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Segel setzen

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17.08.2016
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Segel setzen

Er stand in der Tür zu seinem Büro und sog mit geschlossenen Augen den Geruch ein. Bohnerwachs, altes Papier und die unverwechselbare Würze von kaltem Zigarrenrauch. Natürlich durfte man hier schon lange nicht mehr rauchen, aber der Geruch war noch da. So viele Jahre hatte ihn dieses Aroma begleitet, ihn eingehüllt, war ihm so etwas wie Heimat gewesen. Mit bedächtigen Schritten ging er hinüber zu dem deckenhohen Schrank. Hinter Glas reihten sich die in Leder eingeschlagenen Bücher auf, abgegriffen vom jahrzehntelangen Gebrauch. Er stand davor, die Hände hinter dem Rücken, ließ seinen Blick über die Buchrücken gleiten, wie ein Museumsbesucher über ein wertvolles Gemälde. An einigen der Ausgaben hatte er mitgeschrieben, natürlich alles Standardwerke seiner Fachrichtung. Und da drüben am Fenster der wuchtige Schreibtisch aus dunklem Holz. Vor fünf oder sechs Jahren hatte er sich dem Druck der modernen Zeit ergeben müssen, seitdem störte ein hässlicher Monitor die makellose Ästhetik von Papier auf Holz. In Anbetracht der Tatsache, dass er den Computer ziemlich selten benutzt hatte, ein umso größerer Jammer. Den Monitor würde er als erstes entfernen, dachte er mit entschlossenem Blick. Sicher, er wäre nicht mehr so häufig hier, aber immerhin musste er das alles nicht ganz aufgeben. Da hatte er in dem Gespräch mit dem Dekan entsprechend Druck gemacht. Er legte eine Hand auf das kühle Holz des Tischs und atmete tief ein.
»Professor Weinherr, da sind Sie.«
Veith Hombergs Stimme zerstörte den andächtigen Moment. Weinherr wandte sich vom trüben Novemberwetter hinter den alten Doppelfenstern ab und bedachte Homberg mit einem kurzen Nicken. Der Mann hatte ein Talent für ungünstige Momente.
»Professor Homberg«, sagte er knapp.
Homberg lehnte lässig im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, den typischen spöttischen Ausdruck um die Mundwinkel. Nicht einmal an diesem Tag hielt es sein Nachfolger für angebracht, sich eine Krawatte umzubinden.
»Da kommen viele Erinnerungen hoch – kann ich mir vorstellen.« Homberg machte eine vage Handbewegung. »Waren ja auch nicht wenig Jahre.«
»Fünfunddreißig«, sagte Weinherr.
»Fünfunddreißig? Ich hatte irgendwas mit zwanzig im Kopf.« Homberg pfiff leise durch die Zähne. »Fünfunddreißig. Alle Achtung! Umso mehr werden Sie eine Lücke hinterlassen, die nur schwer, also die ... na, Sie wissen schon.« Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam mit beschwingtem Gang auf Weinherr zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter. Weinherr versteifte sich unter der Berührung. »Da freuen Sie sich jetzt sicher auf den Ruhestand. Wieder mehr an sich denken. Ihre Frau. Hobbys. Professor ... ich meine, Friedrich, das haben Sie sich wirklich verdient.« Das Pathos in Hombergs Stimme war unerträglich.
»Danke«, sagte Weinherr, einfach, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Dann wollen wir mal.« Veith Homberg löste den unangemessen kumpelhaften Griff und war schon wieder an der Tür. »Die warten schon alle. Auf Sie. Ist doch Ihr großer Tag.« Damit ließ er ihn stehen. Weinherr warf noch einen Blick auf die Bücherreihen. Sein Seufzer war fast lautlos.

Die Emeritierungsfeier fand im alten Hörsaal des Zoologischen Instituts statt. Steil nach oben führende Sitzreihen mit harten Holzbänken. Unten, wie in einer Arena, der klobige Holztisch, blank poliert von hunderten von Vorlesungsblättern und feuchten Handflächen. Dahinter die riesige dreiteilige Tafel. Mit großen, schwungvollen Buchstaben hatte jemand geschrieben: »Emeritierung von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Friedrich Weinherr«. Und tatsächlich, sie waren zahlreich gekommen. Fast der gesamte Professorenstand der Fakultät sowie viele Kollegen anderer Fachrichtungen. In den Sitzreihen erkannte er außerdem einige seiner ehemaligen Doktoranden, mittlerweile auch alle fast fünfzig. Und Wissenschaftler des Instituts, junge Leute in Jeans und zerknitterten Hemden, die ihn entweder freundlich musterten oder teilnahmslos in Richtung der mit zoologischen Motiven verglasten Fenster starrten. Nur der Dekan fehlte. Natürlich.
Veith Homberg stand vor der Tafel und blickte wohlwollend in die Runde, offensichtlich vollkommen mit sich im Reinen. Nicht verwunderlich, ab morgen würde er offiziell Institutsleiter sein.
In der ersten Reihe saß Weinherrs Frau Agathe, der schmale Körper wirkte verloren zwischen der unverhohlen zur Schau getragenen Autorität der versammelten Professorenschaft. Sie trug ein dezentes cremefarbenes Kostüm, ihre immer noch dichten schwarzen Haare waren in einer Art hochgesteckt, die ihrem Alter eigentlich nicht angemessen war. Aber Friedrich ignorierte großzügig diesen – seiner Meinung nach – Fauxpas und schenkte ihr ein Lächeln, das sie strahlend erwiderte.
Dann schüttelte er hier und da Hände, nahm gemurmelte Glückwünsche entgegen, bis Homberg sich hinter ihm laut räusperte, wieder zu seinem Schultergriff ansetzte und in theatralischem Tonfall sagte: »Professor Weinherr. Es ist mir eine ausgesprochene Ehre, diesen besonderen Tag mit Ihnen feiern zu dürfen. Bitte setzen Sie sich doch!«
Er deutete auf einen gepolsterten Stuhl, ging dann zurück auf seine Position, entnahm seinem Sakko ein zusammengefaltetes Blatt Papier und räusperte sich erneut. Nach einem bedeutungsschweren Moment des Schweigens schaute er auf und setzte zu seiner Rede an.
»Lieber Professor Weinherr, liebe Frau Weinherr. Verehrte Kollegen Professoren. Liebe Wissenschaftler und Gäste. Die Lebensleistung unseres ehrenwerten Kollegen, der sich heute in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet, muss ich wohl kaum näher beschreiben. Sie alle kennen Ihn, die meisten viel besser als ich. Ich werde es trotzdem tun, denn an solch einem Tag blickt man auch – ja, vielleicht sogar größtenteils – zurück.“
Weinherr hörte nicht mehr zu. Diese Genugtuung wollte er Homberg nicht gönnen. Der nutzte diese Veranstaltung doch vor allem für eines: zur Selbstdarstellung. War ja nichts Neues. Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, fühlte Agathes sanften Händedruck. Dieser joviale Blick in Hombergs Gesicht. Unerträglich! Jetzt wandte er sich ihm mit demütigem Ausdruck zu: „... der größte Ansporn und zugleich die größte Herausforderung, wenn ich ab morgen als Institutsleiter versuchen werde, in die übergroßen Fußstapfen zu treten, die Sie hier hinterlassen haben. Ich hoffe sehr, dass ich diesem Anspruch gerecht werden kann.«
Und dann ging es weiter. Dienst der Wissenschaft, Pläne für das Leben danach, immer willkommen am Institut. Er legte sich richtig ins Zeug, kitzelte am Rührungsnerv. Weinherr sah kurz zu seiner Frau. Feierliches Glänzen in den Augen. Agathe, das meint der Homberg doch gar nicht so, war er versucht, ihr zu sagen.
Und endlich war Homberg fertig, faltete seinen Zettel zusammen und klatschte theatralisch die klauenartigen Hände zusammen. Aus den Reihen der Anwesenden lautes Beifallsklatschen, vereinzeltes Getrampel von Füßen aus den hinteren Bänken, die Reihe der Professoren erhob sich geschlossen und klatschte mit von sich gestreckten Armen. Homberg blickte gönnerhaft in die Runde, das hagere Gesicht erinnerte Weinherr einmal mehr an das eines Adlers. Oder eines Geiers.
Er erhob sich schwerfällig und nahm den Applaus mit leicht gesenktem Kopf entgegen, schließlich wedelte er abwiegelnd mit den Händen.
»Liebe Kollegen, was soll ich sagen? Ich bin glücklich. Glücklich und dankbar. Darüber, dass ich hier wirken durfte. Es waren hervorragende Jahre, erfolgreiche, und natürlich ist da auch ein wenig Wehmut. Einerseits. Andererseits freue ich mich –«, er lächelte in Agathes Richtung, »freuen wir uns auf die jetzt heranbrechende Zeit. Ach, ich habe so viele Pläne und endlich die Muße, sie umzusetzen. Nein, langweilig wird mir bestimmt nicht werden. Und falls doch, dann komme ich hierher und schaue mal, wie ihr ohne mich zurechtkommt. Das darf im übrigen ruhig als Drohung verstanden werden.« Höfliches Gelächter. »Aber keine Angst, das wird so schnell nicht passieren. Das Leben muss schließlich weitergehen.«
Beim anschließenden Umtrunk wurde Weinherr nicht müde, jedem seiner Gesprächspartner gegenüber zu wiederholen, wie sehr er sich doch auf seinen Ruhestand freue. Dass er so viele Pläne habe, ihm bestimmt nicht langweilig werde, und überhaupt, das Leben ja weiterginge.

Es dauerte nicht ganz zwei Wochen, bis Professor emeritus Friedrich Weinherr klar wurde, dass er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie das Leben weitergehen sollte. Er verbrachte die Tage in Strickjacke und Haushose entweder in seinem Lesesessel und starrte an die Wand oder er sortierte mit wenig Eifer Papiere auf dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Ansonsten wanderte er ziellos durch das Haus, das ihm mit einem Mal unnötig groß vorkam. Nie hätte er geglaubt, dass das Loch, von dem es hieß, man würde nach einem Leben voller Arbeit hineinfallen, wirklich existierte. Noch weniger, dass es sich so rasch öffnen und vor allem nicht, dass es so tief sein würde.
Das Schlimmste für Weinherr war die fehlende Struktur. Er war es gewohnt, an jedem Morgen zu wissen, wie der gesamte Tag verlaufen würde, welche Arbeit auf ihn wartete. Vorlesungen, Termine mit Doktoranden, Gremienarbeit, wissenschaftliche Konferenzen. Dazwischen immer wieder Durchsehen von Manuskripten oder die Arbeit an einem Lehrbuch. Er hatte offensichtlich wenig Talent darin, sich seinen Tag außerhalb der universitären Strukturen selbst zu gestalten, kreativ zu sein, in sich hineinzuhorchen. Weinherr konnte sich auch nicht erinnern, wann er das letzte Mal länger als drei oder vier Tage rund um die Uhr zu Hause gewesen war. Er hatte eigentlich immer irgendwelche Termine gehabt, selbst zwischen den Semestern. Oder Agathe und er waren – selten genug, seine Frau musste ihn jedes Mal dazu drängen – in den Urlaub gefahren. Norderney. Sylt. Einmal auch nach Südfrankreich. Zwei, drei Mal Italien. Dann immer wieder Norderney. Und stets hatte er auch dort den Großteil der Tage damit zugebracht, an einem wissenschaftlichen Buch zu arbeiten, seine Korrespondenz mit den internationalen Kollegen zu erledigen oder in dem Stapel an neuen Veröffentlichungen zu lesen, der ihn in jedes Urlaubsziel begleitete. Aber jetzt? Wie sollte er die vielen Stunden füllen? Er hatte keine Ahnung und so beschränkten sich seine Aktivitäten auf das Sitzen im Sessel oder das Hin- und Hergeschiebe von Papier.
Eine unerträgliche Monotonie war das.
Agathe hielt sich zurück, wahrscheinlich wollte sie erst einmal sondieren, welchen Mann ihr die Universität nach fast vierzig Jahren als Professor im Ruhestand nach Hause geschickt hatte. Ab und zu versuchte sie, ihn zu bewegen, mit ihr vor die Tür zu gehen oder eine Partie Scrabble zu spielen. Und obwohl ihm bewusst war, dass er seiner Frau damit großes Unrecht tat, war ihm ihre Nähe erschreckend gleichgültig, in manchen Momenten aber – immerhin, er schämte sich jedes Mal dafür – regelrecht lästig. Die traurige Wahrheit war, dass Weinherr seine Arbeit schmerzlich vermisste, das Leben als Institutsleiter, als angesehener Professor. Und diesen Verlust konnte ihm Agathe nicht ersetzen. Es gab also nur eine Möglichkeit.

»Morgen werde ich mal ans Institut fahren.« Weinherr ärgerte sich, dass seine Stimme leicht zittrig klang. Versucht entspannt ließ er den Wein in seinem Glas rollen, musterte die Lichtreflexe auf der roten Oberfläche. Dann warf er Agathe einen raschen Blick zu. Ihr Gesicht sprach Bände. »Einfach mal hallo sagen.«
Seine Frau legte das Besteck zur Seite, sah ihn lange an, schüttelte sacht den Kopf.
»Ich weiß nicht. Denkst du, das ist eine gute Idee? Ich finde, du solltest erst einmal Abstand gewinnen.«
»Abstand?«
»Ja, Abstand. Es sind doch erst zwei Wochen. Ich verstehe, dass loszulassen nicht leicht ist für dich.«
»Das ist es doch jetzt gar nicht. Ich will einfach nur vorbeischauen. Das muss man doch jetzt nicht, also ...« Weinherr zuckte mit den Achseln, trank einen Schluck Wein. »Ist doch nichts dabei.«
Agathe legte ihre Hand auf seine. »Liebling, das Leben geht weiter. Lass die anderen das machen.«
Er zog seine Hand zurück. »Was weißt du denn schon? Andere, wie?«, sagte er, schnaubte verächtlich. »Etwa der Homberg? Der wollte mich doch vom ersten Tag an weghaben. Sieht in mir einen altmodischen Kasper. Der mit seiner nervtötenden Lockerheit, dieses Möchtegern-Weltgewandte. Nur, weil er mal ein paar Jahre an einer zweitklassigen Universität in England war.«
»Imperial College, mein Schatz.« Sie lächelte milde.
»Na wenn schon«, rief Weinherr. »Trotzdem ist der Mann ein elender Emporkömmling. Natürlich mit Kluge auf Du. Und ich weiß genau, was der mit dem Institut vorhat. All dieser moderne Schnickschnack. Was bleibt denn dann noch übrig?«
Er verschränkte die Arme vor der Brust, starrte missmutig auf seinen Teller.
»Das ist es also«, sagte Agathe. »Na gut, dann sage ich dir jetzt mal etwas, mein Lieber. Ich habe immer zu dir gestanden, vierzig Jahre lang. Habe dich unterstützt, wo ich nur konnte. Aber jetzt ist der Augenblick gekommen, wo du, Friedrich Weinherr, loslassen musst. Dein Platz ist jetzt hier und nicht mehr an diesem Institut.« Sie schob den Stuhl zurück, erhob sich, deutete mit dem Finger auf ihn. »Ich habe lange darauf gewartet und ich bitte dich, nein, ich verlange von dir, dass du verstehst, wie du dich zu verhalten hast. Und entsprechend handelst.« Sie strich ihre Bluse glatt, atmete tief durch. »Das wäre alles.« Damit nahm sie ihren Teller und ging in die Küche.

