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Schlaganfall
Eine Krankenschwester schob Paul Härtling im Rollstuhl in sein Zimmer zurück. Nichts deutete darauf hin, was hier vorgefallen war. Die Untersuchungsbehörde hatte das Patientenzimmer wieder freigegeben, das Bett war ausgetauscht und alles steril gereinigt.
Seit Härtling nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert worden war, verhielt er sich apathisch. Auch nach Abklingen der halbseitigen Lähmung hatte er geringe Bereitschaft gezeigt, aktiv an den therapeutischen Massnahmen mitzuwirken. Die Nahrungsaufnahme lehnte er für kurze Zeit ab, bis ihm künstliche Ernährung drohte. Da seine anhaltend depressive Verstimmung den behandelnden Arzt beunruhigte, hatte er Härtling bis auf Weiteres in die Psychiatrische Abteilung verlegt.
Für Härtling war die Erkenntnis seines Zustandes ein Schock. Die Lähmung war eine temporäre Erscheinung. Doch sein Denken blieb eingeschränkt, den Sinn von Worten verstand er nur verzögert. Seine Angst, künftig ein solches Dasein zu fristen, hatte ihn im Griff. Anfänglich kam er sich in seiner Hilflosigkeit wie ein Kleinkind vor, nur dieses konnte sich wenigstens durch Schreien artikulieren. Er war sprachlos!
Ohne dass angeklopft wurde, öffnete sich die Tür. Doktor Krassinsky, der leitende Psychiater, trat ein, gefolgt von einem Mann und einer Frau. Sie hatte er gestern aus Entfernung kurz gesehen, wie er sich erinnerte.
«Guten Tag, Herr Härtling. Mein Name ist Lisa Sporn von der Kriminalpolizei. Dies ist mein Kollege Meyer», sie deutete auf den ihm unbekannten Mann. «Wir möchten uns hier im Raum nochmals umsehen.»
«Er versteht Sie nicht, sein Hirn wurde durch den Schlaganfall nicht unwesentlich verletzt», sprach Krassinsky. «Durch sein apathisches Verhalten dürfen Sie sich aber nicht täuschen lassen, er ist mobiler als es scheint. In der Physio- und der Ergotherapie hat er gute Fortschritte gemacht. Dennoch sitzt er meist nur im Fauteuil.»
«Denken Sie, seine Sprachfähigkeit stellt sich auch wieder ein?» Meyer hatte dies gefragt, während er Härtling beobachtete. Doch dieser zeigte keinerlei Regung, sass still in seinem Fauteuil und blickte starr vor sich hin.
«Dies können wir heute noch nicht abschliessend beurteilen, aber ich bin da skeptisch. Er wird für seine Tat aber so oder so büssen müssen, da er durch das Absterben von Hirnzellen in einem Zustand von geistiger Einschränkung gefangen ist.»
«Sie sind also der festen Meinung, wie Sie uns bereits gestern sagten, Härtling habe die Tat begangen?»
«Ja sicher, wer sonst! Andere Patienten konnten dieses Zimmer nicht betreten und von unserem männlichen Personal halte ich niemanden zu so etwas fähig. Schon gar nicht in Gegenwart eines Patienten.»
«Hat er denn, seit er hier ist, Auffälligkeiten gezeigt?», fragte Sporn.
«Ausser dem apathischen Verhalten nicht. Aber wir konzentrierten uns darauf, seine depressive Verstimmung aufzuhellen. Charakterliche Abnormitäten sind in einem solchen Stadium schwer zu bestimmen und können kaschiert sein.»
«Ist es möglich, dass die Hirnschädigung seine Persönlichkeit veränderte?»
«In begrenzter Form schon, aber nicht derart. Eher wahrscheinlich ist, dass er seit jeher ein pervertierter Triebtäter war.»
«Mit der Justiz war er nie in Konflikt geraten und auch sein Arbeitgeber und seine Nachbarn stellen ihm nur die besten Zeugnisse aus», bemerkte nun Meyer.
Krassinsky lachte grimmig. «Solche Leute sind oft hervorragende Schauspieler. Er hat nach aussen wohl den soliden Bürger gespielt und es verstanden sich nie erwischen zu lassen. Schauen Sie mal in seiner Wohnung nach, es gibt da sicher Hinweise auf seine Neigungen.»
