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Samira im Staub von Bethlehem

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10.08.2017
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Samira im Staub von Bethlehem

Samira und die hebräischen Soldaten

Die Haustür tanzte unter ihren Fäusten. Bald würde der Riegel brechen. „Aufmachen!“, rief ein Soldat. „Oder wir treten die Tür ein.“ Samira erkannte seinen hebräischen Akzent. Sie drückte ihre Puppe fest an sich, rang mit den Tränen. „Weine nicht, wenn sie vor dir stehen“, sagte Mama immer. „Du musst stark sein. Dein Vater war es.“ Sie hatten ihn vor ihrer Geburt geholt. Ihr Bruder Ahmad war jetzt der Beschützer.
„Ich öffne die Tür“, sagte Ahmad. Die Schläge verstummten. Er schob den Riegel beiseite. Die Männer stürmten auf ihn, schlugen ihn, er ging zu Boden. Ein schwarzer Stiefel drückte seinen Kopf gegen die Holzbretter.
„Bist du Ahmad Halawi?“, brüllten sie.
„Tut ihm nichts“, schrie Samira. Eine Hand zerrte sie weg.
„Was wollt ihr?“, keuchte Ahmad. Das Blut floss ihm aus der Nase. Sie richteten ihn auf und schleiften ihn ins Dunkel der Nacht. „Samira!“, rief er. „Sag Mama, dass ich wiederkomme.“ Samira stand regungslos vor der Tür. Als seine Beine hinter der Wand verschwanden, brach sie in Tränen aus.

„Was ist passiert, Samira?“, fragte ihre Mutter. Sie trug den Brotkorb herein. „Warum hockst du hinter der Tür und wo kommt das Blut her?“
„Ahmad ist weg“, schluchzte Samira. „Sie haben ihn verschleppt.“ Jede Dreijährige in der Westbank kannte dieses Wort.
„Komm zu mir.“ Sie umarmte Samira, küsste sie und lockerte ihre Faust, die sich in ihre Puppe eingegraben hatte. Samira schloss die Augen. „Wir gehen jetzt schlafen. Morgen kehrt er inschallah zurück.“
„Mama“, flüsterte Samira. Ihre Augen blieben geschlossen. „Ich möchte vorher beten, dass Allah die Soldaten verschwinden lässt.“

Am nächsten Tag hörte Samira wieder Soldatenstimmen von der Straße. „Vorwärts, du Terrorist“, rief ein Soldat. Samira schaute durch das Loch neben der Tür. Sie sah ihren Bruder, Gewehre drückten in seinen Rücken. „Ahmad“, schrie sie. „Ahmad!“
Zwei Soldaten drehten sich mit einem Ruck um, hielten ihre Gewehre im Anschlag und rückten auf die Haustür vor. Ein Riese und ein Zwerg. Der dritte Soldat blieb mit Ahmad zurück. Samira versteinerte. „Hier lebt noch eine Terroristin“, flüsterte der Riese. „Schau mal da unten.“ Der Zwerg lugte durch das Loch, direkt in Samiras Augen. „Festnehmen, festnehmen!“, brüllte der Zwerg und schob den Lauf seine Waffe durch das Loch. Der Riese trat die Tür ein und kroch hindurch. Samira umklammerte das Gewehr und riss es dem Zwerg aus der Hand. Mit einem weiten Schwung schlug sie den Kolben gegen den Kopf des Riesen. Der Riese kippte um und blieb liegen. Der Zwerg rannte um sein Leben. Samira verfolgte ihn, packte ihn an den Armen und warf ihn auf die Füße des dritten Soldaten. Beide schrien auf und flüchteten.
„Samira, du hast mich befreit“, rief Ahmad. Er rannte auf seine Schwester zu, umarmte sie. Samira weinte vor Glück. „Danke“, flüsterte er in ihr Ohr. „Ich vermisse dich.“ Ahmad fing an zu zittern. Sie öffnete die Augen.

Samira schreckte aus ihrem Bett hoch. Die Wand wummerte, das Haus vibrierte. Ihre Mutter rannte auf sie zu, Samira streckte ihr die Arme entgegen. Da brach die Wand über Mutter zusammen. Ein Bulldozer blieb neben Samiras Bett stehen und setzte wieder zurück. Sie schrie. Das gleißende Sonnenlicht fiel durch den Staub in der Luft auf Mutters Arm, der unter den Trümmern herausragte. Samira ergriff ihre Hand, drückte sie an ihr Gesicht. Die Hand streichelte Samira ein letztes Mal über die Wange. Dann rollte der Bulldozer wieder rein.

