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Schiffe versenken

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02.01.2002
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Schiffe versenken

Maria kam an einem kalten Frühlingstag zu uns. ‬Als der alte Schubert sie vorstellte, ‬hörte ich ein paar meiner Kumpels flüstern und kichern. ‬Sie war keine Klassenschönheit mit ihrem hellblauen Kleidchen, ‬das ihr ein wenig zu kurz geworden war, ‬mit den mageren Beinen und den dünnen, ‬aschblonden Zöpfchen. ‬Sie hielt einen leicht abgewetzten Rucksack umklammert, ‬der vielleicht vor zehn Jahren einmal in Mode gewesen war. Ihr‬ Kopf blieb solange gesenkt, ‬bis Herr Schubert sie zu dem leeren Platz neben mir führte. ‬Maria blickte auf und sah mir direkt in die Augen. ‬Ich schenkte ihr spontan ein aufmunterndes Lächeln und nach ein, ‬zwei Sekunden lächelte sie zurück. ‬In ihren Wangen bildeten sich zwei Grübchen.

Sie sprach wenig, ‬sowohl im Unterricht als auch in den Pausen. ‬Wir Jungs fühlten uns damals viel zu lässig, ‬um auf die Mädchen zuzugehen, ‬außer, ‬um hin und wieder eine flapsige Bemerkung zu machen. ‬Die Mädchen dagegen hatten gerade ihre Schmink- ‬und Modephase erreicht. ‬Lippenstifte wurden verglichen und Poster von Popstars angehimmelt. ‬Immer standen vier oder fünf von ihnen kichernd zusammen. ‬Ab und zu wechselten sie ein paar Worte mit Maria, ‬aber ein echtes Gespräch konnte ich anfangs nicht beobachten. ‬Als Banknachbar hatte ich automatisch den meisten Kontakt mir ihr. ‬Nach und nach erfuhr ich von ihren zwei älteren Schwestern und ‬dass ihre Mutter in unserer Gegend eine neue Arbeit bekommen hatte. ‬Etwas später vertraute sie mir an, ‬dass ihr Vater die Familie vor vier Jahren verlassen hatte. ‬Marias Stimme war betont gleichgültig, als sie von ihm sprach, ‬doch das leichte Zittern darin entging mir nicht. ‬Ich fragte nicht mehr nach ihm und ich glaube, das war ganz in ihrem Sinn.

Maria gehörte zu den stillen Wassern, ‬die im Unterricht nicht viel sagen, ‬ihre Aufgaben aber dafür umso sorgfältiger erledigen. ‬Ich sah nie einen Tintenfleck in ihren Heften oder ein Eselsohr in einem Buch, ‬wie bei mir. ‬Gleich bei unserer ersten Zusammenarbeit im Unterricht schlug ich mein Heft an der Stelle auf, ‬wo ich am Vorabend meine Limo verkleckert hatte. ‬Maria begann mit der Aufgabe, ‬als habe sie nichts gesehen. ‬Ich sagte auch nichts. ‬Aber ich achtete von da an ein bisschen besser auf meine Sachen.

Ein paar Wochen darauf schob mir Maria mitten in der Stunde einen Zettel herüber. ‬Es war ein Rechenblatt aus ihrem Matheheft mit eingetragenen Tabellen und Kästchen. ‬Das alte Spiel »‬Schiffe versenken«‬. »‬Magst du?«‬, ‬stand mit rotem Kuli darübergeschrieben. ‬Sie lächelte mir zu.

»Schiffe versenken‎« ‏wurde während langweiliger Unterrichtstunden unser Hauptzeitvertreib. ‬Wir saßen weit genug hinten, ‬dass es kein Lehrer bemerkte. ‬Wahrscheinlich traute sowieso keiner von ihnen Maria zu, ‬unaufmerksam zu sein. ‬Gewiss ahnte niemand etwas von den kleinen Scherzen, ‬die wir auf den Zettel austauschten. ‬Wir sammelten witzige Zitate der Lehrer und Mitschüler und nach ein paar Wochen genügte eine bloße Anspielung, ‬die sonst niemand verstanden hätte, ‬damit wir loskicherten. ‬Maria hatte immer eine Tüte Bonbons dabei, ‬die wir meist gemeinsam vernaschten, ‬dafür teilte ich mit ihr meine Schokoriegel ‬- ‬genauso, ‬wie wir Stifte, ‬Radiergummi und Blockseiten austauschten. ‬Kein Getue wie bei den anderen Mädchen. ‬Eines Tages bemerkte ich, ‬dass Maria recht gut zeichnen konnte. ‬In Minutenschnelle kritzelte sie treffende Karikaturen aufs Papier. ‬Als ich sie beeindruckt lobte, ‬winkte sie grinsend ab. ‬Aber sie war etwas rot geworden. ‬Irgendwie niedlich.