Weinherr konnte nicht anders. Dies war zu wichtig. Sein Lebenswerk. Er musste wenigstens versuchen, etwas Einfluss zu üben darauf, wie Homberg die Geschicke des Instituts leiten würde. Immerhin war Weinherr nicht irgendwer. Nein, er und das Institut waren wie zwei zusammengewachsene Bäume. Untrennbar. Und seine Autorität war unangefochten.
Schon der Gedanke daran, wieder durch die Pforte zu treten, den Geruch von Kalk, Holz und Reinigungsmittel zu riechen, Walter, dem Mann hinter der Glasscheibe jovial zuzunicken, um dann die Flügeltür aufzustoßen und den breiten Gang zu seinem Büro entlangzugehen, nach links und rechts grüßend, um schließlich hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen – der lederbezogene Stuhl würde wie als Willkommensgruß leise quietschen –, allein diese Vorstellung ließ seine Stimmung merklich aufhellen und die Trübnis der letzten zwei Wochen fast vergessen.
Weinherr lenkte den Mercedes auf den Institutsparkplatz, aus Gewohnheit kurvte er zu dem für die Leitung reservierten Abschnitt. Nur, um zu sehen, dass das Schild mit seinem Namen bereits verschwunden war. Prof. Dr. Veith Homberg, Institutsleiter, stand da jetzt. Grummelnd wendete er den Wagen und suchte einen freien Platz zwischen den billigen, abgefahrenen Autos der Studenten und graduierten Wissenschaftlern.
Walter sah von seiner Zeitung auf, als Weinherr im Vorbeigehen freundlich grüßte, runzelte die Stirn, dann griff er zum Telefonhörer. Kaum hatte Friedrich die zweite Tür geöffnet, da kam ihm auch schon Professor Homberg vom anderen Ende des Ganges entgegengehastet. Die Schuhe knallten auf dem Steinboden wie Pistolenschüsse.
»Professor Weinherr«, rief er gehetzt, breitete die Arme aus, ein verkrampftes Lächeln auf den Lippen. »Was für eine Freude.«
Weinherr blieb starr stehen, machte keine Anstalten, auf Homberg zuzugehen. Als dieser ihn erreicht hatte, standen sich die beiden für einen Moment unschlüssig gegenüber.
»Tja, wie gesagt«, sagte Homberg dann. »Was für eine Freude. Ich dachte, dass Sie Ihren Ruhestand, dass Sie hier nicht so schnell ... Na egal. Schön, Sie zu sehen. Sollen wir einen Kaffee ...?«
»Danke, sehr nett. Aber ich wollte gleich in mein Büro.« Weinherr nickte kurz, drehte sich um, ging mit energischen Schritten den Gang hinunter.
»Ihr Büro?«, hörte er Homberg hinter sich sagen, dann dessen harte Absätze, er hastete ihm hinterher. »Professor Weinherr. Einen Moment! Ihr Büro ist doch jetzt ...«
Weinherr war schon an der Tür zum Vorzimmer. Zwanzig Jahre hatte dort Frau Pleiss gesessen, bevor sie letztes Jahr in Rente gegangen und wegen seiner bevorstehenden Pensionierung nicht ersetzt worden war. Er öffnete und erstarrte auf der Schwelle. Durch die offen stehende Tür konnte er sehen, dass sein altes Büro nahezu leer war. Der Schreibtisch, die kleine Sitzgruppe, sein Stuhl, alles war weg. Lediglich der Bücherschrank stand noch an seinem Platz, nur dass sich darin kein einziges Buch mehr befand.
»Was zum ...«, stammelte Weinherr.
Homberg hatte ihn eingeholt, Weinherr konnte ihn hinter sich atmen hören, roch das Pfefferminz seines Kaugummis. »Wenn Sie sich angekündigt hätten, dann hätte ich Sie selbstverständlich darüber in Kenntnis gesetzt.«
Weinherr ging die wenigen Schritten, stand vor dem leeren Schrank, stemmte die Hände in die Hüften. »Ich verlange eine Erklärung«, sagte er mit kaum verhohlenem Zorn, die eisblauen Augen immer noch auf die Leere vor sich gerichtet.
»Eine Erklärung, sicherlich.« Homberg räusperte sich. »Es ist nun einmal so, und wer wird das besser wissen als Sie, dass wir räumlich ein wenig, na ja, limitiert sind. Und deswegen wird das momentan von mir genutzte Büro der gerade ausgeschriebenen Juniorprofessur zur Verfügung gestellt.«
»Sie meinen, dass Sie die Räumlichkeiten hier nutzen werden!«
»Das folgt im Prinzip daraus. Ja« Hombergs Stimme war kalt.
Jetzt wendete sich Weinherr seinem Nachfolger zu. »Herzlichen Glückwunsch.« Er gab sich keine Mühe, den Sarkasmus in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Danke, verehrter Herr Kollege. Man wird natürlich hier und da Ausbesserungen vornehmen müssen. Und mal ordentlich lüften, nicht wahr?« Er lachte bellend auf. »Na, wie auch immer. So ist wohl der Lauf der Dinge.«
»Der Lauf der Dinge?«
»Na ja, Veränderungen gehören dazu, sind quasi unvermeidbar. Das gilt im übrigen auch für das gesamte Institut. Ich – wir – haben große Pläne. Inhaltlich, klar, aber auch, was die Räumlichkeiten angeht. Ein Anbau für neue Labore ist bereits genehmigt, und dann ...«
»Was meinen Sie mit inhaltlich?«, unterbrach ihn Weinherr.
Homberg zögerte, kniff für einen Moment die Augen zusammen, als würde er angestrengt nachdenken. »Wir können uns auch hier nicht den Trends widersetzen. Es geht nun einmal weg vom bloßen Katalogisieren hin zu den zellbiologischen, den funktionellen Fragestellungen. Aber selbst davon müssen wir uns lösen, müssen weiter denken. Verschiedene Disziplinen verknüpfen. Enzymanalytik. Genomsequenzierung. Anpassungsleistungen. Und letztlich doch auch die Fragestellung, inwieweit die enorme Syntheseleistung der Einzeller nicht in den Dienst der gesamten Menschheit gestellt werden kann. Das sind doch Fabriken. Anspruchslos, und dennoch höchst effizient. Das können wir doch nicht einfach liegen lassen.« Er hatte sich in Stimmung geredet, feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die Stimme überschlug sich fast, als er zum Schluss seiner Ausführung gekommen war.
Dann legte sich Schweigen zwischen die beiden.
Schließlich sagte Weinherr: »Mir ist natürlich bewusst, dass ihr jungen Wissenschaftler mit einem mitleidigen Lächeln auf Forscher wie uns schaut. Dieses Katalogisieren, wie Sie es nennen«, er legte ein wenig Gift in seine Stimme, »verehrter Herr Kollege, ist in Zeiten moderner Technologien und unglaublicher Zukunftsversprechen, die die Wissenschaft, oftmals fahrlässig, macht, nicht mehr sehr reizvoll.« Weinherr deutete mit seinem Finger auf Veith Homberg, war kurz versucht, ihm auf die Brust zu tippen. »Aber eines kann ich Ihnen sagen. Dieses Katalogisieren ist die Basis für alles andere. Erst muss man wissen, was es da draußen gibt, verstehen, wie alles miteinander zusammenhängt, dann kann man sich daran machen, den nächsten Schritt zu gehen. Das ist meine tiefste Überzeugung. Und ich glaube, wir sind noch lange nicht so weit, die Natur, die Welt zu kennen oder gar zu verstehen. Zählen Sie mich ruhig zum alten Eisen, aber die Systematische Zoologie wird niemals aus der Mode sein. Kann sie gar nicht.« Weinherr schritt an ihm vorbei, blieb in der Tür stehen. »Und jetzt, Professor Homberg, möchte ich das mir vom Dekan zugesagte Büro sehen. Wenn es das hier nicht mehr ist, dann sicher ein vergleichbares hier oben.«

»Das ist nicht Ihr Ernst?« Weinherr spürte, wie die Wut sein Herz schneller schlagen ließ, das Blut pochte in seinen Schläfen. »Im Keller?«
»Souterrain«, sagte Homberg, die Unterlippe vorgeschoben musterte er nickend den hoffnungslos zugestellten kleinen Raum. Der große Schreibtisch schien allein schon die Wände sprengen zu wollen, darauf Stapel von Büchern, der Lederstuhl, auf dem Weinherr so viele Jahre gesessen hatte, stand in einer Ecke, überzogen von einer feinen Schicht Staub.
»Das war doch mal die Dunkelkammer, oder?«
»Keine Angst, hier wurde alles gründlich gereinigt. Die Fenster sollten Sie vielleicht noch etwas offen lassen.«
Weinherr nahm sich eines der Bücher, blies den Staub, der sich auch hier abgelagert hatte, vom Einband. Protista, Bd. 1. Zwei oder drei Kapitel hatte er dazu beigetragen. Das hatte er, Friedrich Weinherr, nicht verdient. Hier zu enden, in diesem Kellerloch.
»Das ist inakzeptabel.«
Homberg hob beschwichtigend die Hände. »Ich weiß, es ist nicht ideal, aber wie gesagt, wir haben kaum Platz, und da Sie ja emeritiert wurden, hatten wir eigentlich gedacht, na ja, so selten, wie Sie hier sein würden, da würde das hier doch ...« Er zuckte mit den Achseln, dann nickte er in Richtung des Bücherstapels. »Der Hausmeister bringt Ihnen noch ein Regal. Was Sie hier nicht unterbringen können, schicken wir Ihnen selbstverständlich nach Hause. Oder vielleicht wollen Sie ja auch der Bibliothek ...« Homberg öffnete ein Buch. »Neunzehnachtundsiebzig. Dann vielleicht lieber ins Museum, was? Nur Spaß. Gut, dann lasse ich Sie mal hier in Ihrem neuen Reich in Ruhe. Sie wollen sich ja sicher erst einmal einrichten.« An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Nochmals, schön, dass Sie da sind.«

»Das kann er nicht machen. Nicht mit mir.«
Weinherr stampfte im Wohnzimmer auf und ab, leicht vornübergebeugt, die Hände hinter dem Rücken, was seinen leicht gedrungenen Körper noch kleiner erscheinen ließ. »Eine Unverschämtheit. Mich in diese – diese Kammer zu nötigen. Mich, Friedrich Karl Maximilian Weinherr.«
Er blieb an der Tür zur Terrasse stehen, es war bereits dunkel, der große Garten war nur noch als graue Flächen zu erkennen. Abrupt drehte er sich um. »Jetzt sag doch auch mal was.«
Agathe stand, eine zierliche Gießkanne mit langer, schmaler Tülle in der Hand, vor dem großen Gummibaum in der Ecke und warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. Dann goss sie einen Schluck Wasser auf das Granulat, wischte das Ende der Tülle sorgsam mit einem Tuch ab und widmete sich den Pflanzen, die in – in Form und Farbe sorgfältig aufeinanderabgestimmten – Töpfen entlang des breiten Fensterbretts standen. Seltsam, dachte sich Weinherr bei dem Anblick der verschiedenen Gewächse, er war mit Leibe und Seele, sozusagen mit jeder Faser seines Körpers, Wissenschaftler, aber die Namen der Pflanzen in seinem Wohnzimmer hatte er sich nie merken können. Dabei hatte Agathe sie ihm nicht nur einmal gesagt.
Aber jetzt hatte er andere Probleme.
»Was sagst du denn jetzt dazu? Das ist doch wirklich die Höhe, oder?«
Seine Frau stellte die Kanne neben sich auf ein Tischchen, kam zu ihm und nahm seine Hände in ihre. Angenehm warm und weich waren sie. Er roch ihre Seife und dezent das blumige Parfüm. Ihr Gesicht hatte immer noch etwas mädchenhaftes, die großen, braunen Augen, der kleine Mund, die Haut war bemerkenswert glatt. Natürlich waren sie beide nicht mehr die jungen Leute, die sich vor fast fünfundvierzig Jahren, nur drei Monate nach ihrem ersten Kennenlernen, das Eheversprechen gegeben hatten, aber Agathe schien kaum älter geworden, war irgendwie immer noch die Agi aus dem Mahlerweg.
Sie strich ihm über die von Altersflecken gezeichneten Hände, seufzte. »Was hast du denn erwartet, Friedrich? So ist es eben. Dinge verändern sich.« Sie sah ihn liebevoll an. »Erinnere dich doch, als du damals Leiter wurdest. Ach herrje, du wolltest auch alles anders machen. Ich weiß noch genau, wie du gesagt hast, dass du Schluss machen würdest mit dem Mief aus der Kaiserzeit. Und was nicht noch alles.«
Friedrich schüttelte energisch den Kopf. »Das war doch etwas ganz anderes. Damals war es wirklich notwendig, die alten Zöpfe abzuschneiden. Aber heute, es steht doch alles zum Besten mit dem Institut.«
»Genau das hat Professor Trinkaus damals wahrscheinlich auch gedacht.« Agathe zuckte mit den Achseln. »Lass es doch gut sein, mein Schatz. Ich habe das Gefühl, dass du dich da in etwas verrennst.«
»Verrennst? Danke für deine Unterstützung.« Er entzog sich ihr, blieb unschlüssig stehen, als er den Schmerz in Agathes Augen sah. Schmerz, vermischt mit Mitleid. Was fast noch schlimmer war. »Ich ...« Warum nur fiel es ihm so schwer, sie um Verzeihung zu bitten? Sie hielt die Hände vor dem Körper ineinander verschränkt, sah ihn erwartungsvoll an. Er ahnte – nein, wusste –, dass ihre Hoffnung war, er wird die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Aber war es nicht viel mehr als nur eine Angelegenheit? Es ging um sein Vermächtnis, seine Reputation, und letztlich um seine Ehre. Das musste sie doch verstehen.
»Wie auch immer. Morgen werde ich mich beim Dekan beschweren. Da wird der Homberg schon sehen, mit wem er es zu tun hat. Notfalls gehe ich bis zum Präsidenten. So nicht!«
Er vermied es, seine Frau noch einmal anzusehen, bevor er sich abwendete und den Raum verließ.
»Tu, was du nicht lassen kannst, alter Dickschädel«, sagte sie leise, nachdem sie irgendwo im Haus eine Tür hatte zuschlagen hören.

