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Rock And Roll-Prinzessin

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11.02.2015
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Rock And Roll-Prinzessin

„Ich wartete des Guten, und es kommt das Böse;
Ich hoffte aufs Licht, und es kommt Finsternis.“
Hiob, 30,26


Mit jedem hatten die Eltern von Anne gerechnet, als es spät abends an ihrer Haustür klingelte, aber sicher nicht mit Anne selbst. Ihr Vater öffnete und ihm viel die Kinnlade runter, als er ‚sein Mädchen‘ völlig heruntergekommen, durchnässt und mit verschmierten Make up vor sich sah.
„Anne? Was ist passiert?“, der alte Mann traute seinen Augen kaum.
„Bitte frag nicht… darf ich reinkommen?“
„Was für eine Frage! Was ist denn nur passiert?“ Anne schien unter Schock zu stehen, als sie an ihrem Vater und mit einer Reisetasche an der linken Hand vorbeiging und ins Haus trat. Anne zitterte am ganzen Leib, als sie ins Wohnzimmer schlurfte, wo ihre Mutter sie in Empfang nahm.
„Um Himmels willen, Anne!“ Auch ihre Mutter war sprachlos von Annes Anblick.
Ihr Vater war es, der die Fassung als erstes wieder erlangte.
„Was hat er dir nur angetan?“, er spielte auf den englischen Musiker an, den Anne seit einiger Zeit begleitete.
„Es ist alles aus. Alles aus und vorbei. Ich kann nicht mehr“, murmelte Anne und ließ sich auf die altmodische Wohnzimmercouch fallen. „Ich bin so froh, wieder hier zu sein!“
Dieser Satz erschütterte ihre Eltern. Noch vor einem dreiviertel Jahr wollte Anne sonstwo sein, aber nicht zu Hause bei ihren Eltern in Deutschland rumhocken. Deswegen packte sie ihre sieben Sachen und machte sich auf nach England. Wie sehr sie dieses Spießerleben hasste. Schon immer wollte sie ein außergewöhnliches Leben führen. Von Glanz und Glamour hatte sie geträumt, schon als kleines Mädchen, als sie noch die kleine Prinzessin ihres Vaters war. Und jetzt dieser vielsagende Satz. Abgenommen hatte sie auch erschreckend. Sie sah krank aus. Anne schien ein anderer Mensch geworden zu sein. Das Leben als Rock and Roll-Groupie schien ihr offenbar nicht wirklich zu bekommen. Ihre Eltern setzten sich und starrten Anne an. Sie waren gespannt darauf, was sie wohl zu erzählen hätte. Wenn sie überhaupt dazu in der Lage war.
„Es war alles eine Katastrophe. Mit diesem Penner bin ich fertig“, murmelte sie und zündete sich dabei eine Zigarette an.
„Du siehst übel aus, Anne. Hast du Drogen genommen?“
„Ach, das ist doch nicht der Punkt. Der Punkt ist der, daß… daß…“
Anne fing zu schluchzen an.
„Dieser verdammte Drogenjunkie! Dem werde ich beide Arme brechen, dann kann er noch nicht mal mehr Luftgitarre spielen, dieser Hund!“, platzte es aus ihrem Vater raus.
„Nein, lass nur“, meinte Anne. „der ist eh in England. Und vielleicht bin ich ja auch nicht ganz unschuldig an der ganzen Misere.“
„Dann sag uns doch endlich, was passiert ist!“, blökte Annes Mutter und schlug sich auf die Schenkel. Große Dramen waren noch nie ihr Fall gewesen. Außer ihrem Haushalt und ihren Ehemann zu bekochen gab es sonst nichts weiter in ihrem monotonen Leben. Auch Annes Vater war recht weltfremd. Er arbeitete sein Leben lang im Finanzamt und bearbeitete stumpf seine Aktenberge, tagein, tagaus, 38 Jahre lang. Privat zog er es vor, auf der Couch zu liegen, um sich Fußballspiele anzuschauen und Bier zu trinken. Mehr passierte da nicht.
Anne sortierte ihre Gedanken und ließ die letzten Monate Revue passieren, fast so, als würde ein Film vor ihrem geistigen Auge ablaufen.
„Anfangs war alles so, wie ich es mir vorstellte. Ich wohnte bei einer Freundin in ihrer WG, arbeitete unter der Woche bei dieser Modezeitschrift als Sekretärin, und sah Jeff fast jedes Wochenende. Ich war bei jedem Konzert dabei, und es war einfach nur schön, bei ihm zu sein. Ich war offiziell seine Freundin, viele andere Weiber waren deswegen richtig neidisch auf mich, aber das war mir egal. Jeff und ich waren zusammen, nichts anderes war wichtig.“
Sie nahm einen Zug aus ihrer Zigarette. Dann zog sie ihre nasse Jeansjacke aus und deutete auf die silberne Halskette, an der ein auffallend schönes Herz hing, das im Licht immer wieder aufblitzte.
