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Sein Lied
War ich ein Walzer, langsam und in sanften Tönen gespielt, war er ein Tango, kraftvoll, schnell und voller Temperament. Stampften seine Takte, die den Zuhörer mal hierhin und mal dorthin rissen, waren die meinen leise, weniger zu hören als zu erahnen. Klangen die Stimmen, die sein Lied untermalten, fremd, exotisch und aufregend, schienen die Sänger meines Stückes nur vorsichtig Wörter aneinanderzureihen, zu flüstern. Immer voraussehbar. Und so verschieden unsere Musik auch sein mochte, war es doch sein Lied, dem ich verfiel. Hatte dessen ersten Takte gehört und war süchtig nach ihnen geworden.
Sein Lied war eines dieser, die man nicht vergisst - ein Ohrwurm im schlechtesten und im besten Sinne; einer, der nicht nach einem Sommer verschwindet, sondern dessen Takte und Melodien einem noch nach Jahren vertraut sind und dessen Rhythmus den Körper in einen wilden Tanz zwingt, sehnsüchtig zuckend, zugleich versprechend und drohend nie zu gehen.
Dass man Menschen nicht nur dadurch in verschiedene Kategorien ihrer Spezies einordnen konnte, was die Oberflächlichkeit ihres Auftretens an Mutmaßungen zuließ, sondern viel eher durch etwas ganz anderes, Authentisches, das sie in sich trugen - zu dieser Erkenntnis gelangte ich schon relativ früh. Vielleicht mit dreizehn. Es waren die Töne, in ihnen spielend, die einen Blick in ihr wahres Ich, ihre Seele freigaben und in ihrer Gesamtheit eine einzigartige, unverfälschliche Melodie formten, schön, traurig, berührend oder erschreckend. Jeder Mensch besaß – ob er sich nun darüber bewusst war oder nicht – sein eigenes Lied, das ihn ein Leben lang begleitete. Zwar mochte es sich im Laufe der Jahre verändern, in einem schnelleren Takt gespielt werden oder in der Lautstärke variieren, doch in den Grundzügen blieb es stets gleich. Manchmal fragte ich mich, ob noch jemand außer mir die Musik der anderen hören konnte und, was mir besonders wichtig war, ob jemand mein Lied vernahm. Bald war ich mir jedoch sicher, dass die Töne für die anderen nicht zugänglich waren. So sprach ich auch mit niemandem darüber, was ich hörte. Weder mit meinen Eltern, noch in der Schule. Dort hielten mich die meisten sowieso schon für merkwürdig, weil ich allein durch die Korridore wanderte und, so schien es, als seltsamer Außenseiter nie etwas tat, außer zu beobachten, etwas in mich aufnehmend, das keiner sonst registrierte.
Irgendwann dann, als ich älter geworden war und mein Lied, wie auch zuvor, leise und fast träge im Hintergrund vor sich hinspielte, wurde ich auf sein Lied aufmerksam. Er ging in die selbe Schule wie ich und besuchte eine Klasse über mir. Gehört hatte ich sein Lied nie zuvor, was mir nun fast unmöglich schien. Denn es war anders als die der anderen, bei denen ich meist sofort in der Lage war, die Menschen dahinter in ihrer Gesamtheit zu erkennen. Das, und diese Tatsache beunruhigte mich zutiefst, war bei ihm nicht möglich. Immer, wenn ich glaubte, ein Muster in seiner Melodie ausgemacht zu haben und meinte, diesen Part als eine mir vertraute Tonabfolge zu erkennen, hörte ich plötzlich völlig neue, mir nicht bekannte Klänge aus ihm strömen, die mich zwangen, meine gerade eben noch so plausibel klingenden Feststellungen zu verwerfen. Je mehr ich seinem Lied Raum in meinem Kopf gab, es in mich aufnahm, es genoss, umso mehr verstummte meines, bis es nur noch als vages Flüstern zu hören war.
Nachdem die Monate vorübergegangen waren und ich plötzlich, kurz bevor die Abschlussprüfungen der Klassen über meiner ins Haus standen, realisierte, dass er und damit auch sein Lied bald verschwunden sein würden, stieg die Panik in mir hoch. Ich war mir sicher, dass ich etwas verlieren würde, das durch nichts in der Welt ersetzt werden konnte und noch schlimmer, mich in einem Zustand zurücklassen würde, der mich zweifeln ließ, ob ich jemals wieder ein Leben führen würden könnte, das mich nur im entferntesten glücklich machte. Und je näher das Ende des Schuljahres rückte, umso mehr manifestierte sich ein Gedanke in meinem Kopf: Ich wollte wissen, musste wissen, ob er auch mich hören konnte, stellte er doch so deutlich eine Ausnahme zwischen all den anderen dar.
