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Schläfer Heinrich
Er erwachte aus einem unruhigen Mittagsschlaf, der sich als weniger ertragsreich herausstellte, als Heinrich gehofft hatte. Der Traum von letzter Nacht, den er versuchte weiter zu träumen, löste sich nach drei Traumminuten in einer diffusen Wolke auf und er stand wieder vor dem Tor, das er nicht öffnen konnte, wie sehr er es auch versuchte.
Heinrichs Laune war getrübt und selbst die Sonnenstrahlen, die sich durch die unregelmäßigen Schlitze seiner hölzernen Fensterläden drückten, vermochten es nicht, etwas an seiner Trübseligkeit zu ändern. Von irgendwoher draußen, vermutlich war es die Schnellstraße, die sich wie ein Fjord durch die gigantische Wolkenkratzerlandschaft fraß, hörte er eine Sirene, ein Knallen und dann einen Tumult. Es mussten viele Tumultige sein, denn er konnte nur Wortfetzen und halbgare Drohgesten aus dem zusammenhangslosen Stimmenpuzzle herausziehen.
Heinrich zog sich an, blickte auf seine Armbanduhr, die er auch zum Schlafen nicht ablegte und stellte fest, dass er 53 Minuten geschlafen hatte. Abzüglich der Zeit, die er benötigt hatte, einzuschlafen, waren nur noch 32 Minuten geblieben, um die Tiefschlafphase zu erreichen, doch es war nicht genug gewesen. Nur ganz kurz, einen klitzekleinen Moment, war es ihm möglich gewesen, den Kontrolle heischenden Fängen seines Bewusstseins zu entfliehen und sich in die Anderswelt zu begeben.
Heinrich war Bibliothekar in der Stadtbücherei dieses Molochs, der seit ungefähr zehn Jahren Morphopolis hieß. Die Stadt, aus der Träume gemacht sind, so der sperrige Slogan, welcher Heinrich unausweichlich entgegenbrüllte, wohin er auch ging. Zehn Millionen Seelen arbeiteten munter, Tag für Tag, um dem Slogan gerecht zu werden.
Die Straßenbahn schlich seinen vorgezeichneten Weg und Heinrich beobachtete das Treiben, das sich wie in Zeitraffer am Fenster vorbeidrängte. Bunte, ständig wechselnde Farben kreierten die Illusion einer fließenden, sich ständig verändernden Umgebung. Heinrich betrachtete seine Hände und Lichtteilchen tanzten dort. Seine Augen mussten sich an das warme, leicht flackernde Licht der Straßenbahn erst wieder gewöhnen, also blinzelte er drei, vier, fünfmal, bis die dunklen Flecken aus seinem Sichtfeld verschwanden und er wieder klarsehen konnte. Alles ging so schnell dort draußen und schon sehnte er sich nach seinem Schreibtisch und nach den Bergen an Schriften, die er digitalisieren sollte. Man stellte um. Man stellte um, um schnelleren Zugriff zu gewähren. Man stellte um, weil das heute jeder so machte. Man stellte um, um überleben zu können. Man stellte um, weil man nicht mehr warten wollte.
Heinrich verließ die Straßenbahn am Königsplatz und schlurfte, Heinrich war wieder sehr müde, der ehemals imposanten Holzpforte entgegen. Ein genervter Traumverfolger drängte sich an ihm vorbei, nicht ohne Heinrich anzurempeln, den Kopf zu schütteln und einen Blick auf seinen digitalen Lebensoptimierer zu werfen. Heinrich blickte traurig zu Boden und sein Kopf begann wieder zu brummen. Nein, eigentlich war es kein Brummen, es war mehr eine unüberwindbare Schwere, die sich auf seinen Schädel legte. Es war wie Kopfbeton.