«Ist bereits geschehen», mischte sich nun Meyer ein. «Absolut nichts Auffälliges, abgesehen von einem alten Heft des Playboys. Das erachten wir aber als nichtssagend.»
«Äusserst raffiniert! Das passt bestens ins Bild eines überdurchschnittlich intelligenten, aber pathologischen Täters. Er hat vermutlich einen andern Ort, an dem er Utensilien, Fotos oder anderes Material versteckt hält.» Krassinkys Stimme hatte sich einen Moment leicht überschlagen. «Ich will ja nicht in Ihre Arbeit hineinreden, aber glauben sie mir, in die Geschichte der Psychopathologie fügt sich Härtlings Tat bestens ein.»
«Es ist schon ungewöhnlich, dass ein Gewalttäter sein Opfer, nachdem er es getötet hat, sorgsam hinbettet», äusserte Sporn und nahm ein Foto zur Hand, auf dem die Tote abgebildet war. Schwester Yvonne lag auf Härtlings Bett, mit dem Kopf sorgsam auf das Kissen gebettet, mit dem sie zuvor erstickt worden war. Ihre Augen waren geschlossen, die Hände übereinandergelegt, als ob sie schlafen würde, wäre da nicht die zerrissene Leibwäsche unter ihrer offenen Kittelschürze, intime Körperteile freilegend.
«Genau das meine ich», bemerkte Krassinsky überstürzt. «Ein gewöhnlicher Vergewaltiger würde nach begangener Tat einfach flüchten, das Opfer wäre ihm dann bedeutungslos. Nur eine abnorme Persönlichkeit nimmt sich in einem solchen Moment die Zeit, eine Tote noch liebevoll herzurichten, oder vielmehr das, was er darunter versteht. Wäre ihm allenfalls nachträglich ein Funken von Schamgefühl aufgekommen, hätte er zumindest die Kleidung der Toten geordnet, um sein Unrecht vermeintlich zu verwischen. Dies ist eindeutig die Tat eines Perversen.»
«Schwester Yvonne war noch jungfräulich, wie die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab. Der Täter war nicht zum Vollzug seiner Absicht gekommen», bemerkte Sporn nachdenklich.
Meyer der Härtling weiterhin beobachtete, bemerkte, wie dessen Augen flackerten, nicht bestimmt deutbar, aber es regte sich in seinem Innern etwas.
Sporn, die den Raum nochmals eingehend gemustert hatte, trat zur Tür und drehte sich zu Härtling um. «Auf Wiedersehen, Herr Härtling.» Sie nahm den Türgriff zur Hand und öffnete.
«Wate… warten Sie!», die lallende, nicht leicht verständliche Stimme kam von Härtling. Er keuchte schwer. E… e… es war Krasschimsky. Er hatte sie be… betatscht und da da o… ohfeigte sie ihn. … Er muschte ausge… ausgeraschtet schein. … Jedenfalsch warf er sie auf mein Bett und verschuchte sie zu ver… vergewaltigen, wähend sie schich heftig wehrte. Alsch er scheine Hose runterzog, sie hatte wohl ge… gespürt, dass all… alles verloren war, be… begann sie zu schreien. Da drückte er ihr das Kischsen auf das Geschicht, bis kein Laut mehr zu hören war.» Härtling wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
«Sehen Sie», erregte sich nun Krassinsky, «er schauspielert, wie ich es voraussagte. Plötzlich kann er nun doch sprechen. Härtling ist ein gemeingefährlicher Psychopath. Es ist nicht ungewöhnlich, dass solche Kreaturen nicht mal davor zurückschrecken, den behandelnden Arzt ihrer Taten zu bezichtigen.»
«Schweigen Sie», herrschte Sporn Krassinsky mit harter Stimme an. Sie wandte sich wieder Härtling zu, die Türe hatte sie schon bei seinen ersten Worten wieder geschlossen. «Sie sind sich der Schwere der Anschuldigung bewusst, Herr Härtling. Falls dies so nicht stimmt, verschlimmern Sie Ihre Situation damit nur noch mehr.»
