder, dann. Er würde auf Gesichter treffen.
Diese schienen, gen Himmel gereckt, nur darauf zu warten, dass er sie benetzt. Wollte mit ihnen verschmelzen, sie einhüllen, verzieren. Während des Falls noch Wasser, nun vertrocknet, bloß Staub. Die Reise nahm ein Ende, der Weg war weit.

Als sich seine Augenlider langsam und schwerfällig wieder öffneten, war ihm, als würde er aus einem bleiernen Schlaf erwachen.
Er hörte nicht das Gelächter spielender Kinder im Garten vor seinem Haus, war nicht an Bord eines Flugzeuges auf dem Weg nach Lagos. Er war immer noch irgendwo inmitten des nicht enden wollenden, flüssigen Nichts. Trieb orientierungslos vor sich hin wie ein Blatt, das der Wind längst seinem Schicksal überlassen hatte. Fühlte den Regen, der sich mit seinen Tränen zu einer warmen Flüssigkeit verband, und nun wie Tautropfen von seinen Wangen perlte.
Er war am Leben. Er war hier.

 

Hi PFechter,

du hast sicher ein wichtiges Thema aufgegriffen. Sprachlich finde ich ein paar hübsche Einzelheiten und eine an sich solide Erzählweise. Aber so richtig zieht es nicht an. Aus meiner Sicht hast du auf beiden Ebenen (Stil und Inhalt) zu wenig gewagt. Es plätschert so dahin, aber eigentlich passiert nicht viel, und wenn der Hintergrund auch dramatisch ist, so lädst du kaum dazu ein, ihn mitzuerleben, weil du im Ganzen ziemlich im Allgemeinen bleibst.

Gleich am Anfang geht das so los:

Wasser fiel in dicken Tropfen aus der Wolkendecke hinab, die den Himmel wie ein blauschwarzer Schleier einzuhüllen schien.
Klingt irgendwo ganz nett, aber zugleich auch wie schon oft gehört.

gerade unaufhörlich
Widerspruch in sich, würd ich sagen.

und das unter ihm fast unwirklich, so unsagbar klein anmutete.
Ich bin kein Perspektivenpolizist, aber hier frage ich mich trotzdem: soll ich mir das aus dem Himmelanschauen oder vom Boot aus?

Komposition eines Malers aus, der mit dem Pinsel scheinbar willkürlich
"Komposition" und "scheinbar willkürlich" klingt für mich auch nach einem inneren Widerspruch. Ich verstehe zwar, was du meinst, aber ich finde es nicht ganz geglückt, das so direkt gegensätzlich auszudrücken.

bunte Farbkleckse
Warum eigentlich bunt? Leuchtend rot - könnte ich mir denken, wegen der Schwimmwesten.

Blickte man in ihre Gesichter, meinte man die Lethargie förmlich spüren zu können, die bereits Besitz von ihnen ergriffen hatte. In manchen Augenpaaren spiegelte sich wiederum ein angesichts der Situation fast absurd erscheinender Hoffnungsschimmer wider, der sich von ihren ausdruckslosen Mienen deutlich abhob.
Könnte man auch sortieren bzw. genauer zeigen: Wer schaut lethargisch, wer hoffnungsvoll? Wenn es nur "ihre" heißt, komme ich durcheinander. Und es wirkt dann auf mich wenig durchdacht: Erst lässt du mich glauben "sie" (=alle im Boot) seien lethargisch, nur um das gleich zu widerrufen.

Ein junger Mann im hinteren Bereich der schwimmenden, übervollen Nussschale
Wäre aus meiner Sicht eine Überlegung wert, den jungen Mann früher zu zeigen.

Er wusste nicht, was schlimmer war
Fragt er sich das gerade? Klingt für mich in der Situation zu reflektiert. Wenn ich mir das vorstelle: Er sitzt da und fragt sich: Was ist jetzt wohl schlimmer, die Schuld oder die Lebensgefahr? Kann man beides ansprechen, aber vielleicht irgendwie näher am Mann.
und noch um den Verstand zu bringen drohte.
So wirkt er auf mich nicht.

der Krieg, der zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen seines Landes tobte.
In welcher Zeit spielt das? In der Gegenwart von Krieg zu sprechen scheint mir nicht die offizielle Lesart zu sein, "Auseinandersetzungen" oder auch "kriegerische Zustände" vielleicht eher?

In seinen Augen etwas Fürchterliches, Unbegreifliches. Waren sie doch letzten Endes alle Bürger des ein und desselben Landes, verbunden durch Kultur, Nationalität und Mentalität.
Es ehrt den jungen Mann sicher, dass er so denkt, aber stimmt das? Ich frage mich, wann haben schon zwei Leute dieselbe Mentalität? Oder umgekehrt: Warum bei der Nation halt machen, in der Welt insgesamt sind die Unterschiede letztlich doch auch nicht größer. Für den Text hat das insofern eine gewisse Bedeutung, als Kultur, Mentalität usw. recht dehnbare Begriffe sind und es mir den Mann näher bringen würde, wenn er sie mit Inhalt füllte (z.B.: … schwärmten sie doch alle für dieselben Nollywood-Stars - und dann diese natürlich besser mit Namen (ich kenne keinen) )

Religion allein konnte und durfte einfach keine Rolle in der Entscheidung über Leben und Tod spielen.
Sehen manche klarerweise anders. Es wäre vielleicht eine Möglichkeit, auszugestalten, dass und wodurch dem jungen Mann das bewusst ist.

Mit Schrecken kam ihm dabei die Erinnerung an die Geräuschkulisse in den Sinn,
Diese Erinnerung bleibt trotz
verzweifelte(r) Schreie und ratternde(r) Gewehrsalven
letztlich ziemlich unkonkret.

noch immer durch seinen Gehörgang
Klingt mir leicht unfreiwillig komisch, wie die erinnerten Schüsse durch den Gehörgang rattern (und wie der Gehörgang bin in die Erinnerung reicht).

Dass die Regentropfen in Nigeria auf

afrikanische Erde
fallen, versteht sich ja eigentlich von selbst. Das finde ich als exotisierende Ausschmückung nicht besonders bereichernd.

Hier habe ich noch einmal eine Stelle, die ich des inneren Widerspruchs verdächtige:

daran wagte er gar nicht erst zu denken.

Je mehr er sich den Kopf darüber zermarterte

Kann er sich den Kopf zermartern, wenn er nicht einmal daran zu denken wagt?

Er musste es irgendwie schaffen, von hier fortzukommen.
"Von hier" erscheint mir zweideutig. Das Boot bewegt sich sicherlich, also kommt er "von hier" fort. Besser wäre, meine ich, konkreter: "Aus dem Boot" oder so was.

Trieb orientierungslos vor sich hin
Immer noch im Boot oder jetzt nicht mehr? Es klingt recht einsam, andrerseits habe ich nichts davon mitbekommen, das der Nachen gekentert wäre.

Er war am Leben. Er war hier.
Könnte als spannende innere Entwicklung vielleicht einen guten Schluss ergeben. Mir war das aber zu blass, wie er sich für ein paar Momente weggedacht hat. Was ist da innerlich passiert, so dass er jetzt einen neuen Standpunkt haben kann? Könnte interessant sein, aber das müsstest du halt noch ausbauen.

Das waren so ein paar Punkte. Ich habe schon Texte gelesen, die mir weniger gefallen haben, trotzdem bin ich, wie du merkst, auch nicht von der Geschichte begeistert. Wenn du von der Schablonenhaftigkeit wegkommst, kann das was werden. Allerdings sagt sich das leicht und macht sich meist schwer und nicht ohne viel Arbeit.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

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