„Das hat er mir damals geschenkt. Ist es nicht schön?“, lächelte sie und zog nochmal hastig an der Kippe.
„Naja, und dann lernte ich Rory kennen, Jeffs besten Kumpel. Da fing der ganze Spaß an.“
„Warum hast du nie was erzählt? Du hast in der ganzen Zeit gerade mal vier Mails an uns geschickt“, warf ihre Mutter mit wehleidigen Blick ein. „Vier kurze Mails in neun Monaten!“
„Dafür hatte ich fast täglich Kontakt mit Roman, über Facebook!“
„Ja, dein kleiner Bruder hat uns davon erzählt“, meinte ihr Vater gedankenversunken. „Aber meinst du nicht, daß wir uns darüber gefreut hätten, wenn du auch mit uns den Kontakt aufrecht erhalten hättest?“
Anne zuckte mit den Schultern. „Ja, stimmt schon“, sagte sie kleinlaut.
„Und was war dann mit diesem Rory? Hat er dir was angetan?“ Ihre Mutter malte sich schon sämtliche Schandtaten aus, die sie aus ihren Groschenromane her kannte.
„Wir verbrachten viel Zeit bei ihm in seiner Bude, mitten in London. Er ist ein Säufer und Junkie. Als ich dann bei Susy, also der Freundin mit der WG, rausgeschmissen wurde…“
„Du wurdest rausgeschmissen?“, rief ihre Mutter schockiert.
„Jetzt laß‘ Anne ausreden, Adèle. Was war dann, Anne?“
„Susy glaubte ernsthaft, ich hätte ihren Schmuck gestohlen, diese Billigklunker, dabei war es ihr Freund Richie, dieser Langfinger, aber das wollte sie ja nicht wahrhaben. Na, und als ich auf der Straße stand, hat Rory mich aufgenommen. Anfangs war das ja noch alles völlig in Ordnung…“
Ihr Vater schaute sie ernst an. „Hast du dann angefangen, Drogen zu nehmen?“
Pause. Anne überlegte, ob sie lügen, oder besser die Wahrheit sagen sollte. Dann fiel ihr ein, wie erbärmlich sie jetzt aussah, gezeichnet vom Junk. Sie sah aus wie eine erbärmliche Straßennutte. Jetzt zu lügen wäre lächerlich. Sie entschied sich, mit offenen Karten zu spielen.
„Ja. Wir rauchten Joints, tranken jede Menge Alkohol, und dann fing ich mich Smack an.“
„Smack? Was ist das?“, wollte ihr Vater wissen.
„Naja, Heroin halt.“
Annes Mutter schlug die Hände über ihren Kopf zusammen. „Um Himmels willen, meine Tochter nimmt Heroin!“ Anne wußte, daß das alles noch ausarten würde, sie kannte ihre Eltern zu gut, wobei sie wußte, daß ihr Vater noch derjenige ist, der nicht gleich bei jedem Geständnis ausflippen würde. Das konnte ihre Mutter viel besser. Normalerweise würde Anne jetzt zurückgiften, so nach dem Motto ‚wasweißtdudennschon?‘, aber dazu hatte sie jetzt nicht die nötige Kraft, und sie wollte dieses Frage und Antwort-Spiel so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Ja, Heroin, Mutter! Na, und das alles artete halt eben aus. Ich verlor schließlich meinen Job bei der Modezeitschrift, und wußte nicht mehr, wie es weitergehen sollte.“
Dabei verschwieg sie wohlweißlich, daß sie in dieser Zeit anschaffen ging, um sich über Wasser zu halten. Jeff Barkley war zwar in der Musikszene auch außerhalb Englands bekannt, verdiente allerdings nicht soviel, wie man vermutet hätte, und das Geld, das hauptsächlich durch Konzerte reinkam, gab er gleich wieder für Drogen und Alkohol aus. Anne konnte er zumindest nicht ernähren, obwohl sie es sich so sehr gewünscht hätte. Sie malte sich immerzu aus, wie es wäre, ein Kind von ihm zu haben. In Gedanken ließ sie auch schon die Kirchenglocken zu ihrer gemeinsamen Hochzeit läuten. Doch es hat nicht sollen sein.
„Rory war mir gegenüber sehr ausfallend und aggressiv. Einmal ging er volltrunken auf mich los und stieß mich die schmale Treppe herunter. Ich hätte mir sonstwas brechen können! Daraufhin rief ich in meiner Verzweiflung Jeff an, der auch kurz darauf vorbeischaute, und der schlug Rory erstmal zusammen. Danach hatte ich meine Ruhe.“
„Warum hast du nicht mit deinem Jeff zusammengelebt? Der hat doch sicher eine Wohnung?“, fragte ihr Vater.
„Eine Wohnung? Die hatte er mal. Er lebte in den letzten Monaten, als wir noch zusammen waren, auf einem Campingplatz in einem Wohnwagen, der ihm noch nicht mal gehört…“
