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Schlittenfahren
Schlittenfahren
Die Schlittenpiste ist am Schönberg.
Dort, wo das Walddunkel beginnt.
Von Zuhause bis zum Schönberg brauch ich eine Stunde, höchstens. Bevor es Abend wird, muss ich zurück sein.
Halb sechs, spätestens, hat Vater gemahnt.
Zuerst geht’s durchs Dorf. Entlang der Straße schieben Schneeschaufeln Schneematsch zur Seite, kratzen die Gehwege frei. Ab und zu machen die Leute eine Pause, dann stehen sie in kleinen Gruppen beisammen und unterhalten sich. Sie reden über das Wetter und das Faschingsfest. Das Fest, hat Mutter gesagt, findet nächste Woche statt. In der Sporthalle.
Ich werde mich als Zauberer verkleiden.
Beim Vorbeigehen grüßen die Erwachsenen mich manchmal, und ich grüße dann zurück. Die Vorgärten der Häuser sind alle weiß verschneit. Hin und wieder kauern dort Schneemänner. Die schwitzen in der Sonne.
Bald gehe ich die Hauptstraße entlang: Der plattgefahrene Straßenschnee dort ist über und über mit winzigen Steinen verhagelt, damit niemand ausrutscht.
Manche Häuser hier sind ganz aus Holz, die Dächer eingeschneit. Unter den Giebeln kleben Eiszapfen. Wie Lebkuchenhäuser mit Zuckerguss, denke ich. Aus den Schornsteinen kommt Rauch, schwebt wolkig in die Höhe. Die Rauchfahnen steigen weit in den Himmel auf - dort, wo die Krähen ihre Kreise ziehen. Heute ist die Luft ganz klar, über mir ein leuchtend blauer Winterhimmel.
Gleich verlasse ich das Dorf, gelange auf den Feldweg, von dort geht’s zum Schönberg. Der Weg windet sich über Schneewiesen, schlängelt sich das Tal hoch. Bis zum Wald.
Wenn ich über den Schnee gehe, knirscht es trocken. Auf dem Weg entdecke ich lauter Schuhspuren: Turnschuhe, Wanderschuhe, grosse Erwachsenenschuhe - daneben kleine Kinderschuhe. Und Schlittenspuren, überall: Die Kufenspuren verlaufen gerade wie die Gleise einer Bahnlinie. Ein wirres Muster. Die Linien ganz parallel, kreuzen bald andere Linien, gehen wieder auseinander. Dazwischen Pfotenspuren. Hunde wahrscheinlich.
Ab jetzt geht’s immer mehr bergauf. Das ist anstrengend.
Ich muss eine kurze Verschnaufpause machen, setze mich quer auf den Schlitten - und blicke über das Tal:
Die Landschaft glänzt im Sonnenlicht.
Schmelzende Schneefelder weit und breit. Die Wintersonne blendet schräg. Unten im Tal liegt Schneetau - dort ist auch mein Dorf.
Die Welt wie in einen Kokon aus Stille gewebt.
Irgendwo unter mir, auf dem Weg, taucht plötzlich eine Gruppe älterer Jungen auf. Die Jungen kenne ich, die gehen auch auf meine Schule. Das ist eine richtige Bande. Ganz schlimm: Wenn sie einen auf dem Klo oder im Raucherversteck hinter der Schule erwischen, wollen die immer das Taschengeld haben – sonst gibt’s Schläge.
Ich sehe, dass die Jungen Schlitten hinter sich herziehen. Hoffentlich wollen die nicht auch zur Schönberg-Piste. Das wäre furchtbar.
Jetzt laufe ich schneller. Die Luft ist kalt. Mein Atem gefriert sofort, wird knisternder Rauch.
Schneekristalle auf dem Fußweg. Es glitzert. Wie tausend Diamanten. Mein Schlitten im Schlepptau, schaukelt hinter mir her. Immer schwerer und schwerer wird der Schlitten jetzt, zieht an der Schnur, und die Schnur schneidet durch den Stoff vom Kältehandschuh. In meine Hand hinein.
Ab und an fällt Schnee auf meinen Kopf. Er rieselt aus den Bäumen und raschelt dann. In den Zweigen. Das Glitzerpulver hat sich auf meine Pudelmütze gelegt, ich nehme die Mütze vom Kopf, und die Kristalle funkeln nun im Sonnenlicht.
Vor mir der Schönberg. Endlich! Jetzt kann ich auch die Piste erkennen: Meine Freunde sind bereits da. Auch andere Kinder aus dem Dorf, ich höre Jungen und Mädchen schreien, jeder ruft jedem irgendetwas zu.
Gleich hab ich’s geschafft. Aber die Beine sind müde geworden. Vom Wandern. Noch eine kurze Pause einlegen – dann geht’s weiter.
Manchmal knacken Bäume. Wegen dem Eisregen letzte Nacht. Die Äste sind gefroren, das Holz ganz gläsern, es klirrt und bricht.
Die Welt wie eingeschmolzen. Konserviert im Eis. In einen gläsernen Mantel aus frostiger Kälte gebacken. Direkt vor mir, zwischen den Bäumen, fällt wieder Schnee.
Es rieselt Sternenstaub.
„He, da ist ja der Peter!“, höre ich jemanden schreien. „Auf, den schnappen wir uns!“ Die Jungen sind aus einem Hinterhalt gekommen, stürmen alle auf mich zu.
Sofort lasse ich den Schlitten los. Ich laufe und laufe...
Aber jetzt falle ich hin.
Schon haben sich zwei auf mich geworfen und halten mich im Polizeigriff. Die großen Jungs packen mich, drücken meine Arme auf den Boden. Ganz fest. Sie tun mir weh. Dann beugt sich der Anführer zu mir hinunter, sagt:
„Dich werden wir jetzt gründlich einseifen!“
Die anderen lachen blöd. Sofort spüre ich kalten Schnee im Gesicht. Und am Hals. Einer stopft mir das Eis unter den Kragen und sogar in den Ärmel vom Pulli. Für einen Moment sehe ich meine Mütze, wie sie in den Schnee fällt.
Dann ziehen sie mir die Schuhe aus, schaufeln Schnee hinein - bis beide Schuhe ganz mit weißer Kälte ausgestopft sind. Solange scheuern sie Schnee über mein Gesicht, bis die Haut rot wird und brennt.
Die Jungen johlen nun, rennen und hüpfen dabei im Kreis um mich herum. Sie quieken vor Freude - während ihr Anführer höhnisch lacht.
Bevor sich die Bande endlich davonmacht, nehmen sie mir noch den Schlitten weg, stoßen ihn den Abhang hinunter.
Ich schaue meinem Schlitten hinterher, wie er blind den Hang hinunterrodelt. Eine irre Talfahrt. Wie ein Geisterschiff, denke ich, jagt der alte Holzschlitten über den Schnee – dann ist er verschwunden.
Die großen Jungs sind auch verschwunden.
Zum Glück wollten sie diesmal kein Geld, nur mich einseifen.
Ich beschließe jetzt, wieder umzukehren. Laufe heimwärts.
Heute werde ich nicht mehr Schlittenfahren.
Wolf. W. 2003