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Schattenbilder an der Wand
Schattenbilder an der Wand
Drei Monate ist es her, als seine Mutter ihm erklärte: „Fritz, höre mir mal bitte zu. Du weißt doch, dass Vati die Filiale seiner Firma in Rendsburg übernimmt."
„Ja," antwortete der achtjährige Fritz, „Dann wird er auch mehr Geld verdienen, nicht? Und dann kann ich auch mehr Schokolade essen, ja?"
„Stimmt," bestätigte sie, „Und du weißt auch, dass es jedesmal eine weite Reise ist, um dort hin zu kommen."
„Mhh," gab er erhlich zu. „Neulich waren wir ja da und die Fahrt dahin war ganz schön langweilig."
Mit ihrer ruhigen, warmen Stimme versuchte sie ihrem Sohn den Umzug so schonend wie möglich beizubringen.
Entsetzt sah er sie an: „Umziehen. Von hier wegziehen? Ich möchte nicht von hier weg ziehen. Ich möchte hier bleiben. Hier sind meine Freunde und hier gehe ich zur Schule!"
„Aber Fritz," sie strich ihm sanft über das Haar. „Es ist schön da. Du wirst in Rendsburg zur Schule gehen und schnell neue Freunde finden. Du wirst sehen, es wird dir gefallen."
Wortlos stand er auf und lief aus dem Haus. Ziellos streifte er durch den Ort, der ihm soviel bedeutete. Wir ziehen hier weg, dachte er, ich möchte aber nicht weg. Ihm liefen die Tränen über sein zartes Gesicht. Er war hier geboren und in den Kindergarten gegangen. Das alles sollte er nun verlassen?
Wie lange er spazieren ging, wusste er nicht. Als es langsam dämmerte, wurde es Zeit nach Hause zugehen. Nach dem Abendessen ging er still auf sein Zimmer. Die nächsten drei Wochen waren schlimm für ihn. Jeden Tag versuchte er seine Eltern davon zu überzeugen nicht von hier fortzugehen. Aber ohne Erfolg.
Eines Morgens, gegen acht Uhr, hielt dann ein L.K.W. vor dem Haus. Als Fritz das hörte, rannte er zum Fenster und sah zwei Männer auf das Haus zukommen. Sie trugen die schweren Schränke, die Couch, Teppiche und die Kartons hinaus und verstauten alles auf der Ladefläche. Zum Schluss schloss Vater zum letzten mal das Haus ab. Als sie dann losfuhren, blickte Fritz traurig und mit Wehmut zurück.
Wie gern würde er hier bleiben.
Nach sechs Stunden Fahrt waren sie am Ziel. Es war ein kleines Dorf, das auf keiner Straßenkarte zu finden war. „Das Kaff muss ja weniger als dreihundert Einwohner haben. Das liegt ja am Ende der Welt!" rief er entsetzt. Fritz war enttäuscht: „Wie soll ich denn hier Freunde finden?" fragte er laut.
Sein Vater hielt vor einem idyllisch gelegenen Fachwerkhaus. Es war mit Reet gedeckt und darum herum standen uralte, hohe Eichen.
„Die müssen ja hundert Jahre alt sein," staunte er. „Die Bäume halten ihre Äste wie ein Regenschirm über das Haus gespannt," rief er freudig überrascht. „Toll!"
Im Nu waren alle zurück gebliebenen Freundschaften vergessen. Verflogen war die Trauer und die Wehmut, die er bei der Abfahrt empfunden hatte.
Nach dem ersten Schultag kam er stolz nach Hause und verkündete: „Du Mutti, in der Schule haben sie mir nicht glauben wollen, dass ich erst acht Jahre alt bin. Alle sagten, ich sei schon Zwölf. Erst als der Lehrer es bestätigte waren sie zufrieden."
„Das ist doch toll," sagte die Mutter und nahm ihn stolz in den Arm: „...und wie war der erste Tag?"
„Oooch, es geht so," antwortete er gleichmütig. „Alles geht hier ein bisschen lockerer zu, als in der anderen Schule. Bis auf die Mathelehrerin. Die ist sehr streng."
„Schön, dass es dir gefällt." Zärtlich strich sie ihrem Sprössling über das Haar und war zufrieden.
Vier Monate war es nun her. Es gefiel ihm doch besser, als er es am Anfang gedacht hatte.
- Nur Freunde zu finden, das war hier gar nicht so einfach.
Vor drei Wochen ging er wieder einmal durchs Dorf und traf fünf Kinder aus seiner Klasse, die auf einer Wiese Fußball spielten.
"Darf ich mit euch spielen," fragte er hoffnungsvoll.
Max, ein kleiner aber kräftiger Junge, kam auf ihm zu. Die anderen vier scharrten sich neugierig um die Beiden.
„Wenn du mit uns spielen willst, musst du erst eine Mutprobe bestehen. Das müssen alle machen."
Seine frechen Augen blitzten ihn an, die Fäuste hatte er herausfordernd in die Hüften gestemmt.
Fritz hielt nichts von solchem Blödsinn. Er spielte lieber Fußball und Verstecken, aber allein geht es schlecht.
Wie es aussieht, komme ich nicht darum herum, überlegte er. Seufzend sagte er: „Na gut. Ich halte zwar nichts von solch einem Quatsch, doch wenn es unbedingt sein muss. Was soll ich also tun?"
Triumphierend blickte Max in die Runde.
„Du kennst doch unsere Lehrerin, Frau Wollin. Die wohnt da drüben." Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf ein Haus, das etwas abseits lag. Es war umgeben von einem grüngestrichenen Lattenzaun mit einer hellblauen Pforte. Hinter dem Haus verlief ein Knick, der mit dichten Büschen bewachsen war.
