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Seltsam selbstgemachtes Weihnachtswunder

Beitritt
23.06.2021
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Anmerkungen zum Text

Etwas makaber vielleicht, aber dennoch ein Text über Hoffnung.

Seltsam selbstgemachtes Weihnachtswunder

Sorgfältig legt Klaus die neue Ausgabe des Darmstädter Echos auf den Tisch und streicht über das Papier. Die Hand zittert und das Streiflicht vom Küchenfenster modelliert für einen Augenblick eine kleine Landkarte aus Adern, Falten und Altersflecken auf seine Haut. Hilde sitzt ihm gegenüber. Sie lächelt und hebt den Kopf, um ihn ansehen zu können. Eine Strähne ihres weißen Haars leuchtet in der Morgensonne. Die rechte Hälfte ihres Gesichts liegt im Schatten. Trotzdem sind die dunklen Augenringe nicht zu übersehen.

Sie ist wieder so blass, denkt er. Aber immer noch schön, nach all den Jahren. Einen Atemzug lang schauen sie sich schweigend an. So vertraut. Zur Sauerstoffflasche mit der Atemmaske, neben Hildes Stuhl schaut er nicht. Statt dessen atmet er hörbar ein. »Sollen wir?«, fragt er dann. Hilde nickt. Ihr Lächeln soll wohl Zuversicht ausdrücken. Aber Zuversicht ist gerade nicht greifbar. Er sieht es, aber er weiß nicht, was er sagen soll. Also fängt er an zu blättern. Titelzeile, Nachrichten aus aller Welt, Fußball-WM … all das interessiert sie nicht mehr. Die Lokalnachrichten werden sie vielleicht später noch lesen. Statt dessen blättert er weiter, bis zu Seite 27, den Todesanzeigen.

Hilde schaut ihn an und er beginnt zu lesen. »Der Intendant vom Staatstheater ist gestorben«, liest er vor. »Autounfall.« Wie immer bei bekannten Persönlichkeiten gibt es mehrere große Anzeigen.

»Es kann auch schnell gehen«, sagt Hilde.

Sie sagt das beinahe sehnsüchtig, denkt er und seine Stimme klingt gepresst, als er weiterliest. »Frau Müller aus dem Martinsviertel ist an Krebs gestorben.« Er lässt den Finger über die Seiten gleiten. »Frau Huxhorn. Du weißt doch, die Rothaarige aus dem Pillhuhn … nach langer und schwerer Krankheit.« Er ließt weiter, blättert um. »Oh, Peter Schmaller aus der Achzehn … plötzlich und unerwartet. Das tut mir leid«, sagt er. Als er aufblickt, hat Hilde Tränen in den Augen.

»Wir sollten Sabine eine Karte schicken«, sagt sie. Und leiser: »Hingehen kann ich ja nicht mehr.«

Hat das hier überhaupt noch einen Sinn? Wir werden nicht einmal mehr zusammen Weihnachten feiern können. Am liebsten würde er die Zeitung vom Tisch fegen und Hilde in den Arm nehmen. Nicht mehr kämpfen. Sie nur noch festhalten und für die letzten Wochen nicht mehr los lassen. Und dann laufen ihm doch die ersten Tränen über die Wangen. »Bitte nicht«. Hildes Stimme ist kaum zu hören. Die Luft geht ihr aus und sie greift nach der Atemmaske. Fünf, sechs mal atmet sie zischend durch die Maske, bevor sie sich wieder aufrichten kann.

»Es tut mir leid, Schatz.« Klaus wischt die Tränen ab und konzentriert sich wieder auf die Zeitung. Auf Seite 29 findet er endlich, was sie suchen. »Hier«, sagt er und zeigt auf die Annonce. »Hier stimmt alles.« Hilde sagt nichts, aber endlich ist da wieder Spannung in ihrem Gesicht. »Eine Frau Mager, aus Bessungen … am Samstag den letzten Atemzug getan.« Mit großen Augen schaut er Hilde an. Gibt es doch noch ein Weihnachtswunder?

Dann greift er nach dem Telefon. Die Nummer ist längst eingespeichert. Er wählt, hält krampfhaft den Hörer an sein Ohr. Ohne lange Vorrede platzt er heraus: »Meine Frau braucht dringend einen Termin bei Ihnen.« Die Stimme am Telefon sagt etwas ablehnendes. Also setzt Klaus noch einmal an. »Wir haben gelesen, bei Ihnen ist ein Platz frei geworden«, sagt er, während sein Zeigefinger wieder und wieder auf die Todesanzeige pocht.

 

Hallo Rob F,

danke für's Feedback.

auch in Flash Fiction-Texten kann Nähe zu den Protagonisten entstehen. Hierbei sehe ich das nicht so, aber das war ja ggf auch nicht dein Ziel (?).
Hm, ich glaube immer noch, wenn ich wüsste wie, würde ich mehr Nähe zum Protagonisten in meine Texte bringen. Hier habe ich schon versucht, den Charakter für mich besser auszuformen, aber davon scheint im Text noch nicht viel angekommen zu sein. :cry:

Inhaltlich wird von Satz zu Satz deutlich, dass es auf eine Pointe hinauslaufen soll, auch durch die Kurze des Textes. Insofern finde ich ihn gut geschrieben, aber mehr leider auch nicht, da bleibt bei mir inhaltlich nichts hängen. Aber das ist ja nur meine Meinung ;)
Und war die Pointe an sich denn überraschend? Daraus ist eigentlich die Geschichte entstanden, dass wir abends zusammen saßen, als Familie und uns überlegt haben, wie es wohl wäre, wenn man nur dann einen Termin beim Facharzt bekommt, wenn jemand anderes stirbt.

Zumindest "gut geschrieben", das ist immerhin etwas. Die Fehler habe ich verbessert und bei der Landkarte mal ein wenig Drama 'rausgenommen.

Vielen Dank und
Liebe Grüße
Gerald

 

Hallo Rob,

Die Geschichte hat für mich von Anfang an einen eher augenzwinkernden Ton, was mE für einen kurzweiligen Unterhaltungstext auch passt. Dadurch habe ich dann nur auch nicht den Eindruck, dass mir (trotz der Erkrankung der Protagonistin) eine Person und ein Schicksal nähergebracht werden sollen, ich habe dann entsprechend auch ein eher oberflächliches Interesse an den Personen.

Dabei wollte ich doch gar nicht augenzwinkernd schreiben. Ich muss wohl noch viel üben.

Es ist mir übrigens nicht so ganz klar, wie sie im Voraus schon die Nummer des Arztes einspeichern konnten. Haben Sie nur nach Todesanzeigen in einem bestimmten Ort gesucht? Und gibt es dort nur diesen einen Facharzt? Es ist zwar naheliegend, aber du erwähnst auch nicht, dass es um einen Arzt geht. Könnte ja zum Beispiel auch um einen Platz in einem Pflegeheim gehen.
Ja, ich bin mal davon ausgegangen, dass es in Darmstadt nur einen Pulmologen gibt. Das ist eine Schwachstelle der Geschichte, aber sonst funktioniert sie nicht wirklich.

Schöne Feiertage und liebe Grüße
Gerald

 

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