Ihr Vater schüttelte fassungslos seinen Kopf. „Unfassbar… unglaublich… diese widerwärtigen Junkies… unfassbar.“
„Und dann war mir auch irgendwann klar, daß Jeff mich betrog. Vor allem diese Schlampe aus Paris war mir ein Dorn im Auge. Zu der isser dann vor etwa vier Monaten gezogen, und ließ mich mit diesem wahnsinnigen Rory alleine!“
„Und in sowas warst du verliebt“, warf ihre Mutter vorwurfsvoll ein.
„War? Bist du dir sicher?“, schoß Anne zurück. Ihre Augen erinnerten an zwei geladene Knarren, die jederzeit losgehen könnten.
„Du willst uns doch nicht weismachen, daß du diesem Junkie immer noch hinterläufst!? Schau dich doch nur mal an, was er aus dir gemacht hat!“
„Und wenn schon, Mutter. Du verstehst gar nichts!“, schrie Anne, die scheinbar wieder zu ihrer alten Kraft und Energie zurückgefunden hatte.
Ihr Vater richtete sich auf und ging im Wohnzimmer auf und ab, den Kopf zum Boden geneigt, tief in Gedanken versunken. „Es mag sein“, fing er an, „daß wir tatsächlich so manches nicht verstehen, Anne. Wir verstehen aber, was wir sehen. Und wenn wir uns dich betrachten, dann sehen wir eine junge Frau, die völlig am Ende zu sein scheint. Das Schlimme daran ist die Tatsache, daß diese Frau unsere Tochter ist. Anne, du brauchst Hilfe. Das kann unmöglich so weitergehen.“
Anne schaute ihren Vater an. „Deswegen bin ich hier“.
„Und wie es soll es danach weitergehen? Du wirst doch sicher wieder nach England reisen wollen, um diesem Jeff Barkley hinterher zu hecheln…“
„Nein, das habe ich nicht vor!“, rief Anne aus, verärgert, daß ihr Vater sie ertappt hatte. Er kannte seine Tochter.
„Da hat er dich einfach sitzen lassen“, wimmerte ihre Mutter, „und machte sich schöne Stunden in Paris, so wie es aussieht. Hat der Mann denn kein Gewissen?“
„Er ist Musiker, Mutter. Und ich bin mir sicher, daß er diese blöde Michelle gar nicht liebt, diese Sumpfkuh. Sie hilft ihm nur bei seinem Schreibkram, wenn er Probleme mit irgendeinem Amt hat. Was kann sie ihm sonst bieten, was ich ihm nicht bieten kann?“
„Weiß er, daß du wieder hier bist? Habt ihr noch Kontakt?“
Das war eine gute Frage. Anne hatte ihm eine Nachricht geschrieben, daß sie wieder zurück nach Deutschland und zu ihrer Familie gehen würde, aber keine Antwort von Jeff erhalten.
„Ja“, log Anne, „wir haben noch Kontakt.“
„Also, ein Gentlemen scheint er ja nicht zu sein, dein ominöser Musikerbarde.“
„Du brauchst jetzt nicht so komisch über ihn reden, Vater“ Anne drückte ihre Zigarette aus und wurde langsam nervös. Nicht wegen ihren Eltern, sondern weil der Affe einsetzte. Ihren letzten Stoff zog sie sich im Fernzug durch die Nase, jetzt war nichts mehr da.
„Anne, der Typ hat dich offensichtlich zerstört!“
„Ach was. Zu sowas gehören immer noch zwei. Ich war auch ziemlich zickig, bevor wir uns getrennt hatten“.
„Und wie stellst du dir jetzt deine Zukunft vor?“, wollte ihre Mutter wissen.
„Erstmal hier bleiben. Ich such mir’n Job bei einer Zeitung. Gibt’s ja genug hier im Ruhrgebiet und ich bin ja erst 27. Irgendjemand nimmt mich schon.“
„Erstmal, aha“, warf ihr Vater ein. „Und dann wieder zurück zu diesem Drogenjunkie, nicht?“
„Nein!“ Es ärgerte Anne, daß ihr Vater genau wußte, wie sie tickte. So in etwa stellte sie sich das auch tatsächlich vor. Sie liebte ihren Jeff noch immer. Sie wollte und konnte ihn nicht einfach so aufgeben. Vier Jahre lang umschwärmte sie ihn aus der Ferne und sagte schon damals zu all ihren Freundinnen, daß sie eines Tages Mrs.Barkley werden würde. Jetzt war sie mehr oder weniger kurz vor ihrem Ziel. Dieser Traum, diesen Status zu erreichen, war noch nicht ausgeträumt. Eher würde sie Katzendreck fressen, als Jeff aus ihrem Leben zu verbannen.
Anne zündete sich eine weitere Marlboro an – Jeffs Zigarettenmarke -, und fing sich an zu kratzen. An den Ärmen, auf dem Kopf, am Hals und zwischen den Beinen. Ihrer Mutter fiel das Gehabe auf.
„Hast du etwa Läuse?“
Das amüsierte Anne. Ihre Mutter hatte keinen blassen Schimmer, wie Drogen wirken. Auch wußte sie nichts davon, wie ein körperlicher Entzug funktioniert. Irgendwie machte ihr Unwissen sie sympatisch.