Außerhalb des Unterrichts hatten wir um Grunde nichts miteinander zu tun. ‬Nach Schulschluss verabschiedeten wir uns, ‬ehe mich meine Kumpels in Beschlag nahmen. ‬Unsere Schulwege lagen außerdem in verschiedenen Richtungen, ‬ich ging zu Fuß, ‬sie nahm den Bus. ‬Manchmal wäre ich schon gerne noch etwas mir ihr stehengeblieben. ‬Noch etwas mehr über sie erfahren, ‬ein wenig reden, ‬besser kennenlernen. ‬Aber sobald sie sah, ‬dass Daniel oder Thomas oder einer von den anderen Jungs mich ansprachen, ‬setzte sie rasch den Rucksack auf und verließ das Klassenzimmer. ‬Sicher wäre es ihr unangenehm gewesen, ‬sie vor meinen Freunden zurückzurufen. ‬Mir auch ein bisschen.

Beim Sportunterricht wählte ich sie immer in meine Mannschaft. ‬Sie war flink, ‬wenn auch nicht gerade stark, ‬und meinen Kumpels fiel das ebenfalls auf. »‬Scheint ja eigentlich ne ganze Nette zu sein«‬, ‬meinte Daniel mal zu mir. ‬Ich nickte und murmelte etwas. ‬Aus irgendeinem Grund wollte ich jetzt nicht von den Bonbons, ‬den Stiften oder den Karikaturen erzählen. ‬Oder vom Schiffe versenken. ‬Er hätte es nicht verstanden. ‬Oder, ‬noch schlimmer, ‬alles falsch interpretiert und den anderen weitergesagt. ‬Sie kannten nur die anderen Mädels ‬... ‬und die waren nicht so wie Maria. ‬Nach und nach unterhielt sie sich zwischendurch auch mal mit denen länger. ‬Meist freute ich mich darüber, ‬aber ein paarmal dachte ich, ‬dass es schöner war, ‬als sie nur mit mir gesprochen hatte. ‬Was für ein blöder Gedanke. ‬

Beim Basketballspielen stießen wir einmal so unglücklich zusammen, ‬dass wir beide auf den Boden fielen. ‬Marias Gesicht war dicht vor meinem. ‬Ihre Wangen hatten sich gerötet, ‬ihre Haare hatten sich aus dem Zopf gelöst und zum ersten Mal fiel mir auf, ‬dass ihre Augen tiefblau waren. ‬Und dass Maria nach Zitronen duftete. ‬Sekunden später sprang sie auf und lachte. ‬Meine Kumpels machten ein paar alberne Bemerkungen und das Spiel ging weiter. ‬Bis zum Ende der Stunde schaute ich immer wieder zu Maria hinüber. ‬Tiefblaue Augen. ‬Zitronenduft. ‬Einmal zwinkerte sie mir zu. ‬Ich war froh, ‬als es endlich klingelte. ‬An diesem Abend dachte ich zum ersten Mal vor dem Einschlafen an sie. ‬Im Unterricht warf ich ihr, ‬wie ich hoffte, ‬verstohlene Blicke zu. ‬Sah sie sorgfältig Zahlen aufs Papier malten. ‬Das Fruchtbonbon auspacken und in den Mund stecken. ‬Warum hatte ich den intensiven Zitronenduft nicht früher wahrgenommen? ‬Oder den goldenen Schimmer in ihren Haaren. ‬Oder die blauen Augen. ‬Einmal griffen wir nach dem selben Stift und für ein, ‬zwei Sekunden berührten sich unsere Fingerspitzen. ‬Nichts Besonderes, ‬natürlich. ‬Aber ich musste öfter daran denken. ‬Manchmal hatte ich das Gefühl, ‬dass auch Maria mir einen Seitenblick zuwarf. ‬Häufiger als früher. ‬Vielleicht Zufall. ‬Vielleicht auch nicht.

An einem heißen Freitag im Juli kritzelte ich neben den Schiffskoordinaten noch einen Satz auf den Zettel. »‬Hast du am Montag nach der Schule mal Zeit für ein Treffen? ‬Eis essen, ‬oder so?«‬, ‬stand auf dem Papier, ‬das ich ihr mit zittriger Hand reichte. ‬Sekunden wurden zu Stunden, ‬während ich auf ihre Reaktion wartete. ‬Ich hatte Herzklopfen wie vor einer mündlichen Prüfung. ‬Endlich schob Maria den Zettel zurück. »‬Gerne.« Und dahinter ein Smiley.