Die letzten Tage vor den Ferien gestalteten sich als geradezu unerträglich. Weil ich wusste, dass ich sein Lied bald nie wieder hören konnte, begann ich ihm nachzulaufen, zuerst möglichst unauffällig, dann mutiger. Ich folgte ihm, natürlich in einem gewissen Abstand, riskierte zu spät zu meinem Unterricht zu kommen und war in den Pausen stets in seiner Nähe.
Was dann am vorletzten Tag der Prüfungen geschah, versetzt mich auch heute noch in helle Aufregung. Ich spüre dann, wie sich die Härchen auf meinen Unterarmen aufstellen und meine Haut beginnt zu kribbeln, so wie damals.
Ich stand gerade von einem der kleinen Tische in der Cafeteria auf, um mich langsam auf den Weg zu der letzten Stunde des Tages zu machen. Meinen Rucksack locker über die Schultern geworfen, ging ich durch den breiten Torbogen, der in die Aula mündete, auf die Treppen zu, die nach oben führten. Es war fast nichts mehr los, da es schon nach drei war und nur noch die Schüler anwesend waren, die Nachmittagsunterricht hatten. So wie ich - und so wie er. Fast automatisch verlangsamten sich meine Schritte, wie all die Male zuvor, als ich ihm gefolgt und besonders langsam gegangen war, um die Töne, die von ihm kamen, bis aufs Letzte auszukosten. Alles war wie sonst, nur dass er mich diesmal wahrzunehmen schien, hatte er doch seinen Blick geradewegs auf mich gerichtet. Ich sah mich um, konnte nicht glauben, dass da nicht noch jemand außer mir war. Mit einem Mal verschwand mein Wunsch, ihm die Frage zu stellen, die mich so hartnäckig verfolgte und wurde ersetzt durch diese Art Starre, die immer dann einsetzt, wenn die Sehnsüchte, die schon unerfüllt, gerade noch in süßem, sehnsuchtsvollen Leiden zu ertragen sind, tatsächlich wahr werden. Je näher er mir kam, umso lauter wurde seine Musik, dröhnte mir so stark in den Ohren, dass es fast schon weh tat; so lange, bis ich nur noch ein dumpfes, schmerzhaftes Summen vernahm. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass ich stehen geblieben war und mir die Hände über die Ohren hielt, so fest, dass mein ganzer Körper zitterte. Als ich die Augen irgendwann wieder aufschlug und mich umsah, realisierte ich, dass er noch immer vor mir stand, mich anblickend. Langsam ließ ich die Hände sinken. Erst jetzt bemerkte ich die Stille, die um mich herum und in meinem Kopf herrschte. Nichts, gar nichts war mehr zu hören. Gerade als ich mich begann zu fragen, was nun kommen würde, abwartend und ängstlich darüber, ob jegliche Töne nun für immer aus meinem Leben gewichen waren, nahm ich eine Bewegung seiner Mundwinkel war, die man vielleicht als Lächeln hätte deuten können. Doch das war es nicht, was mich aus meiner Trance riss. Es war ein anschwellendes Klopfen, tief in mir. So intensiv, dass ich tief Luft holen musste und ein Husten gerade noch unterdrücken konnte. Immer lauter und klarer wurde es, breitete sich aus, strömte in meine Arme, Beine, Hände und Füße, brachte mein Inneres zum Vibrieren und mich zum Schaudern. Und leise, ganz leise, kaum zu hören, mischte sich eine Melodie dazu, die ich vorher noch nie gehört hatte. Sie schien von ihm zu kommen und ich fragte mich, ob er mich nun ganz einnommen hatte, hörte ich meine Musik doch nun gar nicht mehr. Dann bemerkte ich, dass sich das Lied in meinem Kopf noch in einer Veränderung begriff. Wie als würde ein doppelter Bass brummen, eine zweite Stimme singen, zwei Töne zugleich gespielt werden, klang es jetzt. Meine Melodie und seine, vermischt. Unser Lied. Und die Antwort, auf die ich so verzweifelt gehofft hatte.
(c) FranziskaR