„Ich glaube, ich bekomme die Grippe“, stöhnte sie und hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest.
„Naja, es ist vielleicht besser, wenn du ein Bad nimmst und dann ins Bett gehst“, meinte ihr Vater. „Und morgen reden wir weiter. Am liebsten würde ich nach Paris fahren und diesem Jeff den Hals umdrehen.“
„Laß‘ gut sein. Er ist gestraft genug mit dieser eingebildeten Michelle. Der hält es eh nicht lange bei ihr aus.“
Anne sammelte ihre Jacke und ihre Tasche zusammen, verabschiedete sich und ging nach oben in ihr Zimmer.


Nachdem Anne sich im Badezimmer umzog und frisch machte, schmiss sie in ihrem Zimmer den Lapton an und ging online. Sie mußte natürlich gleich ihren Facebook-Status aktualisieren: „I’m in Germany again and it’s so great to be back! I love my family so much.“ Daß entsprach natürlich nicht ganz der Wahrheit, aber sie lernte schon früh, den Schein zu wahren. Geschissen auf die Wahrheit.
Dann sah sie, daß Louise online war. Die hatte einen guten Draht zu Jeff's Manager Oswald. Vielleicht gab es Neuigkeiten.
„Hey Louise, ich bin daheim in Germany. Weißt du, wie es Jeff geht? Hat Oswald was gesagt?“
„Hi Maus! Naja, dein Jeff ist angeblich zur Zeit im Studio, um an seiner neuen Platte zu arbeiten.“
„Und sonst so?“
„Nix, keine News. Sag mal, kannste ihn nicht einfach vergessen? Vielleicht spielt er in einer ganz anderen Liga als du!?“
Jeff vergessen? Anne geriet in Rage.
„NIE UND NIMMER! EHER SCHNEIDE ICH MIR DIE PULSADERN AUF!“
„Mach ja keinen Scheiß, Süße. Werde dir schreiben, wenn ich Neuigkeiten habe! Drück dich! xxx“
Anne kamen Zweifel auf. Was, wenn Louise eine falsche Schlange ist? War sie nicht auch mal auf Jeff scharf? Anne traute ihr nicht ganz. Sie zündete sich noch eine Zigarette an und legte sich anschließend ins Bett, war ein langer Tag gewesen. Aber zur Ruhe würde sie eh nicht kommen, solange sie auf turkey war. Sie schluckte ein paar Beruhigungspillen und spülte sie mit Gin runter. Nur nicht verzweifeln. In 48 Stunden dürfte das Gröbste überstanden sein. Sie wußte, was auf sie zukommt, es sollte nicht ihr erster Entzug sein.