Der Montag war der nervöseste Tag meines Lebens. ‬Je näher ich der Schule kam, ‬desto langsamer ging ich. ‬Eine Mathearbeit stand in der ersten Stunde an, ‬aber meine Gedanken kreisten nur um Maria. ‬Vielleicht hatte sie es sich anders überlegt. ‬Vielleicht war ihr etwas dazwischengekommen. ‬Vielleicht war sie gar nicht da. ‬Und ich behielt Recht. ‬Sie war nicht da. ‬Sie war nicht da, ‬als ich in die Klasse trat, ‬sie war nicht da, ‬als Frau Siefert die Aufgabenblätter verteilte und sie war nicht da, ‬als ich gegen Ende mein fast leeres Heft abgab. ‬Die nächste Stunde begann. ‬Kein »‬Schiffe versenken« ‬diesmal.

In der vierten Stunde klopfte es an der Tür. ‬Maria!‬, ‬schoss es mir durch den Kopf, ‬bis ein Oberstufenschüler eintrat und Herrn Schubert zum Direktor rief. ‬Etwas verwirrt gab er uns Übungsaufgaben und ging hinaus. ‬Nach etwa zwanzig Minuten kam er zurück. ‬Er war blass und seine Stimme schwankte bei dem, ‬was er uns zu sagen hatte. ‬Zuerst begriff ich nichts und als ich es schließlich verstand, ‬war ich sicher, ‬dass es nicht wahr sein konnten. ‬Das Klassenzimmer drehte sich um mich und mein Kopf dröhnte, ‬während der Lehrer weiterhin über Dinge wie Autos, ‬Straßen, ‬Ampeln und Ärzte sprach, ‬die keinen Sinn ergaben und dabei immer wieder Marias Namen sagte, bis ich zusammenbrach.

 

Danke für deine Meinung! Die Geschichte ist schon ein paar Jahre alt und ich hab sie stilistisch und ein bisschen inhaltlich überarbeitet, aber mit dem Ende weiß ich immer noch nicht, was ich machen soll ... damals erschien es mir selbstverständlich so, heute erscheint es mir auch zu "groß", zu aufgedrückt, hab aber noch keine neue Alternative gefunden. Traurig soll es schon bleiben ;-), aber so krass muss es nicht sein, hm ...

 

Hallo Ginny-Rose,


vorweg erst mal den Textkram:

Maria gehörte zu den stillen Wassern, ‬die im Unterricht nicht viel sagen, ‬ihre Aufgaben aber dafür umso sorgfältiger erledigen. ‬

Fände das Präteritum auch für den Relativsatz angemessen.

wo ich am Vorabend meine Limo verkleckert hatte.

besser "verschüttet". "verkleckert" ist das Heft, nicht die Limo.

die wir auf den Zettel austauschten.

Zetteln

dass Daniel oder Thomas oder einer von den anderen Jungs mich ansprachen

3. Person SIngular oder Plural? Bin mir selber unschlüssig.

Sie kannten nur die anderen Mädels ‬... ‬und die waren nicht so wie Maria.

Die Auslassungspunkte sind hier eigentlich unnötig

Nach und nach unterhielt sie sich zwischendurch auch mal mit denen länger. ‬

Die Kombination von "nach und nach" "zwischendurch" und "auch mal" ist etwas viel der Unbestimmtheit und klingt irgendwie holprig.

Gefallen hat mir an der Geschichte die unspektakulär ruhige Art, in der sich die Dinge entwickeln. Kein Show-Effekt, keine Übertreibungen, eine Charakterstudie, nein zwei Charakterstudien in einem, denn en passant wird ja der Ich-Erzähler mitcharakterisiert, zumindest was seine Schüchternheit betrifft.

Auf der anderen Seite könnte man das auch als Kritkpunkt vorbringen, dass eben nicht mehr passiert, dass man von Maria eigentlich nicht so richtig viel erfahren hat nach eineinhalb Seiten außer: blond, Zöpfe, tiefblaue Augen und Zitronengeruch. Und die zerrütteten Familienverhältnisse, die aber nur angerissen werden aber keine Rolle zu spielen scheinen.

Als sich die Dinge angefangen haben, zu entwickeln, bricht die Geschichte ab. Mit deinem Schluss, den du ja auch selbst schon als wunden Punkt identifiziert hast, schießt du irgendwie das Täubchen ab, das gerade flügge geworden ist.

Für meinen Geschmack könnte es weiter gehen, sich eine zarte Romanze entspinnen, die nicht am blindwütigen Schicksal, sondern an den beiden Protagonisten und ihrer Vorgeschichte scheitert. Sprachlich hast du eindeutig die Fähigkeiten, den Faden in dieser Art weiterzuführen, ohne dass Langeweile aufkommen würde.

In diesem Sinne und der Hoffnung, dass das irgendwie hilfreich war,

lieben Gruß,

AE

 

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