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Serie Sewa - Auf der Flucht (7)

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03.07.2004
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Sewa - Auf der Flucht (7)

Die Sonne schien und versprach einen warmen Frühlingstag. Herr Ligull rollte ans Fenster und schaute in den Park. Aber er erreichte nicht die gewohnte Stille, sondern schaute ständig zum Springbrunnen. Dann seufzte er: „Ich habe verstanden. Ich gehe ja schon.“
Er hatte einmal Pfarrer werden wollen, hatte aber geheiratet und sich besonders nach dem Tod seiner Frau in Meditation und Stille zurückgezogen. Nun bat ihn Schwester Ruth, sich um Frau Waller zu kümmern. Er kannte sie seit drei Jahren nur vom Sehen als ängstliche graue Maus, die ab und zu durchs Haus Vergissmeinnicht huschte. Vielleicht war sie schüchtern oder gar ängstlich, denn sie war Analphabetin, was aber bisher nur die Mitarbeitenden wussten. Ihm war jetzt gar nicht wohl bei dem Gedanken, sich mit ihr zu treffen.
Er zog sich einen leichten Mantel an und fuhr ins Freie. Am Springbrunnen saß eine ältere Dame. Sie trug ein geschmackvolles schwarzes Ensemble und war nicht Grau in Grau gewandet wie die Bewohnerin, die er treffen wollte.
„Sie sind wahrscheinlich nicht Frau Waller?“
„Doch, aber, wieso?“, stotterte sie.
„Ich habe Sie öfter gesehen und auch ein wenig von Ihnen gehört. Aber da Sie nicht mehr Grau tragen, hat sich in Ihrem Leben wohl etwas geändert.“
Frau Waller verzog ihr Gesicht: „Meine jüngere Tochter ist Modedesignerin und sie hat mir das Zeug einfach mitgebracht und so lange auf meinem Bett gesessen, bis ich es anprobiert habe.“
„Sie haben wohl ein gutes Verhältnis zu Ihren Kindern.“
„Ja, nachdem mein Mann verstorben ist, besuchen mich vor allem meine ältere Tochter und mein Sohn. Sie sind beide Lehrer und helfen mir, mich zurechtzufinden.“
„Das ist schön für Sie und auch für Ihre Kinder. Aber ich wollte Sie gerne auf etwas anderes ansprechen. Es fällt mir nicht leicht, denn ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe den Eindruck, dass Sie in Ihrer Kindheit Ungewöhnliches erlebt haben.“
Frau Waller schaute Herrn Ligull interessiert an. „Das kann Ihnen niemand erzählt haben. Wie kommen Sie darauf. Und überhaupt: Sind Sie Pfarrer?“
Herr Ligull schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin kein Pfarrer geworden, aber das ist eine lange Geschichte für einen anderen Tag. Ich bin gerne allein. Denn sobald ich mit anderen Menschen zusammentreffe, spüre ich, was sie beschäftigt und wie es ihnen geht. Das ist sehr anstrengend, besonders wenn viele Menschen um mich sind.“
„Oh ja, ich verstehe Sie sehr gut. Ich habe mit meinem Mann zusammengelebt und die Kinder waren bei uns, als sie noch klein waren. Aber darüber hinaus hatte ich kaum Kontakte, weil es mir regelrecht wehgetan hat, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Eine Freundin sagte mir mal, ich sei ein sehr empathischer Mensch.“
Das Wort empathisch sprach Frau Waller sehr konzentriert und akzentuiert aus, als ob sie es Buchstabe für Buchstabe auswendig gelernt hätte.
Herr Ligull, der neben ihr in seinem Rollstuhl saß, nickte nur und lächelte sie freundlich an.