Am nächsten Morgen lag sie mit Schüttelfrost im Bett. Es kam ihr vor, als würden tausende von kleinen Nadeln in ihren zitternden Körper einstechen, und sie bereute bereits, England und ihre guten Drogenquellen den Rücken gekehrt zu haben. Ihre Mutter brachte Anne Fleischbrühe ans Bett. Sie ging natürlich davon aus, daß sich ihre Tochter lediglich eine üble Grippe eingefangen hatte.
„Fleischbrühe“, dachte Anne, und spürte, wie sich ihr Magen drehte. „Den Dreck kann ich jetzt unmöglich zu mir nehmen“. Sie fühlte sich beschissen und hoffte, daß die nächsten Stunden so schnell wie möglich vorübergehen würden. Dann dachte sie an Jeff und an diese kleine miese Schlampe Michelle, die ihm womöglich jeden Wunsch von den Augen ablas. Anne fiel in eine Depression. Ihre Rolle als Mrs.Barkley schien so weit weg wie ein ferner Planet zu sein, und die Aussicht, in irgendeiner Redaktion einer bedeutungslosen deutschen Modezeitschrift zu versauern, bereitete ihr größtes Unbehagen. Sie ging online und chattete mit ihrem Bruder Roman. Vielleicht könnte er sie ein wenig ablenken.
„Bin wieder bei den Alten!“
„Echt? Wie läufts?“
„Ich liege im Bett mit Fieber. Bleibe wohl erstmal hier.“
„Was haben die gesagt?“
„Waren von meinem Anblick nicht sehr begeistert, kannste dir ja vorstellen.“
„Yep. Die letzten Photos, die du auf deinem Profil gepostet hast, waren erschreckend!“
„Oh, danke! Ich bin halt n drogensüchtiges Rock’n’Roll Babe! *smile*“
„Ja, weiß schon. Hey! Ich komm am Wochenende mal vorbei.“
„Wo bist du jetzt?“
„Auf’n Weg zur Vorlesung. Langweiliger Stoff. Hätte auch liegen bleiben können. Echt ätzend!!“
„Dann sehen wir uns am Samstag?“
„Yep!“
„Okay, freu mich. xxx“
„xxx“
Mit ihrem Bruder hatte sie sich immer gut verstanden, auch wenn sie oft das Gefühl hatte, daß er von den Eltern bevorzugt wurde. Er war halt ein kleiner Streber und hatte klare Ziele vor Augen, daß gefiel den Eltern. Anne hingegen hatte bisher nicht viel zustande gekriegt. Abgebrochene Lehre als Frisörin, Parties ohne Ende, zwielichtige Freunde – die Liste war schier endlos. Sie fühlte sich wie der letzte Dreck. Und dann verkaufte sie auch noch in London ihren Körper, um sich das Heroin zu finanzieren. Sie fing zu weinen an. Der Affe hatte sie voll im Schwitzkasten, erbarmungslos und dreckig lachend. Heulend hockte sie auf ihrem Bett und fühlte sich völlig alleine auf der Welt, isoliert und verlassen von allen Freunden und Bekannten.
„Warum steht mir niemand bei?“, wimmerte sie vor sich hin. „Warum liebt mich niemand? Warum bin ich immer so alleine?“
Sie stand auf und spähte in den Flur. Offenbar waren ihre Eltern gerade gemeinsam einkaufen. Anne war alleine im Haus. Weinend und schluchzend lief sie ins Badezimmer und zog sich aus. Dann ließ sie warmes Wasser in die Wanne laufen und legte sich hinein. In ihren Händen hielt sie eine Packung Rasierklingen von Wilkinson Sword. Sie nahm eine heraus und rammte sie in ihren linken Arm. Zunächst eher zaghaft, dann mit Nachdruck. Das Blut schoß raus und färbte das Badewasser rosa. Sie schloß die Augen und hoffte, daß alles bald vorbei sein würde. Langsam dämmerte sie ein.