Die Sekretärin sah überrascht vom Bildschirm auf, blickte ihn fragend an.
»Professor Weinherr«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht ... habe ich da einen Termin verpasst?« Sie kratzte mit der Computermaus über die Tischplatte, dreimaliges Klicken der Taste. »Nein, sieht nicht so aus.«
Weinherr legte den Kopf schief. »Ist ein spontaner Besuch, Frau Möllner.«
»Verstehe. Ja, ich weiß gar nicht, ob der Dekan gerade Zeit hat.«
»Ich kann ja mal klopfen.« Mit diesen Worten war er an der Tür mit dem Schild Prof. Dr. Martin Kluge, Dekan, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät I, klopfte bestimmt gegen das lackierte Holz und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
Das Dekanatsbüro war zweckmäßig eingerichtet: schmucklose weiße Regale, ein kleiner runder Besprechungstisch mit vier unbequem wirkenden Stühlen, vor dem Fenster der Schreibtisch aus Chrom und Glas. Die Auslegeware sah nach Industrieteppich aus. Der Blick auf den Neubau gegenüber verstärkte noch den Eindruck eines seelenlosen Arbeitszimmers. Fürchterlich, fand Weinherr. Dekan Kluge beobachtete gerade, wie eine winzige Espressomaschine, die in einem der Regale stand, Kaffee in eine ebenso winzige Tasse presste. Als Weinherr im Raum stand, sah er auf. Kurz lag Verwirrung in seinem Blick, dann legte sich das professionelle, verbindliche Lächeln auf die Lippen.
»Professor Weinherr. Schön, Sie zu sehen. Ich mache mir gerade einen Kaffee. Für Sie auch?«
»Nein danke.«
Der Dekan deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Ihren Mantel können Sie gern Frau Möllner geben.«
»Danke, ich habe nicht vor, lange zu bleiben.«
»Na dann.« Kluge ließ sich hinter dem Tisch nieder, rührte mit einem winzigen Löffel – Weinherr musste spontan an das Puppengeschirr denken, mit dem seine Schwester als Kind gespielt hatte – in der Tasse, nahm einen Schluck. Dann stellte er sie ab, legte die Fingerspitzen aneinander und lehnte sich zurück. »Also, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Es geht um Veith Homberg«, sagte Weinherr.
»Professor Homberg. Verstehe. Und was genau?«
»Ich verlange, dass Sie ihn in seine Schranken verweisen.«
Dekan Kluge zog die Augenbrauen hoch. »In seine Schranken verweisen? Wie meinen Sie das?«
»Mir wurde vor meiner Emeritierung zugesichert, dass ich weiterhin aktiv am Institut tätig sein darf. Und das bedeutet ja wohl auch, dass ich über die entsprechenden Ressourcen verfügen muss.«
»Aber sicher, so war es doch vereinbart. Sie haben so große Verdienste ... ich meine, natürlich können wir auf jemanden wie Sie – sofern Sie nicht anderweitig planen, könnte ja sein –, also, wir wollen nicht auf Sie verzichten.«
»Dann sind wir uns ja einig.«
»Absolut.« Kluge hob beschwichtigend die Hände.
»Sehr schön.« Weinherr erhob sich, strich die Hose glatt. »Dann werde ich Professor Homberg morgen sagen, dass ich beabsichtige, wieder mein altes Büro zu nutzen.«
»Ach so, darum geht es.« Dekan Kluge verzog den Mund. »Das ist jetzt ein wenig knifflig.« Er zupfte am Revers seines Anzugs. »Veith, ich meine natürlich Professor Homberg, hat mich über Ihre kleine Meinungsverschiedenheit unterrichtet. Glauben Sie mir, ich wünschte, ich könnte da etwas machen. Aber Sie müssen auch verstehen, dass das Institut sich gut aufstellen muss für die Zukunft. Wir müssen attraktiv sein für die besten Köpfe. Ich meine, wir stehen im globalen Wettstreit um die besten Wissenschaftler. England, Amerika. Selbst China holt auf. Und das fängt natürlich bei den Forschungsbedingungen an, Labore, Geräte, finanzielle Mittel, schließt aber auch die restliche Infrastruktur ein. Und ich muss Ihnen ja nicht sagen, wie beengt es da drüben zugeht. Glauben Sie mir, Professor Homberg arbeitet am Limit, und da müssen alle, denen das Wohl der Forschungseinrichtung am Herzen liegt, an einem Strang ziehen.« Er zuckte mit den Achseln. »Das schließt Sie mit ein, Professor Weinherr.« Er trat hinter dem Schreibtisch hervor, legte Weinherr eine Hand auf die Schulter. »Ich bin mir sicher, Sie verstehen das.« Wieder das zuvorkommende Lächeln, das sich aber dieses Mal nicht in den Augen wiederfand, die seltsam leblos wirkten.
»Nein, Herr Dekan, das verstehe ich nicht«, entgegnete Weinherr. Kluge sah ihn mit großen Augen an, wollte etwas sagen, aber da war Weinherr schon an der Tür. »Einen schönen Tag noch.«

Er vermisste die breiten Fenster, durch die das Sonnenlicht strahlte, sich im Glas der Schranktüren widerspiegelte. Er vermisste den Blick auf seine Bücher, vier Meter lang, bis fast an die Zimmerdecke. Er vermisste den Geruch, vor allem den Geruch. Hier unten roch es nach Staub. Und alten Chemikalien. Seine geliebten Bücher hatte er, so weit es ging, in dem kleinen Regal untergebracht, der Rest lag anklagend aufgestapelt in der Ecke neben der Tür.
Seufzend widmete sich Weinherr wieder dem Papier vor sich. Er hatte sich einige Notizen zu einem neuen Buch gemacht. Handschriftlich. Den Computer hatte er nicht wieder angeschlossen. Doch er war nicht richtig bei der Sache, schraubte den Füllfederhalter zu und erhob sich ächzend. Neben allem anderen, was ihm an seinem neuen Bürozimmer missfiel, war es auch noch kalt. Der schmale Heizkörper unter dem Fenster vermochte nicht, den Frost draußen zu halten. Weinherr rieb sich die Hände, dann machte er sich auf den Weg nach oben.
Alle Labore und die kleinen Büros, in denen sich die Wissenschaftler vor ihren Computerbildschirmen drängten, waren leer. Weinherr hörte Stimmengewirr aus dem Besprechungsraum am Ende des Flures und ging langsam darauf zu. Um den großen Konferenztisch saßen sie, die aufgeklappten Laptops vor sich, Kaffeebecher daneben, und wirkten auf Weinherr wie die Besatzung eines Raumschiffs. Alle sahen auf die Leinwand, auf die von dem monströsen Beamer unter der Decke eine Reihe wissenschaftlicher Grafiken projiziert wurde. Kapitän Veith Homberg saß zurückgelehnt auf einem Drehstuhl, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, Schweißflecken unter den Achseln und blickte wohlig lächelnd in die Runde.
»Du kannst mir glauben Veith, das hat uns mega überrascht«, sagte einer der Doktoranden – Reimann, oder Peters? – und fuchtelte mit dem Laserpointer in der Hand herum, so dass der rote Punkt über die weiße Wand hüpfte. Veith? Duzten die sich hier etwa alle?
»Keine Frage«, antwortete Homberg. »Das ist ja wirklich erstaunlich.«
»Absolut. Ich dachte erst, nee, das muss ein Irrtum sein. Hab den Assay zwei Mal wiederholt. Aber es ist so, wie es da steht. Eine irrsinnig hohe Affinität, schneller Umsatz, kaum Sättigung oder negatives Feedback. Der Hammer.«
Homberg nickte begeistert. »Setz dich mal mit Stinder aus der Biochemie in Verbindung. Ich will, dass die sich das ansehen.«
»Schon geschehen. Wir haben morgen ein Meeting.«
Homberg schnalzte mit der Zunge. »That’s the spirit, Lukas. Und natürlich das gesamte Enzym-Programm.«
»Geht klar.«
Weinherr hatte nicht alles verstanden, doch die Abbildungen an der Wand konnte er sehr wohl interpretieren. Und er konnte sehen, dass der Name der Spezies, aus dem sie das Enzym mit der irrsinnig hohen Affinität isoliert hatten, falsch geschrieben war.
»Da fehlt ein t«, sagte er, noch immer in der Tür stehend.
Homberg drehte sich, ohne die Hände hinter dem Kopf hervorzuholen, auf dem Stuhl in seine Richtung. Die Schweißflecken auf dem hellblauen Hemdstoff schienen Weinherr zu mustern wie die Augen eines Tieres.
»Professor Weinherr«, sagte Homberg stirnrunzelnd. »Was verschafft uns die Ehre?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sah er an die Wand. »Ja tatsächlich, da hat der liebe Lukas wohl in der Eile einen Buchstaben vergessen.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Vielleicht war der Grund, dass diese Ergebnisse so überragend sind, dass man darüber auch schon mal die Bezeichnung dieses überaus interessanten Vertreters durcheinander bringt. Alles eine Frage der Prioritäten, denke ich. Oder, Lukas?« Er zwinkerte dem Doktoranden zu, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Auch die anderen jungen Wissenschaftler sahen belustigt in Weinherrs Richtung.
»Ich werde das korrigieren«, sagte Lukas übertrieben eilfertig.
Homberg widmete sich wieder Friedrich Weinherr. »Was sagen Sie denn zu den Daten?«
»Ich bin natürlich kein Fachmann.«
„Tja“, sagte Homberg und lächelte süffisant.
Weinherr blickte noch einmal in die Runde, dann zuckte er mit den Achseln. »Na gut, ich will nicht weiter stören. Dann ... viel Erfolg weiterhin.«

Der Wein sah fast schwarz aus im dämmrigen Licht der Stehlampe. Weinherr hatte ein Fotoalbum auf dem Schoß. Das dünne Papier der Trennseiten war beinahe durchsichtig geworden und knisterte vernehmlich, als er vorsichtig die Seiten umblätterte. Die Farben der Fotos sahen nicht mehr natürlich aus, aber die Erinnerungen an die Momente waren so lebendig in seinem Kopf, als wäre das alles nicht Jahrzehnte her.
Die fabelhaften Fünf hatten sie sich genannt, scherzhaft zwar, aber irgendwie auch nicht. Und letztendlich hatte jeder von ihnen ja eine beachtliche akademische Karriere gemacht. Was waren das für tolle Jahre gewesen. Die Zukunft vor sich, die Kraft der Jugend und verliebt in das schönste Mädchen des Viertels. Und hatte er nicht alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte? Vielleicht sogar mehr? Und dennoch, wenn er ehrlich sein sollte, hatte er schon vor vielen Jahren den Anschluss verpasst. Es war ja auch alles immer komplizierter geworden. Diese fast schon zwanghafte Internationalität, die neuen Technologien, Computer überall, Mobiltelefone, überhaupt das ganze Tempo. Immer mehr Informationen in immer weniger Zeit. In diesem Malstrom fühlten sich Typen wie Homberg natürlich pudelwohl. Ja, das war der neue Typus Wissenschaftler. Und natürlich hatte Agathe Recht, er selbst war doch zu Beginn seiner Karriere vergleichbar ehrgeizig und sah genauso herab auf die alte Garde an Professoren. Und war dann doch eben genau so geworden. Ein alter, verbohrter Akademiker, der krampfhaft versuchte, sein Grundstück gegen Eindringlinge zu verteidigen. Dabei saßen die doch längst in seiner Küche. Vielleicht sollte er wirklich loslassen, wie seine Frau ihm nahegelegt hatte. Wenn dieser Homberg nur nicht so ein Widerling wäre.
Weinherr klappte das Album zu, schloss die Augen. Aus dem Nebenzimmer hörte er Agathe gedämpft reden. Er erhob sich und warf einen Blick in den Flur. Die Tür war angelehnt. Weinherr wollte sie gerade öffnen, als er seine Frau leise weinen hörte. Er blieb an der Tür stehen, unschlüssig, was er tun sollte.
»Was soll ich denn machen?«, sagte Agathe hinter der Tür. Sie schien zu telefonieren. »Er lässt ja überhaupt nicht mit sich reden. Hat immer nur diesen Homberg im Kopf. Einfach nur kindisch.« Sie seufzte schwer, schwieg, dann sagte sie mit Zorn in der Stimme: »Du kennst ihn doch, Stefan. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann man reden, wie man will. Ach, mein Junge, ich weiß nicht mehr weiter. Wenn ihr nur nicht so weit weg wärt. Natürlich weiß ich, was er das letzte Mal zu dir gesagt hat. Es ist nur, ich habe hier niemanden. Nein, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Er ist so ein Egoist.«
Agathe weinte wieder, Weinherr trat leise von der Tür zurück, ging zurück in das Lesezimmer und leerte das Weinglas mit drei großen Schlucken.

Am nächsten Tag kam der Brief. Er lag auf seinem Schreibtisch, Agathe musste ihn dort hingelegt haben. Ein Umschlag in dezentem silber-grau mit einer schwarzen Bordüre am unteren Rand. Seine Adresse handschriftlich mit schwarzer Tinte. Als er den Absender las, ließ er sich schwer in den Schreibtischstuhl fallen.
Lieber Friedrich. In großer Trauer. Nach kurzer Krankheit. Tod von Erich. Liebender Ehemann. Guter Freund. Karin.
Weinherr starrte auf das elegante Briefpapier in seiner Hand, auch hier eine schwarze Bordüre. Ein Kreuz in der oberen Ecke, neben dem unaufdringlichen Briefkopf. Erichs Adresse in Amerika. Er hatte es bis nach Harvard geschafft mit seinen für Weinherr kaum nachvollziehbaren mathematischen Theorien, seiner unglaublichen Intelligenz. Wann hatte er ihn das letzte Mal gesehen? Das musste fünf Jahre her sein. Kurze Krankheit. Was konnte das bedeuten? Warum hatte er nichts davon gewusst? Und hatte er nicht noch vor kurzem zufällig von einer Konferenz gehört, auf der Erich als Ehrengast sprechen sollte?
Weinherr legte den Brief auf den Tisch, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ihm – endlich – die Bedeutung des Briefes klar wurde. Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Strahl kalten Wassers, ließ ihn schaudern: Er war jetzt der Letzte der fabelhaften Fünf. Der nächste Gedanke ließ ihn seltsamerweise lächeln. Friedrich war immer der jüngste ihrer Gruppe gewesen. Jetzt, wo sie alle tot waren, war er mit einem Mal in gewisser Weise der Älteste von ihnen. Auch wenn das mathematisch unsinnig war, Erich würde stirnrunzelnd den Kopf schütteln.
Dort drüben auf dem Tisch lagen noch die Fotoalben, die er gestern aus dem Schrank geholt hatte. Weinherr studierte die Jahreszahlen, die in der ordentlichen Schrift seiner Frau auf die Albenrücken notiert waren. 1971. Da war er vierundzwanzig Jahre alt. Er blätterte Seite um Seite um, dann fand er das Bild. Der Biergarten in Göttingen. Unter der riesigen Kastanie. Die fabelhaften Fünf. Sie hatten – ein jeder in seiner Disziplin – der Welt der Wissenschaft einen kleinen, aber unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Paul, Moritz, Reinhard, Erich und er. Krebs, Herzinfarkt, noch mal Krebs, kurze Krankheit. Blieb nur noch er selbst. Paul, Reinhard und Erich waren damals schon verheiratet, hatten den Arm um ihre Frauen gelegt, alle strahlten in die Kamera, so voller Energie, voller Lust auf das Leben. Er lernte kurze Zeit später Agathe kennen. Reinhard war ein Jahr danach unter die Haube gekommen.
Und jetzt? Vier Witwen. Vier Frauen, die ihr Leben in den Dienst ihrer Ehemänner gestellt, die gewartet hatten, jahrelang, jahrzehntelang, immer mit der stillen Hoffnung, dass es irgendwann anders wird, das Leben zu zweit beginnt. Weinherr hatte Agathes Schmerz, die Enttäuschungen, die Last des Sich-selbst-Zurücknehmens oft genug geahnt, gefühlt. Und doch immer ignoriert. Weil es schließlich um etwas Größeres ging. Ein hehres Ziel. Das Wissen. Er hatte vorausgesetzt, dass sie es versteht. Und Agathe? Sie hatte sich dem ergeben. Genau wie Karin, Marianne, Johanna und Doris. Vier Witwen. Gelebte Leben. Aus. Ende. Basta.
Lang saß Weinherr in seinem Sessel, das Album aufgeschlagen neben sich, und starrte vor sich hin. Er hörte Agathe im Haus. Ihre zarten Schritte, ein leises Husten, Fenster wurden geöffnet und wieder geschlossen, Geschirr klapperte. Schließlich erhob er sich, ging zum Schreibtisch, nahm das Hochzeitsbild in die Hand. Das schönste Mädchen im Viertel, das war sie allerdings.
Die Tür öffnete sich. Agathe steckte den Kopf ins Zimmer, lächelte, aber es wirkte unsicher, müde, resigniert. Alles, nur nicht liebevoll.
»Wir können essen.«
Weinherr nickte automatisch, immer noch das Bild in der Hand. Sie schloss die Tür.
In dem Moment traf er eine Entscheidung.
Und außerdem hatte er noch etwas anderes zu erledigen.