Die Pforte schwang auf. Ein altertümlicher Geruch drang sich ihm auf und der Beton löste sich. Er blickte auf die Anzeigetafel, auf der alles Mitteilungswerte erschien, Tag ein, Tag aus. An deren Kopf war „Neues aus Morphopolis“ zu lesen. Die Geburtenrate war in der letzten Woche in die Höhe geschnellt, Bürgermeister Luci mahnte erneut, dass das Traumerfüllungspotenzial, das im vorherigen Quartal noch einen explosiven Weg nach oben verzeichnet hatte, stagnierte und forderte in einer öffentlichen Bekundung die Bewohner dazu auf, doch gefälligst an ihre Träume zu glauben. Die Zahl der Toten, die die Bürgersteige pflasterten, war wieder gestiegen. Ein jeder rätselte, woran sie gestorben waren, selbst die Ärzte konnten sich nicht erklären, warum seit schon drei Jahren, plötzlich Passanten zusammenbrachen und dort mit starrem Blick liegen blieben. Ihre Miene versteinert, mit einem milden Lächeln und ihren Augen neben ihnen, die im Moment des Aufpralls aus ihren Höhlen geploppt waren. Das Wirtschaftswachstum war auf einem Rekordhoch und man hatte Lagos vom ersten Platz verdrängt. Rosige Zeiten.
Außer Heinrich war nur noch Maria übriggeblieben, eine steinalte Frau, mit tiefen Falten. Alle anderen Mitarbeiter waren aufgrund von Budgetkürzungen durch Maschinen ersetzt worden, die monoton summend, durch die Regalreihen flitzten. Die Stadtbücherei war die letzte ihrer Art und einer denkmalschützenden Verordnung sei es gedankt, dass sie nicht, wie jede andere in diesem Land, dem Erdboden gleich gemacht wurde.
Als es zu dämmern begann, schlug die Uhr 15:00 Uhr. Der Tag hatte nach wie vor 24 Stunden, doch es gab zwei Nächte pro Tag. Sonnenschein, also natürlichen Sonnenschein, gab es schon lange nicht mehr. Eine riesige Kuppel umfasste Morphopolis, um ihre Bewohner vor Bedrohungen von außen zu schützen. Bedrohungen, beispielsweise Krankheiten gab es nicht mehr, die hatte man ausgerottet. Die Lebenserwartung war auf 130 Jahre gestiegen, 160 wenn man Geld hatte.
Heinrich packte seine Ledertasche unter seinen Arm, verließ seinen Schreibtisch und nickte Maria zu, die mit offenem Mund und krachendem Schnarchstakkato mit ihrem Tweetsessel verschmolzen war. Er war zehn Schritte gegangen, als ihm einfiel, dass er noch etwas vergessen hatte. Er machte kehrt, verstaute George’s Visionen in seiner Tasche und starrte in das allessehende Auge, das wie Gott über den Regalreihen thronte. Nach einer Weile senkte er seinen Kopf und eine Träne zitterte auf der bebenden Wange.
Morphopolis war wie ausgestorben. Niemand war auf den Straßen, bis auf ein paar verlorene Seelen, die sich aus Gassen, Abflussgittern und Hintertüren hinaus auf die Straßen drängten. Heinrich war wie Luft für sie, suchten sie doch ambitionierte Träumer. Träumer, die ihre Träume nach dem Einläuten der zweiten Tageshälfte realisierten. Diese Träumer waren am einfachsten zu berauben, denn sie waren diejenigen, die die größte Angst hatten. Die ganze Stadt stank nach Angst. Manch andere finstere Gestalten brachen Türen und Schlafzellen auf, weckten die Insassen und erinnerten sie daran, dass der beste Preis, den man für seine Traumpillen haben konnte, nur bei ihnen zu finden war.