Als sie die Augen wieder öffnete, war alles weiß und verschwommen. Sie wußte nicht genau, wo sie war. Ob daß der Himmel ist? Wo sind die Engel? Oder ist sie vielleicht bei Jeff in Paris? Eine Männerstimme machte sich bemerkbar. Erst war sie weit weg, dann schien sie direkt und klar.
„Wie fühlen Sie sich?“
„Ich… ich weiß nicht. Wo bin ich denn eigentlich?“
„In guten Händen. Sie haben einen Selbstmordversuch unternommen, erinnern Sie sich? Ihre Eltern fanden sie bewusstlos in der Badewanne vor.“
„Dann bin ich also nicht tot?“
„Nein, Sie sind dem Sensenmann gerade noch von der Schippe gesprungen. Seien Sie froh. Sie hätten auch genausogut sterben können. Nicht auszudenken, wie?“
„Wo bin ich?“
„In der Geschlossenen. Sie werden hier recht lustige Mitpatienten kennenlernen!“
„Mitpatienten?“
„Ja. Wir haben hier alles. Jemanden, der behauptet, Jesus Christus zu sein. Ein anderer glaubt, sich im zweiten Weltkrieg an der Front zu befinden und tanzt von morgens bis abends den Blitzkrieg-Bop. Dann läuft einer rum, der der Stellvertreter von Barack Obama sein will. Er ist außerdem davon überzeugt, den Urknall erfunden zu haben. Sein bester Freund nennt sich Noah und sagt, daß er einen Heiratsantrag des Papstes erhalten habe. Er nennt sich ‚die Päpstin‘. Er ist recht lustig. Oh, dann muß ich noch unbedingt ‚den Professor‘ erwähnen. Der ist spitze. Der glaubt ernsthaft, eine Formel erfunden zu haben, mit der er das PISA-Niveau in Deutschland erhöhen will. Nicht zu fassen, was? Na, Sie merken schon, hier geht es kunterbunt zu, junges Fräulein, he he he!“
„Wo sind meine Eltern? Wo ist mein Bruder?“
„Wir werden Ihre Familie unverzüglich informieren, daß Sie wieder bei Bewusstsein sind. Und denken Sie dran: alles wird gut!“
Die Stimme verschwand. Anne grübelte kurz über daß nach, was sie gerade vernommen hatte. Die Päpstin. Jesus Christus. Urknall. Was soll das? Dann wurde ihr wieder schummrig vor Augen und fiel kurz darauf in tiefen Schlaf. Sie träumte, in einem alten Gespensterschloß gefangen zu sein, umgeben von kleinen Zwergen, die sich gegenseitig Heroin spritzten. Draußen war es dunkel und neblig, und der Papst und seine lustige Päpstin tanzten nackt und laut lachend um sie herum, während Jeff Barkley seine Gitarre, eine alte Gibson verbrannte, und die falsche Schlange Michelle auf seinen Schultern trug. Fabelwesen in modrigen Kutten fesselten Anne auf einen steinernen Altar, und Roman, ihr Bruder, fasste tief in ihre Fut und holte ihre gemeinsame Mutter heraus, die entsetzt beide Hände über den Kopf zusammenschlug und jammerte, „Um Himmels willen, Jesus Christus nimmt Heroin!“ Sie nahm Roman und den heiligen Geist an die Hand und tanzte mit ihnen den Blitzkrieg-Bop. Annes Vater schwebte als Geist an der Decke und murmelte immerzu, "Ich werde ihm den Hals umdrehen... ich werde ihm den Hals umdrehen..." Dann war plötzlich alles schwarz.