„Ich wurde Weihnachten 1927 in Ostpreußen geboren. Mein Vater war Lehrer in einem kleinen Dorf. Kurz vor meinem siebten Geburtstag, ich ging noch nicht zur Schule, kam er nach Hause und sprach lange mit meiner Mutter. Dann packten sie mehrere Koffer und Truhen und sagten mir, wir würden verreisen. Dann zogen wir mit dem kleinen Pferdefuhrwerk meines Vaters tief in den großen Wald hinein. Ich kannte den Wald, aber so weit war ich noch nicht gekommen. Bald war mir ein wenig unheimlich. Bäume und Büsche standen dicht beieinander, es war dunkel und ein Weg war kaum zu erkennen. Überall waren Vögel und andere Tiere zu hören und kein Mensch schien hier unterwegs zu sein. Schließlich nahmen meine Eltern zwei große Koffer vom Fuhrwerk, das stehenblieb, und wir schlängelten uns durch ein dichtes Gebüsch. Es war kaum etwas zu erkennen. An den wenigen Laubbäumen hingen zwar keine Blätter, aber die Pflanzen waren so ineinander verwachsen, dass ich kein Fleckchen vom Himmel sehen konnte und einen Weg schien es gar nicht mehr zu geben. Schließlich kamen wir zu einem kleinen alten, baufälligen Häuschen mitten in einem Brombeerdickicht. Dort lebten wir dann viele Jahre.“
Frau Waller schwieg, in Gedanken versunken. Auch Herr Ligull erwiderte zunächst kein Wort, fragte dann aber: „Haben Ihre Eltern Ihnen erzählt, warum die Familie in den Wald geflohen ist?“
„Ich habe erst nach dem Krieg von Bekannten aus meinem Heimatdorf erfahren, dass wir Juden waren. Ich habe nie bemerkt, dass meine Eltern jüdische Bräuche beachtet hätten, aber mein Vater litt wohl unter heftigen Anfeindungen einiger Menschen aus unserem Dorf. Weil unser Pferd ein Gewohnheitstier war, trabte es mit dem Wagen und dem restlichen Gepäck zurück ins Dorf. Die Leute dort nahmen daher an, dass wir uns im Wald das Leben genommen hätten und vergaßen uns sehr schnell.
Mein Vater versprach mir, mich zu unterrichten. In den beiden Koffern waren vor allem Konserven und ein wenig Kleidung. Aber meine Eltern waren den ganzen Tag im Wald unterwegs, um genug zu Essen zu finden und ich musste mich alleine in der kleinen Hütte beschäftigten. Wenn ich zurückdenke, kann ich gar nicht viel zu dieser Zeit erzählen, denn es geschah so wenig, dass eine Woche der anderen glich. Aber es müssen Jahre gewesen sein. Ich wurde zur Frau, aber unsere kleinen Ereignisse gingen in dem Geschehen der Welt um uns herum unter. Es herrschte Krieg. In der Ferne hörten wir Geschützdonner und Motorengeräusche. Wir lebten in der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Der Lärm in der Nacht kam immer näher und mein Vater gab mir den Rucksack, mit dem meine Eltern immer den Wald durchstreiften. „Hier hast du Essen, Kleidung und einige Kleinigkeiten. Und das ist ein Kompass. Geh immer nach Westen.“ Und er zeigte auf ein Zeichen auf dem Kompass. Er legte mir seine Hände auf den Kopf: „Der Allmächtige segne dich. Und nun verschwinde, so schnell du kannst.“
Ich zog meine Wanderschuhe und einen Mantel an, der Herbst hatte schon begonnen. Dann stolperte ich aus der Hütte und rannte durch den Wald, solange ich laufen konnte. Ich habe meine Eltern niemals wiedergesehen. Ich erinnere mich kaum noch, wie sie aussahen.“
Frau Waller seufzte und dann saßen die beiden schweigend auf der Parkbank. Schließlich wandte Herr Ligull sich ihr wieder zu: „Sie haben ja offensichtlich den Krieg und ihre Flucht überlebt. Das war gewiss eine schlimme Zeit. Was erinnern Sie denn noch?“
„Der Krieg kam immer näher. Aber anscheinend mochte niemand den großen dunklen Wald durchqueren. Er war ungepflegt, überall wucherten Ranken und Büsche. Tote Bäume lagen kreuz und quer, selbst für einen kleinen, einsamen Menschen war es nicht einfach, voranzukommen. Dann, eines Nachts, waren die Motorengeräusche nicht mehr hinter mir, sondern sie kamen von allen Seiten und wurden immer lauter. Panisch versuchte ich, in ein Fichtendickicht zu kriechen und fiel in ein Loch. Eine Zeitlang war ich von dem Sturz benommen. Als ich herumtastete, merkte ich, dass die Kuhle mit Moos ausgepolstert war. Aber die Wände waren sehr trocken. Wahrscheinlich war dieses Versteck schon lange verlassen. Über mir stapften Männer durch den Wald, die sich Worte zuriefen. Ihre Sprache verstand ich nicht. Es waren sicher keine Deutschen. Da ich als Kind auch ein wenig polnisch gelernt hatte, aber kein bekanntes Wort hörte, kamen diese Männer wohl von ganz woanders her.