Durch das bodentiefe Fenster fällt das Licht der untergehenden Sonne, macht das Innere der geräumigen Kabine weich. Ihr nackter Körper ist warm, sie schwitzt leicht unter der Daunendecke. Weinherr hat einen Arm um sie gelegt, streicht sanft über ihren flachen Bauch. Ihr Haar riecht nach Shampoo, im Nacken klebt es an der schweißnassen Haut. Er spürt Agathes kleine Pobacken an seinem Penis und versucht sich zu erinnern, wann sie zuletzt so zusammengelegen haben. Ohne einen halben Meter Luft und mehrere Schichten Textil zwischen sich.
Seit vierzehn Tagen sind sie auf dem Kreuzfahrtschiff unterwegs, in New York würden sie von Bord gehen. Stefan und seine Frau besuchen. Das erste Mal seit der Hochzeit. Weinherr fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, denkt an die vielen Streitereien mit seinem Sohn, und an die nun fast schon fünf Jahre andauernde Funkstille zwischen ihnen. Aber er will sich ändern, und vor allem will er nie wieder dieses resignierte Lächeln in Agathes Gesicht sehen.
Er haucht einen Kuss auf ihren Nacken, sie brummt genüsslich und dreht sich zu ihm um.
»Ich liebe dich«, sagt sie leise.
»Ich liebe dich auch.«
»Es ist wirklich wunderschön.« Sie zuckt unbestimmt mit den Schultern. »Das alles. Nachdem ich so lange auf dich gewartet habe.«
»Wenn du willst, fahren wir einfach immer weiter. Die Ozeane sind groß genug«
Agathe kichert, er spürt ihren warmen Atem an seinem Hals. »Das wäre schön«, sagt sie. Dann schweigen sie, das Zimmer ist mittlerweile dunkel, ganz schwach, mehr wie die Ahnung eines Gefühls, spürt er das Vibrieren der Maschinen, die weit unter ihnen kraftvoll arbeiten.
»Hast du auch Hunger?«, fragt er schließlich.
»Mein Gott, und wie.« Sie lacht.
Er steht auf, knipst die kleine Lampe auf der Kommode an. Ihr Blick ist sanft und ein wenig schlaftrunken.
»Zimmerservice?«, fragt er.
»Gute Idee, mein Schatz.«
Sie lächelt liebevoll.

Veith Homberg steht vor der Wand, schüttelt immer wieder den Kopf. Er kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Respekt“, flüstert er.
Hinter sich das Gemurmel und leise Lachen der Mitarbeiter.
Er wendet sich ab, sucht Lukas in der Menge, winkt ihn grinsend heran.
„So schreibt man das“, sagt er in gespielt strengem Tonfall und weist mit dem Daumen hinter sich.
„Ich werde es mir merken.“ Lukas tippt mit Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand an die Stirn.
„Mach mal ein paar Fotos. Ist doch zu lustig.“
„Wird gemacht.“ Lukas holt sein Handy aus der Hosentasche und fotografiert die Wand hinter Homberg. In roter Schrift steht dort über die gesamte Breite des Meetingraums bestimmt hundert Mal das Wort Tetrahymena. Das zweite t ist besonders fett geschrieben.
„Jetzt weißt du, wie man das schreibt“, sagt Homberg, als er an Lukas vorbeigeht. „Weinherr, Weinherr.“ Er klatscht laut lachend in die Hände. „Also echt, hätte ich nicht gedacht.“

 

So, geschafft, dann kann ich mir endlich die anderen Beiträge vornehmen.

@RinaWu
Jetzt ist es doch eine andere Geschichte geworden...

 

Hej @Fraser ,

rundheraus, deine Geschichte ist sehr angenehm zu lesen; du verstehst es zu schreiben, was ja vermutlich nicht neu ist, nur fiel mir partout kein besserer Einstieg ein, denn sowohl vom Thema her, als auch vom Verlauf, war nichts überraschend oder verwunderlich. Die Charaktere vorhersehbar, sogar die mitfühlende und tapfere Ehefrau agierte vorbildlich, weinte sie doch sogar.
Nichts gegen Klischees oder handelsübliche Geschichten. Es mag daran liegen, dass zuhauf und vermehrt Geschichten eintrudeln und ich tatsächlich alle lese und von manchen erwarte ich nichts, von anderen wohl zu viel. Denn ich hätte mir irgendetwas gewünscht. Etwas, was mich nicht an eine landläufige Erzählung über einen sturen, alternden Professor lesen lässt, der geläutert wird, einsichtig und sogar eine herrliche Kreuzfahrt inklusive x-ten Frühling erlebt.
Kann man machen, ist dann aber schon etwas langweilig.

Sie alle kennen Ihnen, die meisten von Ihnen viel besser als ich.

ihn

»Lieber Professor Weinherr, Frau Weinherr. Liebe Kollegen Professoren. Liebe Wissenschaftler und Gäste. Die Lebensleistung unseres ehrenwerten Kollegen, der sich heute in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet, muss ich wohl kaum näher beschreiben. Sie alle kennen Ihnen,

dann folgt die Rede, die ich in dieser Art heaps of times überall zu hören und zu lesen bekomme

»Liebe Kollegen, ihr wisst, ich bin kein Mann großer Worte. Was kann ich auch mehr sagen, als, dass ich glücklich bin? Glücklich und dankbar. Darüber, die Möglichkeit gehabt zu haben, hier wirken zu dürfen. Es waren hervorragende Jahre,

same

Beim anschließenden Umtrunk wurde Weinherr nicht müde, jedem seiner Gesprächspartner gegenüber zu wiederholen, wie sehr er sich doch auf seinen Ruhestand freuen würde.

jap

Das Schlimmste für Weinherr war die fehlende Struktur.

Struktur und Arbeit. Arbeit und Struktur. Essentiell für jemanden, der zig Jahre katalogisiert. Und an dieser Stelle hatte ich dann eine leise Hoffnung gepflegt, der Herr Professor käme zu Verstand, denn der Ruhestand nicht unverhofft und manch einer bereitet sich ebenso strukturiert darauf vor. Nicht so Herr Weinherr und ich dachte, nun kommt’s aber. Weinherr eskaliert.
Aber nein. Anhand meiner Empathie kannst du sehen, lieber Fraser, dass ich voll drin war, trotz der Längen und es einfach nicht glauben wollte, wie es verlief.

Ein Leseeindruck und freundlicher Gruß sowie viel Erfolg bei der Challenge, Kanji

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Fraser,

eine routiniert geschriebene Geschichte über ein Altersproblem: das Ausscheiden aus dem Berufsleben. Als Prota hast du einen Professor gewählt, der in der Attitüde eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts sich nicht von seinem Lebenswerk trennen kann. Ihm zur Seite steht eine ebenso in einem vergangenen Rollenbild verhaftete Ehefrau, die ihn auf konventionelle Weise dazu bringt, schließlich den "Ruhestand" durch Reisen erträglich zu machen.

Du hast mit "Humor" getaggt. Tatsächlich wäre für mich das Szenario erträglicher gewesen, wenn du mit etwas mehr Schärfe den lebenslangen Egoismus deines Protas betrachtet hättest. So gleitet für mich der Schluss mit der süßlichen Szene in der Schiffskabine hart am Kitsch à la Pilcher vorbei.

Das klingt hart, ich weiß. Dabei hast du alle Ingredenzien, um den Plot etwas rasanter zu gestalten, z. B. wie Loriot in "Pappa ante portas", wo der Ruheständler im Haushalt allerlei Unheil anrichtet. Denn es besteht ja keine Notwendigkeit, dass der Herr Professor seine Frau weiterhin den Haushalt machen lässt, während er sich zu Tode langweilt. Und wenn er schon nicht auf Anerkennung durch die Öffentlichkeit verzichteten kann, so gibt es ganz großartige Aufgaben im "Ehrenamt", da könnte er sich durchaus die Meriten verdienen, dass dann eine Parkbank mit seinem Namensschildchen versehen wird.

Wirklich witzig wäre natürlich ein Rollentausch mit seiner Frau, die nach dem Motto "Jetzt bin ich dran" eine späte Karriere startet, z. B. als Vorleserin in Schulen am nationalen Vorlesetag, oder am besten selbst anfängt, Kurzgeschichten zu schreiben und sie in einem ordentlichen Forum zu veröffentlichen. Ich wüsste da eins. Selbstverständlich ist sie eine, die sich mit dem Computer auskennt und ihn schon seit langem benutzt für ihre vielen E-Mails.

Nein, es ist keine Kritik am Text, der gut geschrieben ist und in seiner Länge (vor allem bei der Laudatio) der Egozentrik des Professors Rechnung trägt.

Die Frage "Was dann?" stellt sich für mich erst nach dieser Seereise oder soll ich mir vorstellen, dass die beiden auf Weltreise gegangen sind? "Segel setzen" ins Ungewisse? Na dann, das wäre eine echte Überraschung.

Eins ist klar, du kennst den universitären Institutsbetrieb ziemlich gut. Diese Art von Professoren ist aber ein Auslaufmodell oder trauerst du dem nach?

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hoppela, 43.681 Zeichen – wenn mich das System nicht betrügt - bedeuten ca. 24 Seiten Standardmanuskript à 60 Zeichen/Zeile und 30 Zeilen/Seite unter Courier (New) 12 pt., der schönen alten Schreibmaschinen Type – vor allem aber Sitzfleisch, Konzentration, Geduld und Ausdauer, bevor Segel gesetzt werden – und selbst wenn es eine Kreuzfahrt ist,

lieber Fraser,

und schließlich hat sich der Aufwand gelohnt, auch ohne dass einer meiner Vornamen

… Professor ... ich meine, Friedrich, das haben Sie sich wirklich verdient.«
genannt werde (wir müssen uns nicht Siezen). Eine Geschichte über‘s Abschied nehmen, das jeden trifft, auf ganzer Linie, und das Loslassen lernen, das eben nicht jeder von sich aus kann. Natürlich wünschte ich mir, dass ein Zoologe für seine große Fahrt keine dieser Dreckschleudern von kleinstädtischen Kreuzfahrern gewählt hätte.

Aber es gibt noch einigen Bedarf … wegen der Länge einfach der Reihe nach – und da fällt als erstes Dein Hang zu verschränkten Armen auf, was wohl auf der Brust gelingen mag, aber auf dem Rücken, wie hier behauptet

Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stand er davor, …
, eher nicht - aber ich bin auch nicht mehr so gelenkig wie ein Zirkuspferd.

Hier ist das erste Komma nachzutragen

»Da kommen viele Erinnerungen hoch[,] kann ich mir vorstellen.«
Selbstverständlich täte es auch - vllt. sogar eindringlicher - ein Gedankenstrich.

Alle Achtung. Umso mehr ….
wirkt nach mehr als bloßem Ausrufesatz „alle Achtung!“ (kommt öfters vor, ob ich jeden Fall jetzt aufführ, kann ich nicht garantieren)

Hobbies.
Engl. Schreibung, eingedeutscht „Hobbys“

Bitte setzen Sie sich doch.«
Bitte(!) klingt auch mehr als nach bloßer Aussage ...

»Lieber Professor Weinherr, Frau Weinherr. Liebe Kollegen Professoren. Liebe Wissenschaftler …
Ist die Frau W. Nicht so eine liebe? „…, liebe Frau W. ...“
Umgekehrt wird Plural daraus, „liebe Frau Weinherr, Herr Professor und Wissenschaftler ...“

erste echte Flüchtigkeit

Sie alle kennen Ihnen, die …

..., es folgten Jahrzehnte exzellenter Forschung an diesem Standort, in denen sich Professor Weinherr auch immer dadurch ausgezeichnet hat, …
Bisschen Möbelrücken „es folgten an diesem Standort Jahrzehnte exzellenter Forschung, in denen sich ...“ und die Präposition passt wieder (sonst besser "an dem ...")

In folgenden Fällen musstu richtig aufpassen

Aber was wohl am Schwersten wiegt, …
am schwersten, einfacher Superlativ, Ähnliches geschieht weiter unten. Adjektive verbergen oft, dass sie's tatsächlich in sich haben ...

..., haben Sie es sich verdient, auch wieder an sich zu denken.
Warum das 1. „sich“ - ist doch kein Festival der Pronomen! Weg mit ihm! Das "es" wird nachher noch eine unglückliche Rolle spielen!

»Damit also Applaus für Professor Friedrich Weinherr!«
Gebietet nicht die Höflichkeit den „Herrn“ zu gebrauchen?

»... Was kann ich auch mehr sagen, als, dass ich glücklich bin?
Komma zwischen „als dass“ weg!

Beim anschließenden Umtrunk wurde Weinherr nicht müde, jedem seiner Gesprächspartner gegenüber zu wiederholen, wie sehr er sich doch auf seinen Ruhestand freuen würde. Dass er so viele Pläne habe, ihm bestimmt nicht langweilig würde, und überhaupt, das Leben ja weiterginge.
Warum „würde“, wenn zu den Plänen Konjunktiv I verwendet wird, das zudem noch den an sich paradoxen Vorteil hat, konsequent verwendet wie der Imperativ klingt, „wie sehr er sich doch auf seinen Ruhestand freue. Dass er so viele Pläne habe, ihm bestimmt nicht langweilig werde, und überhaupt, das Leben ja weitergehe.“

Er verbrachte die Tage in Strickjacke und Haushose entweder in seinem Lesesessel und starrte an die Wand vor ihm oder er sortierte …
Wohin sonst – hinter sich wäre ausgesprochen erwähnenswert ...

..., an einem wissenschaftlichen Buch zu arbeiten, seine Korrespondenz mit den internationalen Kollegen zu erledigen, oder in dem Stapel an neuen Veröffentlichungen zu lesen, der ihn in jedes Urlaubsziel begleitete.
Weg mit dem Komma vorm „oder“, das ganz hervorragend ein Komma ersetzt

Ab und zu versuchte sie, ihn dazu zu bewegen, mit ihr …
Ich verstehe, dass es nicht leicht ist loszulassen.«
Wie‘s da steht, Komma vorm Infinitiv, weg mit dem „es“ - das ein zwotes, eigentlich entbehrliches Subjekt ist - "es werde Licht. Und es ward Licht", bei Luther, bei Rosenzweig/Buber "Licht werde. Licht ward." -, und schon bleibt‘s bei einem Komma „Ich verstehe, dass loszulassen nicht leicht ist.“

Grummelnd wendete er den Wagen und suchte sich einen freien Platz zwischen den billigen, abgefahrenen Autos der Studenten und graduierten Wissenschaftlern.
Suchte er einen Platz für "sich" oder doch eher "fürs Auto"? Weg mit dem "sich"

»Sie meinen, dass Sie die Räumlichkeiten hier nutzen werden.«
Klingt nach mehr als einer Aussage ...