„Das ist doch die Strenge aus dem Matheunterricht." Fritz ahnte böses auf sich zukommen.
„Genau Die. Also pass` auf: Wenn sie Zuhause ist, hat sie die Haustür nie abgeschlossen. Da musst du rein. Im Wohnzimmer auf dem Schrank, steht immer eine Dose mit Keksen. Die holst du. Wir vernaschen die Kekse zusammen und dann bringst du die Blechdose wieder zurück. Erwischt sie dich," er zuckte mit den Schultern, "hast du verloren. Alles klar?"
„Aber das ist doch Diebstahl," entrüstete sich Fritz. Sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit sagte ihm, dass das was er tun sollte Einbruch war, aber wenn er nicht für immer allein bleiben wollte, blieb ihm keine andere Wahl.
„Du willst doch mit uns spielen, oder nicht. Dann musst du auch das tun, was alle getan haben," beharrte Max auf seine Forderung.
„Wann?" fragte Fritz resignierend.
„Jetzt!"
„Na gut." Mit einem Seufzer drehte er sich um und ging entschlossen davon. Fritz schlich sich hinter das Haus. Durch die Büsche sah er, wie die Lehrerin an ihrem Schreibtisch saß und Aufgaben korrigierte. Von seinem Antrittsbesuch mit seinen Eltern wusste er, dass das Wohnzimmer im vorderen Teil des Hauses lag, direkt neben der Eingangstür.
Sein Herz raste als er mit zitternden Händen die Haustür öffnete. Vorsichtig und mit weit aufgerissenen Augen, lugte er durch den Spalt.
„Ich muss es schaffen," sprach er sich Mut zu. „Nur leise, denn beim geringsten Geräusch hat sie dich." Auf Zehenspitzen schlich er sich hinein. Mit beiden Händen ergriff er die Dose und huschte auf leisen Sohlen hinaus. Mit hochrotem Kopf und weichen Knien, kam er bei Max und den anderen an. Sie freuten sich diebisch, als sie die köstlichen Kekse vernaschten.
„Kekse backen kann sie gut," stellte Max mit Kennermine fest. Nachdem die Dose bis zum letzten Krümel geleert war, brachte er sie ebenso schnell und leise wieder zurück, wie er sie geholt hatte. Als er zurück kam, sah Max ihn mit großen Augen an.
„Sie hat dich nicht erwischt. Wie hast du das denn gemacht? Das hat bisher noch keiner geschafft."
Scheinbar gleichgültig antwortete er: „Na ja. Einer muss ja der Erste sein. Richtig?"
In Wirklichkeit hätte er vor Scham im Boden versinken können. „Aber noch einmal mache ich es nicht!"
Am nächsten Tag im Matheunterricht traute er sich nicht Frau Wollin in die Augen zu sehen, aus Angst, er könne sich verraten, denn inzwischen musste sie ja gemerkt haben, dass ihre Kekse verschwunden waren.
Das waren nun drei Wochen her, jedoch das schlechte Gewissen und das Wissen, etwas Unrechtes getan zu haben, plagten ihn von Tag zu Tag mehr. Auf dem Heimweg tobte er nicht mehr wie die anderen ausgelassen herum. Ängstlich und immer auf der Hut vor Frau Wollin schlich er nach Hause. Er fürchtete sie könne sie im nächsten Moment hinter der einer Ecke hervor springen und ihn laut anklagen, so dass es die ganze Schule hörte: „Du hast mir die Kekse gestohlen. Du bist ein Dieb. Das gibt eine Eintragung ins Klassenbuch!"
Es war ein lauer Abend. Der Wind strich leise durch die Bäume und die Sonne ging blutrot am Horizont unter.
Fritz war alleine Zuhause. Er saß in seinem Zimmer und spielte mit seinem Nintendo. Plötzlich sprang er auf sodass das Spielgerät polternd zu Boden fiel. Mit vor panischer Angst aufgerissenen Augen starrte er auf die Wand, die dem Fenster gegenüber lag. Jetzt hat sie dich. schoss es ihm durch den Kopf. Vati und Mutti konnten ihm nicht helfen, die waren ja nicht da. Er war also allein mit der schwarzen Frau, die da an der Wand stand. Sie sah aus, wie die Frau Wollin, umgeben von lebenden, schwarzen Schatten.
„Ich tue es nicht wieder," hauchte er. „Ich tue es ganz bestimmt nicht wieder!" Doch die Gestalt antwortete nicht. Sie stand einfach nur da. Warum sagte sie nichts? Er wurde fast wahnsinnig vor Angst. „Max wollte doch, dass ich die Dose hole. -Als Mutprobe-. Ich habe es doch nur getan, damit die anderen Jungs auch mit mir spielen. Frau Wollin, gleich Morgen komme ich zu ihnen und erzähle ihnen die ganze Geschichte. Bitte tun sie mir nichts." Immer noch stand sie, bewegungslos, mit drohend erhobenem Arm da.
Der Wind war stärker geworden. Eine Windböe blähte die Gardine und blies die Puppe um, die auf dem Fensterbrett stand. Polternd fiel sie auf den Fußboden.
Wie ein Baby, das nach den ersten Schritten auf den Hosenboden fällt, plumpste er auf den Hintern. Der Schmerz löste seinen Schrecken. Als er sich verwundert die schmerzende Stelle rieb, bemerkte er erst, dass er sich vor Angst in die Hosen gemacht hatte. Ungläubig starrte er auf die Wand, wo noch eben die schwarze Frau gestanden hatte. Sie war weg.
„Puhhh." Verwirrt wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Morgen gehe ich zu Frau Wollin und erzähle ihr alles. Ich habe es versprochen."
Erschöpft legte er ich ins Bett und schlief fast auf der Stelle ein.