„Salam, meine Liebe“, sagte der Mann mit einem Lächeln. „Herzlich willkommen.“ Samira kannte sein Gesicht von dem Foto mit Mutter und Ahmad.
„Vater! Mutter, du bist auch hier!“
Nur Ahmad musste bleiben.

 

Lieber Craig,

eine sehr komplexe Thematik für eine kurze Kurzgeschichte. Du hast dich hier für die Perspektive der Palästinenser auf den Konflikt entschieden, ich finde das auch legitim. Stilistisch finde ich den Text gut geschrieben, viel Show, wenig redundante Worte.

Inhaltlich finde ich die Ausarbeitung der Figur der kleinen Schwester schwierig. Sprachlich wäre eine Dreijährige nicht zu den Sätzen fähig, die du ihr in den Mund gelegt hast. Dann müsste auch noch bedacht werden, dass das Kind nach der Verhaftung ihres Bruders mit Sicherheit traumatisiert ist. Kleine Kinder reagieren auf Schmerz und Bedrohungen mit einer Instinkthandlung: Sie erstarren quasi, bis eine Person erscheint, die ihnen Sicherheit signalisiert und nicht Auffressen. Deshalb fangen sie z. B. nach einem Sturz erst an zu weinen, wenn Mama oder Papa kommen.

Samira versteinerte

Das passiert bei dir erst in ihrem Traum, als die Soldaten zurückkommen; sie hätte aber schon vorher mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mit den bewaffneten, fremden Männern gesprochen.

Auch der Ablauf wird nicht ganz klar: Schon am Anfang habe ich gar nicht mitbekommen, dass die Kinder allein im Haus sind. Und auch, dass Samira träumt, als sie dem Soldaten die Waffe aus der Hand reißt, habe ich erst beim zweiten Lesen begriffen.

Dass Israel Bulldozer gegen Häuser einsetzt, in denen sich Menschen befinden, habe ich - bei aller Brutalität in diesem Krieg - bisher noch nicht gehört. Vor der Zerstörung von Häusern als Strafmaßnahme gegen Attentäter werden diese geräumt, dem ganzen geht ein Gerichtsbeschluss voraus. Trotzdem schlimm genug, und vielleicht weißt du da mehr.

Verwirrend fand ich auch die plötzliche Rückkehr des Vaters, die so völlig außerhalb der Geschichte zu stehen scheint. Aber vielleicht kann man gerade damit den ganzen Wahnsinn verdeutlichen, den die betroffenen Menschen, vor allem die Kinder, auf beiden Seiten des Konflikts vermutlich schon lange nicht mehr nachvollziehen können.

Ein Text, der zum Nachdenken anregt - ich finde es immer gut, wenn auch politische Themen aufgegriffen werden.

Viele Grüße

Willi

 

Hallo Craig,

Ich kann mich weitgehend Willis Kommentar anschließen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ein kleines Mädchen durch die Gewalt, die ihrem Bruder widerfährt, in Schockstarre verfallen würde. Ob es da schon Rachefantasien entwickelt? Und dass es eher den "Riesen" besiegt als den "Zwerg"?
Steckt da eine Symbolik dahinter? Vielleicht, weil sie seit ihrer Geburt mit bedrohlichen Situationen umgehen muss? Wenn du diesen Aspekt mit ein paar Hintergrundsbeschreibungen anreichern würdest, wäre Samiras Verhalten für mich plausibler.

Den letzten Abschnitt interpretiere ich als Wiedersehen mit den Eltern nach dem Tod, im "Himmel". Solche Vorstellungen sind im Christentum sehr verbreitet. Hier weiß ich nicht, ob ein palestinensisches Mädchen solche Erwartungen hat. Vielleicht magst du darauf in deiner Antwort eingehen.

Auf jeden Fall finde ich es mutig, das Thema hier anzuschneiden.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Danke für eure Antworten. Man muss berücksichtigen, dass Dreijährige in solchen rechtsfreien Gebieten staatlicher Willkür natürlich anders und viel schneller heranwachsen als bei uns. Das erklärt durch mehrfache Erfahrung, dass sie nicht in Schockstarre verfallen muss, wenn ihr Bruder abgeführt wird. Die Sprache ist sicher relativ hoch, aber nicht unmöglich, ich habe selbst eine dreijährige Tochter, daher weiß ich das.