Und ich glaube, wir sind noch lange nicht soweit, die Natur, die Welt zu kennen …
„So weit“, auseinander (weiter unten gelingt‘s), nur als Konjunktion des Typs „soweit ich weiß“ zusammen.
Bei Unsicherheit, immer auseinander, und die Fehlerquote sinkt von 0,9 auf 0,1
Ihnen war beiden klar, dass Homberg es damit nicht ernst meinte.
„Beiden war klar ...“
Ihr Gesicht hatte immer noch etwas Mädchenhaftes, …
„mädchenhaft“, Adjektiv!

Er ahnte, nein, wusste, dass sie hoffte, er würde die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.
Warum nicht ein schlichtes Futur I? Oder ist er sich unsicher, obwohl er's weiß????

Notfalls gehe ich bis zum Präsidenten. So nicht.«
So nicht !, behaupt ich mal.

..., klopfte bestimmt gegen das lackierte Holz und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein.
Säähr schwache Klammer, besser „und trat ein, ohne zu klopfen.“

»In seine Schranken verweisen? Wie meinen Sie das.«
Fürchtestu ein zwotes Fragezeichen?

Seine geliebten Bücher hatte er, soweit es ging, ...
das ist keine Konjunktion ... s. o.

Der schmale Heizkörper unter dem Fenster vermochte den Frost nicht draußen zu halten.
Wieder ne unnötige schwache Klammer, die das Komma zum Infinitivsatz auch nicht verhindern kann, besser „Der schmale Heizkörper unter dem Fenster vermochte nicht, den Frost draußen zu halten.“

Und natürlich hatte Agathe Recht, er selbst war doch zu Beginn seiner Karriere vergleichbar ehrgeizig gewesen und hatte genauso herabgesehen auf die alte Garde an Professoren.
Jetzt wird's richtig kompliziet! Wir haben nur zwo Zeiten, die einstellig sind, das sehr verquirlte (aber auch schräge) Futur II ist sogar drei- und mehrstellig. Aber alles lässt sich - wie das historische Futur "ich komm bald", statt "ich werde bald kommen" - auf einstellige Zeiten resultieren, wie etwa der „Beginn der Karriere“, denn der verweist eigentlich schon auf die Vorzeitigkeit, dass auf das „gewese/n“ und „hatte“ verzichtet werden kann, also „Und natürlich hatte Agathe Recht, er selbst war doch zu Beginn seiner Karriere vergleichbar ehrgeizig gewesen und sah genauso herab auf die alte Garde an Professoren.“
Üben wir gleich noch einmal ...

Wenn ihr nur nich so weit weg wärt.
Siehstu, da klappt‘s mit dem so weit – aber es hat ein t gekostet ... Bisher spricht ja niemand hier Dialekt, Soziolekt, Slang

Er war jetzt der Letzte der fabelhaften Fünf. Der nächste Gedanke ließ ihn seltsamerweise lächeln. Friedrich war immer der Jüngste ihrer Gruppe gewesen. Jetzt, wo sie alle tot waren, war er mit einem Mal in gewisser Weise der Älteste von ihnen.
Alle substantivierten Adjektive musstu zurücknehmen und mit Minuskel versehen, alle sind nur Attribute der Fab Five ... der jüngste der fünf und deren ältester

Hier kannstu auch auf zweistellige Zeiten verzichten, denn einerseits werden die Rücken noch beschrieben sein usw.

Dort drüben auf dem Tisch lagen noch die Fotoalben, die er gestern aus dem Schrank geholt hatte. Weinherr studierte die Jahreszahlen, die in der ordentlichen Schrift seiner Frau auf die Albenrücken notiert worden waren. 1971. Da war er vierundzwanzig Jahre alt gewesen. Er blätterte Seite um Seite um, dann fand er das Bild. Der Biergarten in Göttingen. Unter der riesigen Kastanie. Die fabelhaften Fünf. Sie hatten, ein jeder in seiner Disziplin, der Welt der Wissenschaft einen kleinen, aber unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Paul, Moritz, Reinhard, Erich und er. Krebs, Herzinfarkt, noch mal Krebs, kurze Krankheit. Blieb nur noch er selbst. Paul, Reinhard und Erich waren damals schon verheiratet gewesen, hatten den Arm um ihre Frauen gelegt, alle strahlten in die Kamera, so voller Energie, voller Lust auf das Leben. Er hatte kurze Zeit später Agathe kennengelernt. Reinhard war ein Jahr später unter die Haube gekommen.
Im Grunde lässt sich der Absatz noch weiter zusammendampfen. Versuch_s mal selber ("gestern" wäre der Startpunkt)

Versuch überhaupt mal selber, die Partizipienreiterei einzuschränken! Und auch hier

..., dass es irgendwann anders werden, das Leben zu zweit beginnen würde.
Den werden-würde Verbund zu knacken ... Das Futur ist an sich offen genug (wer kann schon sagen, was in fünf Minuten sein wird - außer mir, das Bier steht auf dem Balkon. Und dann versuch‘s am Rest weiter … so weit Du kannst und vor allem, Dich traust!

..., wann sie zuletzt so zusammen gelegen haben.
„zusammenliegen“ auch als Partizip ein Wort!
Warum hier 2 x Luft?
Ohne einen halben Meter Luft Luft und mehrere Schichten Textil zwischen sich.

Er haucht einen Kuss auf ihren Nacken, sie brummt genießerisch und dreht sich zu ihm um.
Nicht falsch, aber die Adjektivierung des Genusses geht auch „genüsslich“, durchaus eleganter als die Adjektivierung (das schaffen schon die Partizipien) des Verbes

Getz setz ma' d'e Segel, daddet wat wird!
Gute Fahrt und dabei Neil 4 ever Youngs Shanty "Song X" mit Pearl Jam hören. Vergiss Santiago und andere, vor der Zeit ergreisten Männer.
Der Balkon ruft!

Tschüss, ahoi und bis bald

Het windje

 

Hallo @Fräser,
angenehm zu lesen, dein Text, trotz der Länge. Das Szenenbild ganz am Anfang mit dem Schreibtisch gefällt mit besonders, schön, wie du alle Sinne ansprichst und mich als Leserin mit in das Arbeitszimmer nimmst.

Deinen Prof kann ich gut verstehen, aber die Figur seiner Frau hat mich noch mehr interessiert. Es gibt da so ein Lied von Marianne Faithful, 'The ballad of Lucy Jordan', daran musste ich unwillkürlich denken. Hier ist es die Frau, die aus lauter Langeweile durchdreht, derweil ihr Mann arbeiten geht.

So ein bisschen mehr Verrücktheit hätte ich nicht dem Herrn Professor, aber doch der Geschichte gewünscht. Zumal er, also der Prof, im Vorfeld eigentlich vielversprechende Ansätze zeigt. Das wäre lustig, erst ist Frau Professor, dann Herr Professor zuständig für die Exzentrik. Oder beide gemeinsam.

Aber natürlich gönne ich ihnen auch eine ruhige Fahrt mit ordentlich Wasser unter dem Kiel. ;)
Aber ... es könnte auch in einem Roman enden. Oder so.

Viele Grüße

Willi

 

Hallo @Fraser,

du hast dir viel Zeit genommen für deine Geschichte, du erzählst gemächlich, ruhig, leuchtest jedes Detail von Weinherrs Misere aus. Normalerweise lese ich solche Geschichten selten, ich brauche dafür Geduld und die richtige Stimmung. Das hat heute zusammengepasst und ich muss dir sagen, ich mag es sehr, wie du erzählst.
Das Thema wäre jetzt nicht eines, nach dem ich mir ein Buch aussuchen würde, um es zu kaufen, aber ich habe das gerne gelesen. Das lag vor allem daran, dass du sehr geschmeidig erzählst - und ich habe Respekt davor, wieviel Zeit du dir für das ganze Szenario nimmst. Ich habe oft das Gefühl (auch bei mir selbst), dass es oft um ein gewisses Tempo geht, dass die Geduld für Texte, die ein wenig gemächlicher, ich sage mal mehr "oldschool" daherkommen, weniger wird. Ich bemerke das an mir selbst auch. Wenn ich dann aber mal wieder einen Text lese, der drauf pfeift, jetzt fix und spannend und prägnant die Infos zum Leser zu bringen, sondern sich einfach mal zurücklehnt und den Figuren Zeit lässt, dann freue ich mich darüber.

Mein Lieblingssatz war übrigens der hier:

Die Schweißflecken auf dem hellblauen Hemdstoff schienen Weinherr zu mustern wie die Augen eines Tieres.
Herrlich!

Ich denke, an manchen Stellen würden ein paar Kürzungen deiner Geschichte dennoch gut tun. Beispielsweise gleich am Anfang würde ich überlegen, ob du die Rede, die zu Ehren von Weinherr gehalten wird, wirklich ausformulieren musst. Das empfand ich tatsächlich als langatmig. Viel dichter fand ich den Text in den kurzen Szenen mit seiner Frau. Das hast du sehr gut beobachtet und sensibel erzählt, vor allem was Agathe betrifft.

Klar, es gibt hier die klassischen Rollen. Mann verwirklicht sich im Job, Frau steckt zurück, freut sich auf den gemeinsamen Ruhestand, wird enttäuscht, harrt wieder aus. Ich hätte es gar nicht verkehrt gefunden, wenn Agathe einfach komplett ausgeflippt wäre. Aber so hat die Geschichte ein Happy End und da ich gerade eh in vorweihnachtlicher, gemütlicher Stimmung bin, finde ich das auch okay. Und Fakt ist ja, dass es diese Konstellationen gibt, das ist ja jetzt kein reines Klischee, sondern durchaus Gang und Gäbe.

Viele Grüße
RinaWu

 

Hi @Fraser

Ich gebe zu, dass ich die Geschichte irgendwie gern gelesen habe. Sie floss so leicht und angenehm dahin wie eine Meeresbrise auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffes. Ich konnte den Fährnissen des Emeritus folgen, den Winzigstkonflikten, die sich aus der Pensionierung ergeben, dem Verlust des angestammten Platzes im Institut, dem grausamen Kellerdasein, dem gemütlichen Heim, der Frau, der Lebensdienerin, die ihm seit dreißig Jahren (oder waren es mehr?) das Essen serviert. Und am Ende wird alles gut, weiche Haut, Salzgeschmack, der Versuch, ein nachhaltigeres Restleben zu führen. Das Ganze plätschert dahin wie wohltemperiertes Badewasser.

Wenn ich jedoch den Anspruch erheb, Literatur lesen zu wollen, etwas, das mich nicht nur an der Oberfläche berührt, etwas über Charaktere erfahren will, die nicht bloß ihr Maskenklischeegesicht zeigen, dann fällt der Text leider durch. Da ist ein Kerl, der in Narzissmus und Selbstmitleid verfällt, die Umwelt unter der Brille seines gewaltigen Ichs betrachtet, am Ende aufgibt, sich ins Private zurückzieht, weil er keine andere Wahl hat. Die Brüche, die Zweifel, die Dämonen, die er mit sich trägt, zeigt der Text nicht, werden bestenfalls in Nebensätzen angedeutet: die Herausforderungen moderner Wissenschaft in der Witzfigur seines Nachfolgers, die Ehefrau als Dulderin, immerhin schön (warum eigentlich?), das Verhältnis zum Sohn, die fabulous five. Darüber mehr zu erfahren, wäre spannend und ich würde gerne darüber lesen.


Der alte Mann wandte sich vom trüben Novemberwetter hinter den alten Doppelfenstern ab und bedachte Veith Homberg mit einem kurzen Nicken. Der Mann hatte ein Talent für ungünstige Momente.
aha, warum ungünstige Momente?

»Liebe Kollegen, ihr wisst, ich bin kein Mann großer Worte.
kann ich kaum glauben, als Prof muss der doch eine Menge geriet haben, außerdem ein Topos für den Beginn einer langen rede.

Weinherr konnte sich auch nicht erinnern, wann er das letzte Mal länger als drei oder vier Tage rund um die Uhr zu Hause gewesen war. Er hatte eigentlich immer irgendwelche Termine gehabt, selbst zwischen den Semestern.
der Arme!

Oder Agathe und er waren – selten genug, seine Frau musste ihn jedes Mal dazu drängen – in den Urlaub gefahren. Norderney. Sylt. Einmal auch nach Südfrankreich. Zwei, drei Mal Italien. Dann immer wieder Norderney.
O je, so Professoren können sich doch auch schon früher Kreuffahttouren in die Antarktis leisten, außerdem die ganzen Kongresse weltweit mit den Ehefrauen als Entourage

welchen Mann ihr die Universität nach fast vierzig Jahren als Professor im Ruhestand nach Hause geschickt hatte. Sie war nett und zuvorkommend, brachte ihm Tee und Kekse, kochte ihm seine Lieblingsspeisen.
sag ich doch, sie war seine Hausangestellte

der große Garten war nur noch als Schattierungen von Grau zu erkennen.
komische Formulierung das mit der Schattierung

»Hast du auch Hunger?«, fragt er schließlich.
»Mein Gott, und wie.« Sie lacht.
hübsche Schlusssequenz:Pfeif:

Liebe Spätnovembersonnenhoffnungsgrüße
Isegrims

 

Hallo @Kanji
Herrje, der erste Kommentar und gleich einigermaßen ernüchternd. Und wenn ich so durch die anderen Beiträge scrolle, scheint sich das fortzusetzen. Na gut, so sei es...

Ich danke dir natürlich dennoch vielmals für deinen Kommentar, aus dem ich zumindest die positive Erkenntnis gewinnen mag, dass du ein gewisses Schreibtalent bei mir vermutest.

Tja, was kann ich weiter sagen? Vielleicht, dass ich nicht die Absicht hatte, einen skurillen oder moralischen Text zu schreiben, sondern, dass es mir eben darum ging:

über einen sturen, alternden Professor, der geläutert wird

Du findest darin zu viele Klischees, das gesamte Personal ist vorhersehbar. Kurzum: langweilig.
Die Bezeichnung Klischee ist ja so etwas wie Todesurteil, wenn es um Literatur geht. Es muss ja (heutzutage) immer irgendwo das Unerwartete lauern, das Extrem. Ich teile diese Auffassung nicht. Und ich habe auch keine Furcht vor Happy Ends. Am Ende darf ruhig auch mal "alles gut sein".

Ich akzeptiere, dass ich dich mit der Geschichte nicht erreichen konnte. Vielleicht ja das nächste Mal.

Anhand meiner Empathie kannst du sehen, lieber Fraser, dass ich voll drin war, trotz der Längen

Darauf lässt sich ja aufbauen.