Diese Pillen waren farblich geordnet, Träume sollten bestimmt und gelenkt werden können, nur so war es einem jeden möglich, diese zu verfolgen. Die Menschen fraßen die Pillen, weil sie es wollten, aber auch weil sie es mussten. Das Traumministerium, wie es geblümt genannt wurde, wollte es so. Eigentlich hieß es Ministerium für Entwicklung, Wachstum und Glücksseligkeit, aber das Stadtmarketing befand, dass der Name zu lang war und außerdem die Möglichkeit bestand, man könne es missverstehen. Per Drohne wurden die Pillen ausgeliefert, die in der Traumfabrik, die das wabernde Zentrum von Morphopolis bildete, hergestellt wurden. Dies geschah unter Ausschluss der Öffentlichkeit und jeder, der es wagte, sich Zugang zu verschaffen, verschwand. Das Auge sah alles und der Widerstand in den Menschen wurde durch Ambition ersetzt, Schritt für Schritt.
Heinrich querte den Fluss, der sein Viertel umgab und blickte hinab auf die pechschwarze, stille Wasseroberfläche. Ein inneres Verlangen sich hinabzustürzen, konnte er gerade noch niederringen, war er doch schon auf Zehenspitzen und mit gebeugtem Oberkörper über das Geländer gelehnt. Das Versprechen, das sich in ihm aufdrängte, endlich erfüllt zu werden, musste noch warten, nur ein kleines bisschen noch. Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf Heinrichs Gesicht und er bog in Winstons Winkel, so hatte er die Gasse getauft, in der er wohnte, ein.
Auch in Heinrichs Haus war es dunkel, nur elektronisches Kerzenflackern aus der Küche hauchte ihm einen Lichtschimmer entgegen.
Eine weitere Ermahnung dröhnte durch den Lautsprecher in seinem Wohnzimmer, Heinrichs Pillen waren seit drei Wochen ausgegangen und er war vermutlich ganz oben auf der roten Liste des Traumministeriums. Die Mikrowelle piepte und Heinrich entnahm ihr das Essen, das wie aus dem Nichts erschienen war und aß. Das Essen bestand aus allem, was einen am Leben hielt und höchste Funktionalität gewährleistete. Es nahm sämtliche Formen an, der neuste Trend war die Tube. Keine Zubereitungszeit, nur Mund auf, Knopf drücken und schlucken. Kauen musste man nicht mehr, denn die Nahrung reagierte auf Feuchtigkeits- und Temperaturumschwünge sofort und verflüssigte sich, sobald es in den Schlund gedrückt wurde. So blieb genug Zeit, um seine Träume in die Tat umzusetzen.
Nach dem Essen ging Heinrich in sein Schlafzimmer und öffnete den Verschlag hinter seinem Kleiderschrank. Dort lag eine Packung Zigaretten. Er nahm die Zigarettenschachtel und wog sie in der Hand, während er das Feuerzeug klicken ließ, das er vor langer Zeit bei einem Besuch in der Außenwelt gekauft hatte. Mit Mühe und Not war es ihm gelungen, es durch die Grenzkontrolle zu schmuggeln und er wusste bis heute nicht, wie er es geschafft hatte. Er öffnete die Zigarettenschachtel, nahm die letzte Zigarette heraus und steckte sie sich in den Mund. Die leere Schachtel flog im hohen Boden in den Mülleimer und verschwand mit einem leichten Zischen. Für einen kurzen Moment verharrte Heinrich und starrte auf seinen Nachttisch, auf dem eine seltsame Apparatur lag, die so wie sie war, einzigartig in Morphopolis, wenn nicht sogar einzigartig auf der Restwelt war. Sie war Heinrichs ganzer Stolz, sie war der einzige Sinn, den er sah. Er blickte auf die Uhr. Lange Zeit hatte er nicht mehr, bevor die Zeit endete.
Ein kleines Flämmchen züngelte aus dem Feuerzeug, kurz davor in sich einzugehen. Der Tabak knisterte und Heinrich atmete tief ein und schloss seine Augen. Sein Kopf wog sich zu einer Melodie, die in ihm anschwoll. Bald schon war es sein ganzer Körper, der in wellenartigen Bewegungen hin und her schwankte. Er öffnete seine Augen, atmete ein und atmete wieder aus, beruhigte seinen, von freudiger Erwartung gesteigerten Puls und legte sich ins Bett. Er blickte gen Decke und verfolgte die grau-blauen Ringe, die durch die Luft schwebten. Seine Lippen wurden heiß und er löschte die Zigarette im Aschenbecher, der auf dem Nachttisch ruhte. Heinrich war nun völlig still, in sich gekehrt und bereitete sich vor, auf das, was jetzt kommen würde. Das letzte Kapitel, seine große Befreiung.