«Do… do… doch, doch, es ist wahr», und nach kurzer Pause mit mühevoll hervorgepresster Stimme, «i… i… ich kann es beweischen!» Er atmete schwer.
«Wie?» Sporn stand nun unmittelbar vor Härtling und verdeckte ihm die Sicht auf Krassinsky, der vor Wut zu beben schien.
«Alsch Krasschimsky seine Hosen herun… herunterzog, verschob schich sein Arztkittel. Dadurch schah ich auf scheinem Hintern ein gro… grosses Feuermal. Wo… woher schollte ich dies schonst kennen?»
«Das ist eine Frechheit, eine infame Unterstellung. Glauben Sie ihm kein Wort, er erzählt fantastische Lügen», schrie Krassinsky.
«Es wird Ihnen als Arzt doch wohl nichts ausmachen, uns einen persönlichen Augenschein zu gewähren?» Dem Ton nach war es keine Frage von Sporn, sondern eine Aufforderung.
Krassinsky wandte sich der Tür zu, um zu gehen, doch Meyer hielt ihn mit hartem Griff zurück. Mit der freien Hand öffnete er ihm die Hose und zog sie unter zeterndem Geschrei von Krassinsky so weit wie notwendig herab. Ein dunkelrotes Feuermal prangte da auf der rechten Backe!
«Herr Krassinsky», seinen Titel verschluckte Sporn, «wir nehmen Sie unter dem Verdacht der versuchten Vergewaltigung und des Mordes an Schwester Yvonne fest.» Monoton klärte sie ihn noch über seine Rechte auf. Meyer legte Krassinsky Handschellen an, der nun seinerseits völlig apathisch wirkte.
«Auf Wiedersehen, Herr Härtling. Wir kommen dann nochmals vorbei, um alles offiziell zu protokollieren.
Er konnte wieder sprechen, dieser Gedanke vereinnahmte Härtling in den nächsten Stunden und immer wieder übte er die Aussprache von Worten und Sätzen. Die Nachtruhe war im Krankenhaus bereits eingekehrt, bis er damit aufhörte. Er fühlte sich wieder mehr als der, der er bis zu seiner Erkrankung war.
Aus dem Schrank, in dem seine persönlichen Gegenstände untergebracht waren, entnahm er ein Handy und ein Stromkabel. Der Akku war leer. Nach der Tat von Krassinsky, als er begriff, was geschehen war, hatte er erst ein Foto der Toten gemacht, wie sie dalag mit dem Kissen auf dem Gesicht. Schrecklich. Er spürte wieder die Wut auf Krassinsky hochkommen, wie vorhin, als dieser ihn beschuldigte, ein Perverser zu sein. Zudem besass er noch die Unverfrorenheit, seine Tat ihm anzulasten.
Als die Akkuanzeige zu steigen begann, rief er die gespeicherte Fotodatei ab. Da war dieses schreckliche Bild der kopflosen Toten, er würde das Bild löschen, denn es war unerträglich anzusehen. Das nächste Bild zeigte Schwester Yvonne wie schlafend. Sie wirkte so lieblich - wenn man das Geschehen verdrängte -, wie nach einem Liebesakt ruhend. Ihm war seit Tagen aufgefallen, dass sie unter dem Schwesternkittel nur Unterwäsche trug, was ihre sich abzeichnende Figur reizvoll präsentierte. Diesen wunderbaren Körper einmal entblösst zu sehen, hätte er nicht zu hoffen gewagt.
Da schwelte wieder die Wut auf Krassinsky, der ihn für schwer hirngeschädigt und normaler Wahrnehmung nicht mehr zugänglich gehalten hatte. Leider waren seine Denkfähigkeit und seine Kräfte im entscheidenden Moment zu eingeschränkt gewesen, als dass er die Tat hätte verhindern können. Doch er würde das liebliche Bild der jungen Frau in Ehren aufbewahren, nur ihm zugänglich. Sie war noch Jungfrau, sagte die Kommissarin. Er erinnerte sich, wie er Schwester Yvonne berührte, ganz zärtlich mit seiner Hand.