Danke dir nochmals fürs Lesen und beste Grüße,
Fraser

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Hallo @wieselmaus
Auch dir ein herzliches Danke fürs Lesen.

eine routiniert geschriebene Geschichte über ein Altersproblem: das Ausscheiden aus dem Berufsleben.
Hier war noch alles gut ;-)

der in der Attitüde eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts sich nicht von seinem Lebenswerk trennen kann.
Sicher nicht nur eine Attitüde aus dem vorletzten Jahrhundert, haben doch viele Menschen in Führungspositionen Probleme damit loszulassen.

Ihm zur Seite steht eine ebenso in einem vergangenen Rollenbild verhaftete Ehefrau,
Vergangen vielleicht im Sinne der political correctness oder so, aber in der Realität nicht gerade selten anzutreffen

die ihn auf konventionelle Weise dazu bringt, schließlich den "Ruhestand" durch Reisen erträglich zu machen.
Es ist eigentlich ihr Mann, der diese Kreuzfahrt arrangiert. Er trifft eine Entscheidung. Nämlich die, sich wieder seiner Frau und zugleich seinem Sohn anzunähern. Natürlich könnten sie auch mit dem Flugzeug übersetzen, aber er sieht die Zeit an Bord als Möglichkeit, wieder Intimität (nicht nur körperlich) zu Agathe aufzubauen.

So gleitet für mich der Schluss mit der süßlichen Szene in der Schiffskabine hart am Kitsch à la Pilcher vorbei.
Ich habe zwar noch nie etwas von Fr Pilcher gelesen, aber der Fast-Vergleich damit ist ja wohl landläufig ein ähnlich schwerwiegendes Urteil wie "Klischee". Man kann es auch anders sehen, und sich für die beiden freuen.

Dabei hast du alle Ingredenzien, um den Plot etwas rasanter zu gestalten, z. B. wie Loriot in "Pappa ante portas", wo der Ruheständler im Haushalt allerlei Unheil anrichtet. Denn es besteht ja keine Notwendigkeit, dass der Herr Professor seine Frau weiterhin den Haushalt machen lässt, während er sich zu Tode langweilt.
Hätte ich machen können, war aber nicht meine Absicht. Schau mal, der Weinherr ist so mit sich selbst beschäftigt, der findet da nicht heraus. Er kann einfach nicht anders. Die Gedanken kreisen immer um dasselbe Thema. Natürlich aus Egozentrik, aber auch der Furcht, alles, was er in seinem akademischen Leben erreicht hat, könnte in Vergessenheit geraten.

Wirklich witzig wäre natürlich ein Rollentausch mit seiner Frau, die nach dem Motto "Jetzt bin ich dran" eine späte Karriere startet,
Ja, sicher. Warum nicht? Aber ich habe die Geschichte bewusst auf ihn konzentriert. Ich wollte ihn in seinem Dilemma zeigen, in seinem störrischen Aufbäumen, seinem Ankämpfen gegen das Vergessen, Abschieben. Die Ungeheuerlichkeit, dass seine Person, Prof Dr Dr h.c. mult., von gestern ist. Und der Brief, die Nachricht vom Tod seines Freundes, ist so etwas wie ein Umkehrpunkt. Er wird nachdenklich, und ja, findet den Grund, sich zu ändern. Es geht hier also (vor allem) um ihn.

Nein, es ist keine Kritik am Text, der gut geschrieben
Danke.

Die Frage "Was dann?" stellt sich für mich erst nach dieser Seereise oder soll ich mir vorstellen, dass die beiden auf Weltreise gegangen sind? "Segel setzen" ins Ungewisse? Na dann, das wäre eine echte Überraschung.
Erst mal geht es nur nach Amerika. Aber wer weiß. Er ist ja offen dafür, bereit, sein/ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. In der Tat, Segel zu setzen. Das Was dann? (Challenge-Motto) hatte ich aber eher in der Frage gesehen: Was passiert, wenn die Karriere vorbei ist, andere deinen Platz einnehmen. Was macht das mit dir, deinem Ego?

Eins ist klar, du kennst den universitären Institutsbetrieb ziemlich gut. Diese Art von Professoren ist aber ein Auslaufmodell oder trauerst du dem nach?
Ach, ich habe Professoren erlebt, die dem Typ Weinherr ganz gut entsprochen haben von ihrer Seniorisität. Ich muss sagen, ich habe oft in positiver Weise zu ihnen aufgesehen. Und Egozentrik und Narzissmus ist heute ebenso verbeitet wir damals. Vielleicht sogar mehr, denn der Konkurrenzdruck ist ja viel stärker geworden.

Liebe wieselmaus, ich danke dir für deinen ehrlichen Kommentar.

Beste Grüße,
Fraser.
---------------

Wird fortgesetzt.

 

Hallo @Friedrichard
Stell dir mich sprachlos vor, mit offenem Mund auf den Bildschirm starrend.
Du hast dir ja wirklich viel Mühe gegeben, Wahnsinn. Und mir einen Haufen Hausaufgaben. Ein wenig muss ich da an die Schule zurückdenken, obwohl ich fast glaube, dass keiner meiner Lehrer so genau hingeschaut hätte wie du ;)

Hoppela, 43.681 Zeichen
Und du konterst locker mit knapp 8000 Zeichen. Respekt.

vor allem aber Sitzfleisch, Konzentration, Geduld und Ausdauer, bevor Segel gesetzt werden
Rechne ich dir hoch an.

und schließlich hat sich der Aufwand gelohnt,
Da bin ich aber froh.

Natürlich wünschte ich mir, dass ein Zoologe für seine große Fahrt keine dieser Dreckschleudern von kleinstädtischen Kreuzfahrern gewählt hätte.
:D

Aber es gibt noch einigen Bedarf
Ab hier kann ich nur sagen: Ich werde mir alles ansehen.
Und mich fragen, was der liebe Friedel denn so in seinem Leben getrieben hat, um solch ein Verständnis der deutschen Sprache zu erlangen. Lehrer, Journalist, gar Germanistikstudent?

Der Balkon ruft!
Nachträglich noch ein Prosit von mir. Aber Balkon im November?

Vielen, lieben Dank.

Beste Grüße,
Fraser

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Hallo @Willi
Dir auch ein herzliches Danke fürs Reinschauen und Lesen.

angenehm zu lesen, dein Text, trotz der Länge.
Hier muss ich ja mal nachhaken. Wieso trotz der Länge? Erwartest du von längeren Texten kein angenehmes Leseerlebnis?

Deinen Prof kann ich gut verstehen, aber die Figur seiner Frau hat mich noch mehr interessiert.
Ja, das klang in vorherigen Kommentaren schon an. Ich muss zugeben, dass mich die Frau weniger interessiert hat. Nicht, dass sie mir egal wäre, aber es ging mir vor allem darum, ihn zu beleuchten.

So ein bisschen mehr Verrücktheit hätte ich nicht dem Herrn Professor, aber doch der Geschichte gewünscht.
Ich verstehe deinen Einwand, und kann mir auch einen solchen Verlauf vorstellen. Ich wollte aber keine verrückte Geschichte schreiben. Zumal der Prof für mich eher nicht dazu neigt. Im Grunde ist er ein korrekter Mensch, der viel auf seine von ihm angenommene Autorität setzt und einfach nicht verstehen kann, dass es letztendlich doch nicht so ist. Fassungslos muss er mit ansehen, wie er Stück für Stück abgesägt, zurückgelassen wird. Er kämpft noch, aber schließlich (auch ausgelöst durch den Brief, der einen Wendepunkt darstellen sollte) besinnt er sich eines besseren und wendet sich seinem Privatleben zu. Versteht, dass es jetzt darauf ankommt. Wahrscheinlich nicht ohne Schmerz. Aber er trifft eine Entscheidung und steht dazu.

Aber natürlich gönne ich ihnen auch eine ruhige Fahrt mit ordentlich Wasser unter dem Kiel. ;)
Ich auch.

Aber ... es könnte auch in einem Roman enden.
Kommt zu den fünf, sechs anderen Ideen, für die ich keine Zeit habe. ;)

Vielen Dank für deinen Kommentar!

Beste Grüße,
Fraser
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Hallo @RinaWu
Schön, dass du vorbeischaust.

du hast dir viel Zeit genommen für deine Geschichte, du erzählst gemächlich, ruhig, leuchtest jedes Detail von Weinherrs Misere aus. Normalerweise lese ich solche Geschichten selten, ich brauche dafür Geduld und die richtige Stimmung. Das hat heute zusammengepasst und ich muss dir sagen, ich mag es sehr, wie du erzählst.
Ich freue mich, dass dich die Länge nicht abgeschreckt hat. Und dabei habe ich schon gekürzt, hatte noch viele Szenen im Kopf. Möglicherweise liegt mir das KG-Format nicht (immer) so richtig. Bzw. der Trend zum "Verdichten".

Das lag vor allem daran, dass du sehr geschmeidig erzählst
Danke dafür.

Ich habe oft das Gefühl (auch bei mir selbst), dass es oft um ein gewisses Tempo geht, dass die Geduld für Texte, die ein wenig gemächlicher, ich sage mal mehr "oldschool" daherkommen, weniger wird. Ich bemerke das an mir selbst auch. Wenn ich dann aber mal wieder einen Text lese, der drauf pfeift, jetzt fix und spannend und prägnant die Infos zum Leser zu bringen, sondern sich einfach mal zurücklehnt und den Figuren Zeit lässt, dann freue ich mich darüber.
Das ist es, was ich oben meinte. Und du benutzt einen sehr treffenden Ausduck dafür: old school. Vielleicht ist der Grund, dass wir uns daran gewöhnt haben, immer schneller immer mehr zu konsumieren. Man muss ja fast froh sein, auf Sätze zu stoßen, die mal über drei oder vier Zeilen gehen. Ich meine, ich lese auch gern Sachen à la Jochen Rausch. Aber dann brauche ich auch Autoren wie David Mitchell, die noch richtig fabulieren und intelligent ausformulieren können.

Ich denke, an manchen Stellen würden ein paar Kürzungen deiner Geschichte dennoch gut tun. Beispielsweise gleich am Anfang würde ich überlegen, ob du die Rede, die zu Ehren von Weinherr gehalten wird, wirklich ausformulieren musst. Das empfand ich tatsächlich als langatmig.
Werde ich mir anschauen. Durch die Rede wollte ich durch die Blume das Spannungsverhältnis vermitteln, in dem Weinherr mittlerweile (unwissenderweise?) steckt. Der Dekan, der nicht kommt, aber sich natürlich vielmals entschuldigen lässt. Die übertrieben salbungsvolle Art von Homberg, die ja nah am Sarkasmus ist. Gut, kam vielleicht nicht rüber wie gewollt...

Klar, es gibt hier die klassischen Rollen. Mann verwirklicht sich im Job, Frau steckt zurück, freut sich auf den gemeinsamen Ruhestand, wird enttäuscht, harrt wieder aus.
Ich weiß, ich weiß. Nichts ist langweiliger als die Wirklichkeit. ;)

Aber so hat die Geschichte ein Happy End
Wie schön, oder? Und so anti-Mainstream.:D

Und Fakt ist ja, dass es diese Konstellationen gibt, das ist ja jetzt kein reines Klischee, sondern durchaus Gang und Gäbe.
Absolut, also warum nicht darüber schreiben?

Nochmals vielen Dank für deinen Kommentar.

Beste Grüße,
Fraser

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Wird fortgesetzt

 

Und mich fragen, was der liebe Friedel denn so in seinem Leben getrieben hat, um solch ein Verständnis der deutschen Sprache zu erlangen. Lehrer, Journalist, gar Germanistikstudent?
Der Balkon ruft!
Nachträglich noch ein Prosit von mir. Aber Balkon im November?

Will er Dir gerne verraten.

lieber Fraser!

a) Realschüler, Klassenleher wollte, dass die Ältern mich auf Lehramt (wurde sehr konkret: Deutsch und Geschichte) machen ließen. Friedel wollte sich nie mit seinesgleichen herumärgern, lieber Kunst, bevorzugt Grafik - D`dorf, Beuys, für Ältern brotlose Kunst, erst Lehre, wurden zwo: der Neigung nach Chemielaborant, dem mathematischen Verständnis nach Industriekfm., Studium Wirtschaftswissenschaften, gleichzeitig bis zum Rauswurf im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (darüber schreib ich - fast unglaublich - immer noch), Krankenhaus Dopik und Kostenrechnung eingerichtet b) Pfadfinder + Turnverein, Dutschkist, ersten Lehrlingsstreik mitorganisiert,dadurch IGM-Karriere versaut, ÖTV im Kreis und Bezirksvorstand, Presbyter usw. Auf jeden Fall kommt keine Langeweile auf)
b) solange nicht wesentlich unter 5 Grad Celsius steht die Kiste auf'm Balkon, sonst im Keller)

Bis dann

Friedel

 

Hi @Fraser,

ich hatte deine Geschichte schon vor ein paar Tagen angefangen, dann aufgegeben, und ein paar Kommentare gelesen. Irgendwie hatte ich gehofft, du würdest noch etwas straffen. Bisher ist nichts passiert, ich versuch es trotzdem noch mal und komme wieder nicht sehr weit.
Das liegt nicht an deinem Schreibstil, den finde ich angenehm. Aber der Inhalt ... wie soll ich sagen, das ist mir zu echt. Ich kann mir vorstellen, dass es den Herrn Prof. Weinherr gibt und du von seinem Leben erzählst. Aber da passiert nichts spannendes, nichts Unvorhergesehenes.
Du hättest auch an der Stelle beginnen können, an der der Prof zu Hause sitzt und sich langweilt. Man hätte immer noch alles verstanden. Weil es eben genauso immer wieder passiert.
Wenn wenigstens der Herr Weinherr etwas an sich hätte, das mich neugierig macht. Aber leider bleibt er mir ziemlich fern.

Ich denke, eine ordentliche Straffung würde der Geschichte gut tun. Und der Herr Weinstein könnte ein Geheimnis vertragen, etwas das sich neben den Pensionierungsproblemen durch die Geschichte zieht.

Liebe Grüße,
Nichtgeburtstagskind

 

Hallo @Isegrims
Vielen Dank fürs Lesen und deinen Kommentar. Und verzeih' bitte, dass ich erst jetzt darauf antworte. Bin ein wenig im Verzug, ich weiß.

Ich gebe zu, dass ich die Geschichte irgendwie gern gelesen habe.
Das freut mich, ganz ehrlich. Auch wenn ich später lese, dass sie deinem Anspruch an Literatur nicht ganz gerecht wird. Das "irgendwie" hinterlässt bei mir allerdings den Eindruck, dass du dir das nicht so richtig eingestehen willst. Oder interpretiere ich da zuviel rein?

Sie floss so leicht und angenehm dahin wie eine Meeresbrise auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffes.
Was meinst du mit leicht? Denn es gibt ja einige Konflikte darin. Ok, keine gebrochenen Nasen, kein Blut, keine Ausraster. Könnte man natürlich so machen, aber für mich steht Weinherrs akademische Welt nicht dafür. Er geht den Dienstweg, beschwert sich. Nervt seine Frau. Ist selbstmitleidig.

den Winzigstkonflikten, die sich aus der Pensionierung ergeben
So siehst du das. Aber für jemanden wie Weinherr sind das existenzielle Konflikte, definiert er sich doch am Ende seines Arbeitslebens vor allem über seinen Status als angesehenen Professor. Über die wissenschaftliche Anerkennung. Wenn das wegbricht und dazu durch die Hand seines Widersachers Homberg noch auf so unverfrorene Weise, dann zerbricht da etwas in ihm. Und selbst die übergeordnete Instanz Dekanat, und Weinherr denkt ja ziemlich hierarchisch, spricht nicht Recht. Also ich sehe da ziemlich viel Konflikt in ihm.