Was die Bulldozer betrifft: Doch, leider kommt es immer wieder vor, dass palästinensische Häuser nicht nur abgerissen werden, sondern sich darin sogar noch Menschen aufhalten. Mehrere Fälle von durch Bulldozer in ihren Häusern im Schlaf getöteten Palästinensern sind dokumentiert, siehe die Berichte von Norman Finkelstein, selbst Sohn von KZ-Überlebenden. Die Dunkelziffer liegt natürlich höher als die Anzahl der bestätigten Berichte. Aber jedenfalls ist es leider nicht fiktional.

Was den letzten Abschnitt betrifft: Ja, da hat Wieselmaus ins Schwarze getroffen. Diese Vorstellung ist bei Christen und Muslimen im Orient durchaus verbreitet, also auch bei den Palästinensern.

Viele Grüße
Craig

 
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„Eine Nation ist eine Gruppe von Menschen, die durch einen
gemeinsamen Irrtum hinsichtlich ihrer Abstammung und
eine gemeinsame Abneigung gegen ihre Nachbarn geeint ist.“
K. Deutsch​

Hallo Craig,

eigentlich wollt ich zu diesem heiklen Thema hier warten, bis Du auf den Anschlag auf Gott geantwortet hättest. Aber Schwamm drüber!

Ob eine Dreijährige so spricht wie Samira (samara = "die am Abend plaudert") ist eigentlich in von einem Dritten erzählten Alptraum nebensächlich und vereinfacht gesagt arbeitet der/die Betroffene Erlebnisse darin ab, was dann auch märchen-/sagenhafte Bilder erzeugen kann wie, dass eine Dreijährige einen Zwerg und einen Riesen besiegt (hatte nicht Herakles schon als Kind ... nee, in solchen Themen scherzt man nicht!)

Wobei natürlich das Mädchen für Palästinenser und Zwerg (Iseaelis sind Würstchen und doch) nebst Riesen übermächtig, ob so vom Autor angedacht oder nicht, es kommt so rüber.

Wie alles, was wir aus der Ferne (ob zeitlich oder räumlich) beschreiben, kann es nur eine Annäherung sein. Der Schluss mit der Rückkehr des Vaters zeigt dann doch an, dass ein Fünkchen in diesem Bruderkrieg (große Teile der palästinensischen (= Philister, Reste der von Pharao besiegten Seevölker) Bevölkerung lebten immer schon in Palästina/Kanaan) und blieben auch dort, als nach der Zeitenwende mit den andauernden Aufständen gegen Rom die aramäisch (!) sprechenden Eliten in alle Welt zerstreut wurden. Im Grunde taten die Römer, was bereits Babylon vorgemacht hatte: Verschleppen, umsiedeln ...

Als "(H)Ebräer" wurde wahrscheinlich im gesamten alten Orient eine soziale Schicht aus Unfreien bezeichnet, die sich als Lohnarbeiter oder Söldner verdingen mussten. Da kommt dann auch die Joseph-Legende und in der Folge die Moses-Geschichte nebst Auszug aus Ägypten her, die ja in der Flucht vor dem Kindsmörder Herodes und der Rückkehr eine Parallele zum älteren Mythos bildet. Vor Ägypten her kommt dann auch mit dem Isis-Horus Bild unsere weihnachlicht verehrten Madonna mit Kind.

Samira versteinerte
klingt ein wenig nach der Geschichte Lots und seiner Frauen, die sich nach Sodom und Gomorrah (kann sein, dass ich letzteres falsch aus dem Gedächtnis schreib, aber man sollte wissen, was ich mein) gegen göttliches Gebot umdrehen (vllt. umkehren?) und zu Salzsäulen erstarren. Versteinern ...

Heikles Thema halt, da kann man eigentlich nicht sagen, "gern" gelesen. Angenehmer wäre zu lesen, dass sich die Brüder zusammenrauften ohne Waffen.

Tschüss

Friedel

Jetzt hab ich doch glatt übers Plaudern die Frage nach dem Alltag vergessen ... Selbst im Dreißigjährigen Krieg war der Krieg nix alltägliches, obwohl 1/3 der Bevölkerung zu Tode kam.

 

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