(Februar 2015)

 
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Hallo Mack,
ich habe Deine doch recht umfangreiche Geschichte eben in einem Atemzug gelesen und das will schon etwas heißen, ich bin keine geduldige Leserin.
Du schreibst sehr flüssig, mir sind keine groben Fehler aufgefallen, was allerdings nicht viel heißen muss, ich bin ab einem gewissen Niveau Fehlerblind. Außer den vielen "ß", die Dir ja scheinbar am Herz liegen, Dir hier aber keine Freunde bringen werden. ;) Du hast mich auch zu keiner Zeit gelangweilt, oder verloren, ich war immer gespannt, wie es weiter geht.
Und ich habe mir zunehmend Gedanken darüber gemacht, wie man solch eine doch recht langsam aufgebaute Geschichte sinnvoll zu ende führen könnte.
Und das ist der kleine Haken an der Sache. Ich finde das Ende nicht rund. Erstens wird es echt sehr unplausibel in der Geschlossenen. So würde kein Arzt, oder Pflegepersonal, mit einer neuen, dem Suizid
gerade noch mal so von der Schippe gesprungenen Neupatientin reden.
Außerdem schüttelst Du den gesamten Suizid etwas aus dem Ärmel, ich denke ein bisschen "keiner kümmert sich um mich"- Stimmung reicht nicht für die Rasierklinge. Das hätte sich in ihrer doch recht lockeren Stimmung früher abzeichnen müssen. Ich fühle keine rechte Verzweiflung vorab.

Der Traum an sich ist echt ziemlich absurd und dadurch witzig, aber als Ende dieser sehr realen Geschichte irgendwie überhaupt nicht passend.

Aber über weite Strecken hat es mir Spaß gemacht zu lesen, wirklich!
Viel Spaß hier wünscht Dir:
Gretha

Ich habe noch was vergessen, das:

„Ich wartete des Guten, und es kommt das Böse;
Ich hoffte aufs Licht, und es kommt Finsternis.“
Hiob, 30,26

hätte ich kursiv gesetzt.

 
Zuletzt bearbeitet:

@ Gretha
Stimmt. Zumindest nach dem Entzug und vor dem Selbstmordversuch muß noch etwas spezielles geschehen. Vielleicht lasse ich Mr.Barkley in Paris sterben, oder, vielleicht besser, ich lasse ihn die andere Tante heiraten. Und dann sterben. Werde mich ans Werk machen, wenn die 'neue' Schreibmaschine bei mir eintrudelt (eine Brother Deluxe aus dem Jahre 1971). Am PC arbeiten ist die reinste Qual und völlig inspirationslos. Und das 'ß' bleibt natürlich. Ich bin in diesen Buchstaben verliebt. Das Bibelzitat habe ich natürlich kursiv geschrieben. Auf meiner Homepage: http://mack78.jimdo.com/randnotizen-eines-asozialen/
@ Alexander
Werde über den gesamten Text nochmal drübergehen. Die Dialoge aber bleiben weitestgehend. Sie sind authentisch. Die Eltern von 'Anne' existieren tatsächlich. Und die reden so. :)

 

Hallo Mack,

ich schließe mit vollumfänglich Alexanders Meinung an, viel anders hätte ich es auch nicht formuliert.

Ergänzend noch:

Die Dialoge aber bleiben weitestgehend. Sie sind authentisch. Die Eltern von 'Anne' existieren tatsächlich.
:hmm: - willst du eine spannende, den Leser interessierende Geschichte schreiben oder authentisch bleiben und dafür langweilig?
Diese Argumentation mit der Authentizität lese ich hier immer wieder - zwar sagt man, das Leben schreibt die schönsten Geschichten - aber halt nicht jedes Mal. Für mich haben die Dialoge viel Potential zur Satire.
In deinem Zusammenhang jedoch wirken sie deplatziert.

Viele Grüße
bernadette

 

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