Wenn ich jedoch den Anspruch erheb, Literatur lesen zu wollen, etwas, das mich nicht nur an der Oberfläche berührt, etwas über Charaktere erfahren will, die nicht bloß ihr Maskenklischeegesicht zeigen, dann fällt der Text leider durch. Da ist ein Kerl, der in Narzissmus und Selbstmitleid verfällt, die Umwelt unter der Brille seines gewaltigen Ichs betrachtet, am Ende aufgibt, sich ins Private zurückzieht, weil er keine andere Wahl hat.
Im zweiten Teil hast du doch ganz gut beschrieben, was du angeblich vermisst, nämlich etwas über Charaktere zu erfahren. Narzisssmus, Selbstmitleid, gewaltiges Ego, Kämpfen, Aufgeben, ins Private zurückziehen (ich würde es eher als Einsicht beschreiben, dass es Wichtigeres gibt als diesen sinnlosen Kampf). Da ist doch eine Menge drin.

Die Brüche, die Zweifel, die Dämonen, die er mit sich trägt,
Ich denke, ich verstehe, was du mir sagen willst. Und da kommt das wohltemperierte Badewasser :D ins Spiel. Von der Anlage, der Sprache, der Intensität ist dieser Text vielleicht nicht dafür ausgelegt. Ich gehe noch einmal in mich, ob/wie ich an einigen Stellen das vertiefen könnte.

Deinen weiteren Anmerkungen zum Text habe ich teilweise schon berücksichtigt/angepasst. Danke dafür! Ich bleibe dran...

Vielen Dank noch einmal, Isegrims.

Beste Grüße,
Fraser

 

Hi, @Fraser

Ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen. Hätte fast geschrieben „trotz der Länge“, aber das ist Blödsinn. Sie hat, bis auf so eine Stelle, die ich Dir unten zeige, in meinen Augen keine Längen, sondern genau das richtige Tempo.

Mir gefällt es auch, dass Du das „Was dann?“ vom Anfang aus verstehst. Das hatten wir ja anfänglich hier diskutiert, ob „Was dann?“ nur bedeutet, dass das Ende offen ist, oder ob es nicht vielmehr heißt, dass am Anfang der Geschichte diese Frage aufleuchtet. Und bei Dir ist Letzteres der Fall. Am Anfang der Geschichte steht: „Was, wenn ich in Rente gehe? Was wird aus mir, aus meinem Leben, aus meiner Familie?“

Und das entdeckt Dein Prot dann, beziehungsweise, er entdeckt erstmal kein neues tolles Hobby (meine Großeltern sind, nachdem mein Großvater in Rente gegangen ist, im Sportverein aktiv geworden, machen da auch Kasse und Garten). Nein, Dein Prot beginnt vielmehr, sich damit auseinanderzusetzen, was im Leben neben seiner Arbeit noch passiert ist. Und dann diese Aspekte, die ja vor allem Familie und Freunde betreffen, rauszuziehen, sich ihnen noch zu widmen. Denn die verschwinden ja nicht durch die Rente. Die bleiben.

Kleinigkeiten:

So viele Jahre hatte ihn dieses Aroma begleitet, ihn eingehüllt, war ihm so etwas wie Heimat gewesen.

Durch das „so viele Jahre“ wird die Vorvergangenheit ausreichend klar. Da reicht in meinen Augen dann auch Präteritum, und das Plusquamperfekt ist nicht nötig.

Hinter Glas standen die in Leder eingeschlagenen Bücher, abgegriffen vom jahrzehntelangen Gebrauch. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stand er davor, ließ seinen Blick über die Buchrücken gleiten, wie ein Museumsbesucher über ein wertvolles Gemälde.

Wiederholung von „stand(-en)“, das Komma vor „wie ein Museumsbesucher“ würde ich weglassen.

An einigen der Ausgaben hatte er mitgeschrieben, alles Standardwerke seiner Fachrichtung, wie er nicht ganz unbescheiden dachte.

Auch hier braucht es das PQP für mein Gefühl nicht. Den Nachsatz „wie er nicht ganz unbescheiden dachte“ würde ich auch weglassen. Das klatscht mir ja nur megatellig ins Gesicht, was ich vorher schon gezeigt bekommen habe. Nur für den Fall, dass es mir als Leserin entgangen sein könnte. Mach das nicht.

Vor fünf oder sechs Jahren hatte er sich dem Druck der modernen Zeit ergeben müssen, seitdem störte ein hässlicher Monitor die makellose Ästhetik von Papier auf Holz.

Auch hier ist das PQP nicht notwendig, denke ich.

»Da kommen viele Erinnerungen hoch kann ich mir vorstellen.«

Komma vor „kann“.

Er stieß sich vom Türrahmen ab und kam mit beschwingtem Gang auf Weinherr zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Hierzu schreibst Du ein paar Sätze weiter:

Veith Homberg löste den unangemessen kumpelhaften Griff und war schon wieder an der Tür.

Das hat mich irritiert, und ich habe nochmal den vorherigen Satz zum „Hand auf die Schulter legen“ gelesen, weil es mir nicht unangemessen kumpelhaft und greifend vorkam. Tatsächlich steht da auch "legen". Da würde ich bei der ersten Erwähnung schon zeigen, dass Weinherr die Berührung unangenehm ist. So fällt das erstmal ganz lapidar, obwohl es ja später wichtig wird, dass es unangenehm ist. Du greifst das ja sogar nochmal auf. Würde ich durchziehen. Von Anfang bis Ende unangenehm.

»Lieber Professor Weinherr, Frau Weinherr. Liebe Kollegen Professoren. Liebe Wissenschaftler und Gäste. Die Lebensleistung unseres ehrenwerten Kollegen, der sich heute in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet

Hier sehe ich echtes Kürzungspotenzial. Die ganze Rede von Homberg ist ja nicht besonders kreativ und überraschend, sondern ziemlich Standard. Das ist bis ins kleinste Detail genau das, was ich erwartet habe. Aus diesem Grunde sehe ich keinen Grund, dass Du die Leser/innen damit langweilst. Cooler wäre doch, nah bei Deinem Prot zu bleiben, seine Regungen aufgrund der Rede zu beschreiben, vielleicht auch Langeweile über dieses Standardzeug. Oder Ärger darüber. Und aus der Rede nur entscheidende Sätze rauszugreifen. Oder andere Möglichkeit: Die Rede nicht so Standard schreiben. Aber so, wie sie jetzt ist, finde ich die Stelle doch ziemlich langweilig.

Das Schlimmste für Weinherr war die fehlende Struktur. Er war es gewohnt, an jedem Morgen zu wissen, wie der gesamte Tag verlaufen würde, welche Arbeit auf ihn wartete. Vorlesungen, Termine mit Doktoranden, Gremienarbeit, wissenschaftliche Konferenzen. Dazwischen immer wieder Durchsehen von Manuskripten oder die Arbeit an einem Lehrbuch. Er hatte offensichtlich wenig Talent darin, sich seinen Tag selbst zu gestalten, kreativ zu sein, in sich hineinzuhorchen.

Das glaube ich einfach nicht. Ich bin als studentische Hilfskraft und Masterandin in der Forschung tätig und außerdem Erste Vorsitzende einer studentischen Initiative. Deshalb jongliere ich jeden Tag viele Termine: mit dem Präsidium, der Campusgestaltung, dem AstA, der Pressestelle, mit meiner Initiative, mit den Arbeitsgruppen und so weiter. Die Forschung, also das Durchsehen von Manuskripten, das Recherchieren, Datenerheben und Schreiben, das muss ich mir zusätzlich einteilen, das macht sich nämlich von selbst auch gar nicht bemerkbar.

Und ich glaube, das gilt generell für Tätigkeiten in der Forschung. Selbst wenn die Sekretärin alle Termine mit dem Dekan, der Stuko, mit Doktoranden und so weiter koordiniert und irgendein/e WiMi die Vorlesungstermine festlegt: Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass es auch jemanden gibt, der dem Prof sagt, wann er Manuskripte zu lesen, zu schreiben und wie er zu forschen hat? Das sind doch höchst eigenmächtig koordinierte Prozesse, und soweit ich das bisher mitgekriegt habe, muss man als Person an der Uni dazu in der Lage sein, die Tagesabläufe selbstständig zu gestalten.

Und stets hatte er auch dort den Großteil der Tage damit zugebracht, an einem wissenschaftlichen Buch zu arbeiten, seine Korrespondenz mit den internationalen Kollegen zu erledigen, oder in dem Stapel an neuen Veröffentlichungen zu lesen, der ihn in jedes Urlaubsziel begleitete.

Auch hier braucht es in meinen Augen kein PQP. Außerdem Komma weg vor „oder“.

»Danke, sehr nett. Aber ich wollte gleich in mein Büro.« Weinherr nickte kurz, drehte sich um, ging mit energischen Schritten den Gang hinunter.
»Ihr Büro?«, hörte er Homberg hinter sich sagen, dann dessen harte Absätze, er hastete ihm hinterher. »Professor Weinherr. Einen Moment.«

In dieser ganzen Szene war ich verwundert, dass Homberg nicht klipp und klar sagt: Alter, Sie sind hier nicht mehr der Institutsleiter. Sie haben kein Büro mehr. Dass es diese Regelung gibt, dass Weinherr ein Büro behält, falls er doch mal wieder was tun will, das würde ich VIEL früher erwähnen. Sonst wirkt die gesamte Szene extrem strange, weil Homberg rüberkommt wie jemand, der überhaupt nicht auf den Putz hauen kann, obwohl der Fall vollkommen klar ist. Und so hast Du ihn davor nicht etabliert.

Ihnen war beiden klar, dass Homberg es damit nicht ernst meinte.

Den Satz würde ich streichen. Das ist wieder so ein Falls-die-Leserschaft-es-nicht-verstanden-hat-Satz. Den brauchst Du nicht.

»Absolut. Ich dachte erst, nee, das muss ein Irrtum sein. Hab den Assay zwei Mal wiederholt. Aber es ist so, wie es da steht. Eine irrsinnig hohe Affinität, schneller Umsatz, kaum Sättigung oder negatives Feedback. Der Hammer.«

Ich finde es so geil, wie sich die Sprache am Institut verändert. Hammer! :D

Friedrich war immer der Jüngste ihrer Gruppe gewesen. Jetzt, wo sie alle tot waren, war er mit einem Mal in gewisser Weise der Älteste von ihnen. Auch wenn das mathematisch unsinnig war, Erich würde stirnrunzelnd den Kopf schütteln.

Also, das „gewesen“ könnte raus. Außerdem finde ich den letzten Satz aus diesem Zitat ziemlich komisch (lustig). Denn die Frage, ob Leute, die länger leben, am Ende älter sind als Freund/inn/e/n, die eigentlich früher geboren sind, ist keine mathematische Frage. Bevor Du das ausrechnen kannst, musst Du die Frage beantworten, ob das Alter nach dem Tod anhält und nicht mehr weiterberechnet werden soll. Und das ist eindeutig keine mathematische Frage. Und für ein bisschen Strichrechnung braucht man auch keinen Professor der Mathematik. Sobald wir uns geeinigt haben, ob Friedrichs Freunde im Grab weiteraltern (ich würde sagen: Tun sie nicht), rechne ich Dir im Kopf aus, wer der Älteste ist. Wow! Ich Matheass. :lol:

Das war’s mit den Kleinigkeiten. Es hat mir großen Spaß gemacht, Deinen Text zu lesen. Tatsächlich habe ich ihn in einem Stück gelesen, einfach verschlungen. Deshalb glaube ich auch zu wissen, dass Tempo und Länge so richtig sind. Good work!

Plusquamperfekte Grüße,

Maria

 

Hallo @Nichtgeburtstagskind
Schön, dass du meiner Geschichte einen zweiten Anlauf gegeben hast. Und schade, dass sie dich auch in diesem nicht überzeugen konnte.
Vorweg: Straffen, ja, das versuche ich zu tun. Klang ja auch in anderen Kommentaren an. Ich hoffe, dass ich dazu noch im Rahmen dieser Challenge die Zeit finden werde. Denn, das ist es, was mir momentan leider fehlt: Zeit.

Aber der Inhalt ... wie soll ich sagen, das ist mir zu echt. Ich kann mir vorstellen, dass es den Herrn Prof. Weinherr gibt und du von seinem Leben erzählst.
Sicher, die Geschichte ist sehr nah an der Realität. Und wenn es das ist, was dich an Geschichten abschreckt, dann ist dieser Text wohl nichts.

Aber da passiert nichts spannendes, nichts Unvorhergesehenes.
Ich weiß nicht, wie du in diesem Setting "Spannung" definieren würdest. Ich finde schon, dass es ein paar unvorhergesehene Ereignisse gibt. Das Arbeitszimmer im Keller, die Reaktion des Dekans, den er eigentlich auf seiner Seite gedacht hat, und letztendlich die Abkehr vom Institut und Hinwendung zur Familie.

Weil es eben genauso immer wieder passiert.
Das denke ich nicht. Aber selbst wenn, dann ist es für mich kein Grund, darüber nicht zu schreiben. Im Grunde genommen sind doch die meisten Geschichten Alltagsgeschichten. Ich muss aber akzeptieren, dass es so bei dir nicht funktioniert hat.

Nochmals Danke fürs "Durchhalten" und beste Grüße,
Fraser.
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Hallo @TeddyMaria
Auch dir ein herzliches Danke fürs Reinschauen und den guten Kommentar.
Schön vor allem zu lesen, dass du mit der Geschichte etwas anfangen konntest, ja, sogar Gefallen daran gefunden hast. Da bist du bisher nicht mit viel Gesellschaft gesegnet ;). Na gut, so isses eben.
Deine Anregungen zum reduzierten Gebrauch des Plusquamperfekts habe ich zuer Kenntnis genommen. Wahrscheinlich bin ich da zu sehr Regelfanatiker als Ästhet. Ich versuch mal, mich etwas lockerer zu machen.

Ich habe Deine Geschichte sehr gerne gelesen. Hätte fast geschrieben „trotz der Länge“, aber das ist Blödsinn. Sie hat, bis auf so eine Stelle, die ich Dir unten zeige, in meinen Augen keine Längen, sondern genau das richtige Tempo.
Vielen Dank. Es ist ja nicht so einfach, das rechte Maß, i.e. Länge, zu finden, wenn es um KURZgeschichten geht. Aber ich sehe (jetzt) auch, dass ich an einigen Stellen über die Stränge geschlagen habe. Ich hoffe, dass ich noch dazu komme, hier zu kürzen. Ungünstig, gerade in Challenge-Zeiten zu wenig Zeit zu haben. Aber noch mal ein: So isses eben.

Mir gefällt es auch, dass Du das „Was dann?“ vom Anfang aus verstehst.
Ich habe das Thema genau so gedeutet und war dann erstaunt (aber auch angetan) darüber, dass es doch einige Geschichten gibt, die diese Frage an das Ende stellen, oder sogar beides zulassen.