Ich blieb in der Kuhle. Die Trinkflasche hatte ich gerade aufgefüllt und so trank ich jeden Tag von meinem Wasser und aß mittags zwei Haferkekse. Nach drei Nächten war der Lärm weit vor mir. Im Wald sangen einige Vögel, aber andere Tiere bekam ich nicht zu Gesicht. Sollte ich zurückgehen? Würde ich unsere Hütte überhaupt wiederfinden? Gab es denn noch eine Hütte? Ich hatte schreckliche Angst, rollte mich zusammen und weinte lange Zeit. Dann kroch ich aus der Kuhle und ging weiter in Richtung der Doppelzacke.
Nach einigen Tagen kam ich mittags an einen kleinen See. Ich hatte schon lange keinen Menschen mehr gesehen oder gehört und auch hier war alles still und so traute ich mich. Ich zog meine Kleidung aus und ging in das eiskalte Wasser. Dann wusch ich auch mein Zeug mit dem Stückchen Seife, so gut es ging. Am Ufer waren mehrere Felsen, die von der Sonne beschienen wurden. Dort breitete ich die Sachen aus und zog mir das Ersatzkleid aus dem Rucksack an. Ich lehnte mich an einen Felsen und träumte vor mich hin. Als ein Ast knackte, war ich sofort hellwach. Ich wollte das nasse Zeug in den Rucksack stopfen und weglaufen, aber da sah ich ein kleines Mädchen, das winkend auf mich zugelaufen kam. „Nie bój się“, rief sie. „Hab keine Angst“, übersetzte ich mir ihre Worte.
Sie war bei mir angekommen und zog mich am Arm: „Proszę pomóż mi.“ „Bitte hilf mir.“
Sie schien sehr aufgeregt, aber verletzt war sie, soweit ich sehen konnte, nicht. Ich nahm meinen Rucksack und die feuchte Kleidung, dann ließ ich mich von ihr den See entlang führen. Wir kamen an eine kleine Fischerhütte, die völlig von Waldreben überwuchert war, so dass ich sie aus der Ferne gar nicht bemerkt hatte.
Auf dem Boden in der Hütte lag in einem warmen Nest von Wolldecken und Schaffellen ein Säugling, hochrot im Gesicht, und wimmerte. Das Mädchen gab mir eine Glasflasche und deutete auf etwas. Es war wohl eine Gebrauchsanweisung, aber ich konnte sie nicht lesen. Ich schüttelte hilflos den Kopf.