Die Idee für die Apparatur war schon immer da gewesen. Schon bevor Morphopolis Morphopolis war und er ein kleiner Junge. Heinrich konnte sich nur an diese Idee erinnern, nein, nicht an die Idee und deren Aufbau, sondern nur daran, dass einmal eine Idee existiert hatte. Erinnerungen waren längst kein Bestandteil mehr dessen, was für wertvoll erachtet wurde im Moloch. Erinnerungen implizierten einen Blick zurück, ein sich von der Gegenwart abwenden, einen Verlust des Wachstums. Erinnerungen standen Zeuge für Verfehlungen der Vergangenheit und für genau jene, die Vergangenheit. Die Vergangenheit ließ sich nicht formen, die Gegenwart hingegen schon.
Die Apparatur war zweiteilig. Sie bestand aus einem kleinen Empfangsrechner und einer Münze, die mit einem Druckknopf versehen war. Klein genug, um sie ohne viel Aufhebens zwischen Zeigefinger und Daumen zu halten. Klein genug, um sie zu verstecken. Die Apparatur war eine Kombination aus vergangener und gegenwärtiger Technik. Heinrich hatte eine Sprache entwickelt, mit der man Gedankenströme in Echtzeit formulieren konnte, so gesehen eine Mischung aus Steno und dem Morsealphabet. Von Morse hatte er sich die Impulsübertragung geliehen, von Steno den Fluss und die Abkürzungen. Das Formulierte wurde im Moment der Eingabe auf den Rechner übertragen, der es unwiderruflich speicherte und in ein gesichertes Netz übertrug. Dort verweilte es und stellte im Sekundentakt Kopien her, die an willkürlich ausgewählte Empfänger von Morphopolis verschickt wurden und sich wie ein Virus auf deren Speichermedien festsetzten.
Heinrich ergriff die Münze und schloss die Augen. Schon gleich merkte er wie sein Körper schwerer wurde.
Das Tor öffnete sich wieder, Heinrich eilte hinein, selbst im Traum wusste er, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
Heinrichs Daumen zuckte hastig. Tränen flossen aus seinen Augen und benetzten das seidene Kopfkissen. Er begann zu schwitzen, sein Körper zitterte, es war schon bald geschafft.
Das Tor begann sich zu schließen, Heinrich rannte so schnell er konnte, das Tor schien sich immer weiter zu entfernen. Plötzlich verformten sich seine Beine, ein weiteres Paar wuchs aus seinem Korpus, ein haariges, von starken Sehnen durchzogenes. Heinrich hastete dem Licht entgegen, hinter sich eiskalte Dunkelheit, ein Ziehen, tosender Wind strömte ihm entgegen. Sein Körper zog sich in die Länge, ein Paar Flügel schoss aus seinem Rücken. Die Luft vibrierte und ein Mark und Bein erschütterndes Brüllen erklang und Heinrich nahm seine letzten Kräfte zusammen, sprang dem Unerreichbaren entgegen und glitt im letzten Moment durch die Pforten.
Heinrich öffnete die Augen, sein Gesicht, sein Körper, alles triefte. Er schnellte nach oben und lachte und weinte so befreit, wie er es noch nie getan hatte. Im Gang vor seiner Haustür hörte er wütendes Fußgetrampel, sie waren gekommen.
Die Tür barst.
Sie strömten in seine Wohnung. Sie trugen Helme und Gewehre und ihre Gesichter waren vermummt.
Heinrich hatte das Fenster geöffnet und stand nun auf dem Fenstersims, als die Schlafzimmertür gegen das Bettgestell krachte. Die Zeit stand still. Ein Soldat löste sich aus der Menge. Heinrich lächelte müde und schritt aus dem Fenster.