Das hat mich irritiert, und ich habe nochmal den vorherigen Satz zum „Hand auf die Schulter legen“ gelesen, weil es mir nicht unangemessen kumpelhaft und greifend vorkam. Tatsächlich steht da auch "legen". Da würde ich bei der ersten Erwähnung schon zeigen, dass Weinherr die Berührung unangenehm ist.
Einverstanden. Durch diese Szene wollte ich andeutungsweise die Beziehung der beiden beschreiben, die ja vor allem von Weinherrs Seite, der so viel Wert auf Korrektheit, Hierarchie etc. legt, eine sehr angespannte ist. Homberg hingegen ist eher so ein Luftikus, dem diese Grenzüberschreitungen gar nicht auffallen, der dafür kein Gespür hat. Was Weinherr natürlich überaus nervt.

Cooler wäre doch, nah bei Deinem Prot zu bleiben, seine Regungen aufgrund der Rede zu beschreiben, vielleicht auch Langeweile über dieses Standardzeug. Oder Ärger darüber. Und aus der Rede nur entscheidende Sätze rauszugreifen.
Nachdem diese Stelle in einigen Kommentaren als zu lang/unbedeutend kritisiert wurde, habe ich interessanterweise genau in die Richtung gedacht. Einzelne Satzfetzen der Rede und Weinherr hört schon gar nicht mehr richtig hin. Weil der Homberg diesen Anlass ja eh nur als Gelegenheit zur Selbstdarstellung nutzt. Mißbilligender Blick etc.

Du willst mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass es auch jemanden gibt, der dem Prof sagt, wann er Manuskripte zu lesen, zu schreiben und wie er zu forschen hat? Das sind doch höchst eigenmächtig koordinierte Prozesse, und soweit ich das bisher mitgekriegt habe, muss man als Person an der Uni dazu in der Lage sein, die Tagesabläufe selbstständig zu gestalten.
Was ich damit meinte, ist ja genau das. Er weiß selbstverständlich, wie er die Tagesabläufe koordiniert. Deshalb wusste er ja schon morgens, wie sein Tag aussehen würde. Aber eben nur im Unialltag. Sich im Privaten, ohne die "akademischen Tätigkeiten", Struktur zu geben, diese Fähigkeit geht ihm ab. Da ist er verloren. Muss ich dann noch mal klarer schreiben.

In dieser ganzen Szene war ich verwundert, dass Homberg nicht klipp und klar sagt: Alter, Sie sind hier nicht mehr der Institutsleiter. Sie haben kein Büro mehr.

Jein. Der Homberg ist da so ein bisschen im Interessenskonflikt. Natürlich ist er jetzt der Boss und er könnte auf den Putz hauen. Andererseits ist ja Weinherr auch nicht irgendwer, und so hält er sich erst einmal zurück, versucht es auf die pseudo-loyale Art. Und hinter dem Rücken informiert er den Dekan.

Dass es diese Regelung gibt, dass Weinherr ein Büro behält, falls er doch mal wieder was tun will, das würde ich VIEL früher erwähnen.
Ok, aber dann wäre der Effekt mit dem Souterrain und das anschließende Gespräch mit dem Dekan hinlänglich. Gut, ich könnte Hombergs Reaktion etwas anders schreiben.

Ich finde es so geil, wie sich die Sprache am Institut verändert. Hammer! :D
Die Millenials halt ;) Oder wie auch immer die jetzt heißen.


Sobald wir uns geeinigt haben, ob Friedrichs Freunde im Grab weiteraltern (ich würde sagen: Tun sie nicht), rechne ich Dir im Kopf aus, wer der Älteste ist. Wow! Ich Matheass. :lol:
Zumindest Erich war ja im Augenblick seines Todes älter als Weinherr. Die anderen in ihrem Grab mag er also im wahrsten Sinne des Wortes überlebt haben, aber gilt das auch für Erich? Vielleicht stehe ich da aber auch auf dem Schlauch, du Matheass-Masterandin? :confused:

Es hat mir großen Spaß gemacht, Deinen Text zu lesen.
Das freut mich sehr.

Plusquamperfekte Grüße
:D

Ich danke dir, TeddyMaria.

Beste Grüße,
Fraser

 

Hier und da gekürzt/geändert, Vorschläge aus Kommentaren eingearbeitet und das Ende "erweitert".

 

Hallo @Fraser ,

schön, dass du nochmals deinen bearbeiteten Text einstellst. Er ist natürlich immer noch sehr lang, eher eine Erzählung mit Novellencharakter als eine moderne Kurzgeschichte. Ich mag solche Texte, die zeigen, dass jemand mit der Sprache umgehen kann, eloquent und elegant. Es ist die Sprache der Autoren wie Thomas Mann oder auch Moritz Rinke, um mal einen neueren Autor zu nennen. (Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel , 2010)).
Es geht eben in Richtung Roman, angenehm zu lesen, ohne den atemlosen Touch, der heute die Kurzgeschichten prägt. Also sehe ich keinen Grund, das zu ändern, wenn es dein erworbener Duktus ist.
Du hast den Tag "Humor" gelöscht, und darüber bin ich sehr froh. Denn der hatte in mir eine falsche Erwartung geweckt, mehr so in Richtung Satire. Aber du wolltest ja nicht den "Muff von 1000 Jahren" geiseln, sondern die Problematik eines verdienstvollen Gelehrten, der loslassen muss, gleichgültig, wie bedeutsam sein LebenswerK sein mag. Das ist sicher ein zeitloses Thema, wie überhaupt das Loslassen im Alter wegen des gefürchteten Bedeutungsverlustes auch in anderen sozialen Kontexten auftritt. @jimmysalaryman hat dieses Thema ebenfalls, aber auf ganz andere Weise aufgegriffen. Ich finde das spannend.
Die Rollenmuster, die du mit dem Ehepaar beschrieben hast, gibt es natürlich noch. Aber wie die "Halbgötter in Weiß" ihren Nimbus allmählich verlieren, werden Professoren der Zukunft im Teamwork forschen müssen, Männer und Frauen gleichberechtigt. (Hoffe ich, obwohl in Deutschland derzeit die Gleichberechtigung zu stagnieren scheint ...)

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Moin, moin @Fraser ,

ein Ausflug in die Zeit, die uns ja allen irgendwann bevorsteht. Je höher die Stellung im Arbeitsleben (Anerkennung, Macht, Einfluss, eigene Wahrnehmung, ...), je schwieriger wird wohl der Rückzug. Ich lerne aus solch Geschichten immer (oder erhoffe es mir), das man da vorher drüber nachdenken muss, ein Hobby haben, eine Aufgabe außerhalb des Berufes ...

Aber Du hast gut gezeigt, was da in einem passiert, wie das Umfeld reagiert, alles nicht so einfach.
Obwohl ich wirklich sehr gerne lange Kurzgeschichten lese, habe ich auch drei Anläufe gebraucht, um hier durchzukommen, ich muss mich also leider einigen meiner Vorkommentatoren anschließen, es ist schon recht zäh oder passiert oft einfach zu wenig. So wie es halt im wahren Leben ist.
Da ich ja bei zwei Leseversuchen nicht durchgehalten habe ... Gab es da ein anderes Ende? Der Titel und irgendwas in meinem Hinterkopf lässt mich grübeln.

Ich freue mich auf eine andere Geschichte von Dir, denn Dein genereller Schreibstil gefällt mir, ruhig, ausgeglichen und die Geschichte im Vordergrund, ohne das ich mich zur ständigen Analyse gedrängt fühle. Da wiederum hat mir hier sehr gefallen.

Beste Wünsche und eine gute Zeit
witch

 

Ja, da streicht Prof. … erem. Weinherr nur scheinbar die Segel gegen eine vermeintliche Moderne (frei nach Karl Kraus: Wir sind immer noch die alten Troglodyten, nur auf technisch höherem Nieveau!, der Name des konkurrierenden Nachfolgers, so denke ich, ist Deine bewusste Namensgebung, erinnert nicht umsonst ans Hornberger Schießen, um die Segel zu setzen und in die Neue Welt zu fahren ...

Hallo Frazer,

nicht erschrecken, ich nochmal in Deiner feinen Geschichte, denn einige Formulierungen, die sich oft als entbehrliche Füllsel erweisen, brauchstu recht häufig, was ich am ersten Absatz nochmal darstellen will, ab hier, wenn es heißt

Natürlich durfte man hier schon lange nicht mehr rauchen, aber der Geruch war noch da. So viele Jahre hatte ihn dieses Aroma begleitet, ihn eingehüllt, war ihm so etwas wie Heimat gewesen. … Und da drüben am Fenster der wuchtige Schreibtisch aus dunklem Holz. … In Anbetracht der Tatsache, dass er den Computer ziemlich selten benutzt hatte, ein umso größerer Jammer. Den Monitor würde er als erstes entfernen, dachte er mit entschlossenem Blick. Sicher, er wäre nicht mehr so häufig hier, aber immerhin musste er das alles nicht ganz aufgeben.
Musstu selbst entscheiden, ob die Geschichte das braucht - mein Tipp, Füllsel dieser Art (oder ähnliche) auf wörtl. Rede beschränken, denn das „wirkliche“ Leben hält ja oft durch Füllsel und Phrasen zusammen (Heinrich Böll hat da einiges in seinen Frankfurter Vorlesungen zu gesagt)

Aber mittendrin in diesem Absatz ist ach der erste echte Fehler, wenn es heißt

Er stand davor, die Hände hinter dem Rücken, ließ seinen Blick über die Buchrücken gleiten[...] wie ein Museumsbesucher über ein wertvolles Gemälde.
Komma weg vor der vergleichenden Konjunktion, die eben nur einen Vergleich, keinen vollständigen Satz einleitet

»… Sie alle kennen Ihn, die meisten viel besser als ich. ...“
Warum Höflichkeitsform, wenn das Pronomen eben nicht der persönl. Anrede dient?

Aus den Reihen der Anwesenden lautes Beifallsklatschen, vereinzeltes Getrampel von Füßen aus den hinteren Bänken, die Reihe …
Geht nicht um das gedoppelte „aus“, „aus“ den Bänken kann vielleicht der Holzwurm knabbern, ansonsten – wie anfangs des Satzes – aus den hinteren Bankreihen. „Von“ den hinteren Bänken ist vllt. passender

..., um schließlich hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen – der lederbezogene Stuhl würde wie als Willkommensgruß leise quietschen –, …
warum die gedoppelten, aber unterscheidenden vergleichenden Wörter, die sich eigentlich gegenseitig aufheben
wie >gleich wie,
als > anders als.
Eines muss weg, und das ist m. E. das „wie“, wie der Konj. II würde ja schon als verkapptes „als ob ...“ anzeigt

erste Flüchtigkeit?

Bei den folgenden Endungen musstu richtig aufpassen – da liegstu schnell daneben, ich weiß, so spricht „man“, aber so sollte „man“ nicht schreiben

Grummelnd wendete er den Wagen und suchte einen freien Platz zwischen den billigen, abgefahrenen Autos der Studenten und graduierten Wissenschaftlern.
Weinherr ging die wenigen Schritten, stand vor dem leeren Schrank, …
Schau vorsichtshalber selber noch mal durch, irgendwann bin auch ich betriebsblind ...

Glaub schon, dass ne Schwächephase da aufgekommen ist, hier fehlt ein Zeichen am Ende der wörtl. Rede

»Das folgt im Prinzip daraus. Ja« Hombergs Stimme war kalt.

Seltsam, dachte sich Weinherr bei dem Anblick der verschiedenen Gewächse, …
W. denkt dies und das, wenn „sich“ Weinherr denkt, denkt W. sich selbst. Weg mit dem Reflexivpronomen!

..., das Eheversprechen gegeben hatten, aber Agathe schien kaum älter geworden, war irgendwie immer noch die Agi aus dem Mahlerweg.
Ja, selbst der Mond scheint nicht selbst, leiht sich nur sein Licht, denn nur die Sonne scheint, darum ähnlich wie zu „brauchen“ besser mit Infinitiv bilden „“schien kaum älter geworden zu sein“ (ist schon fast der Gegensatz von Sein und Schein in der Grammatik)

Er ahnte – nein, wusste –, dass ihre Hoffnung war, er wird die Angelegenheit auf sich beruhen lassen.
Empfehle den Konj. I - obwohl die binäre Wertigkeit des einfachen Futurs – es wird oder wird eben nicht – offen genug ist. Aber „werde“ hat zugleich einen imperativen Klang (schon seit der Übersetzung der Schöpfungsgeschichte durch Luther)

»Ach so, darum geht es.«
Klingt das nicht nach wundern, erstaunen, eher nach Ausruf statt bloßer Aussage?

»Du kennst ihn doch, Stefan. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann man reden, wie man will.
Komma weg bei bloßem Vrgleich – s. o.

Er war jetzt der Letzte der fabelhaften Fünf.
Der „letzte“ besser klein, seh ich als Attribut „der fab Five“

Hier schnappt m. E. die Fälle-Falle mal zu

Weinherr studierte die Jahreszahlen, die in der ordentlichen Schrift seiner Frau auf die Albenrücken notiert waren.
Akkusativ, wenn die Frau ordentlich auf „die“ Albenrücken notiert(e), hernach sind/waren die Jahreszahlen ordentlich auf den Albenrücken notiert.
Am einfachsten ist natürlich, "wurden" anstelle des "waren" zu setzen.

Seit vierzehn Tagen sind sie auf dem Kreuzfahrtschiff unterwegs, in New York würden sie von Bord gehen.
Warum nicht das schlichte Futur – oder bestehen Zweifel, dass von Bord gegangen werde?

Und eine letzte Flüchtigkeit (s. o. schon)

»Wenn du willst, fahren wir einfach immer weiter. Die Ozeane sind groß genug«

So, jetzt hab ich mir ein Mittagesssen verdient.
Toi, toi, toi hierorts und schöne Tage diese Tage vom

Friedel

 

Hallo @wieselmaus
Schön, dass du du noch einmal einen Kommentar hinterlassen hast.

Er ist natürlich immer noch sehr lang, eher eine Erzählung mit Novellencharakter als eine moderne Kurzgeschichte.
Im Vergleich zu anderen Geschichten hier sicherlich. Ich fühle, dass diese Geschichte ein wenig mehr Raum braucht. Zäh, lese ich hier. Mehrere Anläufe. Na gut, man kann es nicht jedem Recht machen. Für mich ist es so stimmig.

Ich mag solche Texte, die zeigen, dass jemand mit der Sprache umgehen kann, eloquent und elegant.
Danke dafür!

Es ist die Sprache der Autoren wie Thomas Mann
Ich habe noch aus der Schulzeit zwei Bände von Thomas Mann in meinem Regal. Die Erzählungen. So nannte man wohl damals Kurzgeschichten? Da haben die meisten Geschichten eine nicht zu unterschätzende Länge. Womit ich mich natürlich nicht mit jemandem wie Thomas Mann vergleichen will ;)

Also sehe ich keinen Grund, das zu ändern, wenn es dein erworbener Duktus ist.
Erworben, weiß nicht. Sicherlich eine Tendenz zur längeren Ausführung. Vielleicht probiere ich nächstes Mal das Kontrastprogramm.

Danke dir, wieselmaus.

Beste Grüße,
Fraser

 

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