„Nie rozumiesz niczego po niemiecku?“, fragte sie mich. „Verstehst du kein Deutsch?“
Ich wurde erst rot und dann blass. Ich wollte nicht antworten, aber ich konnte nicht stumm bleiben. „Ich kann nicht lesen“, jammerte ich. Die polnischen Worte fielen mir nicht ein. Ich war entsetzt, weil ich mein Geheimnis offenbart hatte. Was würde mir jetzt geschehen? Aber das Mädchen fasste mich an der Schulter und zog mich auf den Boden. „Lena“, sagte sie und zeigte auf sich. Dann setzte sie sich dicht neben mich. Sie wies auf den Säugling: „Anuschka“. Dann las sie in dem schwachen Licht, das durch ein kleines Fenster fiel, den Text vor. Sie hatte mein Problem verstanden und schien es hinzunehmen. Ihre Aussprache war zwar schauderhaft, aber ich verstand genug, um zu wissen, wie man aus dem Pulver in der Flasche eine fiebersenkende Medizin für Säuglinge anrührte. Als wir soweit waren, sagte ich nur „Danke“, zeigte auf mich und nannte ihr meinen Namen: „Grete.“
Es dauerte drei Tage, das Pulver war fast alle, aber dann ging es der kleinen Anuschka besser. Und auch ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Lena besorgte jeden Tag von irgendwoher Milch und Gemüse. Wenn sie Essen zubereitete, sammelte ich Holz im Wald, mit dem wir den Kanonenofen in der Hütte heizen konnten. Mehr mit Händen und Füßen als mit meinen polnischen Brocken erfuhr ich, dass auf ihrem Hof kein Mensch mehr lebte. Anscheinend waren sie alle geflohen. Nur eine magere Kuh war noch da, die sie melken konnte, und im Keller lagerte Wintergemüse. Aber es wurde immer kälter, immer mehr Schnee fiel und als ein Flüchtlingstreck in der Nähe vorbeikam, liefen wir ihnen entgegen und sie nahmen uns mit.“
Wieder saßen sie schweigend auf der Parkbank. Frau Waller setzte einige Male an, verstummte aber schnell wieder. Herr Ligull rührte sich nicht, blieb lange still, sah sie aber freundlich an. Dann sagte er leise: „Versuchen Sie doch, zu erzählen, was Ihnen nicht so viel Angst und Kummer macht. Es gab doch auch schöne Momente.“
„Ja, schon. Aber es ist zu schrecklich. Ich kann von dieser Zeit nicht erzählen. Nach wenigen Tagen wurde ich krank und hatte lange hohes Fieber. Eine Frau kümmerte sich um mich, aber ich erinnere nur wenig. Einmal fragte sie mich, ob Lena taub sei, weil wir immer nur mit Zeichen miteinander sprachen. Eines Abends trug mich ihr Mann in ein Haus, legte mich auf ein richtiges Bett und meinte: „Jetzt sind wir zu Hause.“
Ich schlief drei Tage lang und dann erfuhr ich, dass wir tatsächlich in Deutschland waren. In dem Land, das jetzt noch Deutschland war. Wir lebten im Haus der Eltern der Familie, die sich um uns gekümmert hatte. Die waren so glücklich, dass ihre Kinder und Enkel wohlbehalten angekommen waren, dass sie auch uns drei dankbar und freundlich annahmen. Viele Monate blieben wir bei der Familie und kamen wieder zu Kräften. Dann wurden Lena und Anuschka abgeholt, sie hatten mit Hilfe des Roten Kreuzes ihre Tante gefunden. Eine Woche später erhielt Herbert, der älteste Sohn, einen Brief. Er hatte einen Ausbildungsplatz in Hessen bei der Bahn bekommen. An dem Abend fragte er mich, ob ich ihn heiraten und mit ihm gehen wolle. Dieser Abend ist mir immer noch so deutlich in Erinnerung. Wie gerne hätte ich Ja gesagt, aber ich durfte ihm meine Schande nicht verschweigen. Mir flossen nur so die Tränen und ich schluchzte: „Aber ich kann dich nicht heiraten. Ich bin nie zur Schule gegangen. Ich kann nicht rechnen und schreiben oder lesen. Was kannst du schon mit mir anfangen. Ich bin doch nur ein Klotz an deinem Bein.“
Und was tat dieser Unmensch? Er lachte laut und lange, während ich vor mich hin heulte. Aber dann nahm er mich in den Arm und knuddelte mich so lange, bis ich aufhörte zu weinen.
„Wir brauchen dich doch. Du bist so freundlich und lieb, dass es uns allen gleich besser geht, wenn du bei uns bist. Meinen Eltern, meinen Schwestern, den beiden Mädchen und vor allem mir. Deshalb will ich dich ganz gewiss nicht verlieren, sondern ich möchte viele Kinder mit dir haben, die genau so fröhlich und lieb sind wie du.“
Mehr als sechzig Jahre lang erlebte ich keinen Augenblick mit Herbert, in dem ich dachte: „Hätte ich nur was gelernt.“
Aber meine Angst blieb im Verborgenen und ich erzählte meinen Kindern nichts von meinen Schwierigkeiten. Ich dachte wirklich, es würde ihnen nichts ausmachen. Heute weiß ich, dass sie mir lange böse waren, weil ich ihnen nicht bei ihren Hausaufgaben geholfen hatte. Das macht mich jetzt sehr traurig.“
Peter Ligull schwieg mehrere Minuten, bis er merkte, dass Frau Waller unruhig wurde und davonhuschen wollte. Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter und meinte: „Sie sind doch auch heute so ein lebensfroher Mensch. Sie brauchen sich nicht zu verstecken. Ihre Kinder lieben Sie und sind Ihnen sicher nicht mehr böse. Das habe ich gesehen, wenn sie zusammen bei den Kaffeenachmittagen waren. Sie haben mir am Anfang unseres Gespräches von Ihrer Empathie erzählt. Mit anderen Menschen mitzufühlen und ihre Stimmungen zu spüren, kann sehr niederdrückend sein. Aber Sie können sicher auch Menschen, die Ihnen traurig scheinen, mit einem Lächeln aufheitern. Dabei brauchen Sie gar nicht auf sie zuzugehen oder lange Gespräche zu führen. Lächeln Sie, seien Sie wieder fröhlich. Die anderen werden schon merken, dass Ihre Freundlichkeit aus Ihrem Herzen kommt und schon ist die graue Maus verschwunden und kommt nicht mehr wieder.“
Frau Waller meinte recht ungläubig: „Das klingt aber sehr einfach.“
„Und das ist es im Grunde auch. Ich muss es selber wieder lernen, mich anderen Menschen zuzuwenden. Aber ich bin sicher, dass es Ihnen gelingen kann. Sie haben ja schon einen großen Schritt getan und mir aus ihrer Kinder- und Jugendzeit erzählt. Gerade schlimme und bedrückende Erlebnisse vergraben wir gerne ganz tief in uns, wo sie uns quälen. Aber jetzt können Sie sich dem heutigen Tag zuwenden und ihn ohne die dunklen Wolken der Vergangenheit genießen.“
Herr Ligull lächelte Frau Waller an, die zaghaft ihre Mundwinkel verzog: „Nur Mut!“
Und endlich lachte sie fröhlich.

 
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Lieber jobär,

ich habe die anderen Texte aus der Serie nicht gelesen, sondern aus den Thread dazu entnommen, dass es sich um jeweils abgeschlossene Geschichten handelt. Mich hat das Thema Flucht gereizt, aus aktuellen Gründen, wohl wissend, dass viele alte Menschen hier auch Fluchterfahrungen haben. Deine Protas sind Heimbewohner, die - so habe ich es verstanden - sich schon länger kennen.

Insofern hat mich gewundert, dass Herr Ligull fragt: "Sie sind wahrscheinlich nicht Frau Waller?". Sollte dies als scherzhafte Gesprächeröffnung gemeint sein?

Also die beiden kommen ins Gespräch. Frau Waller erzählt in einem Monolog am Stück ihre ganze Lebensgeschichte. Darin ist viel verpackt, für mich zu viel auf einmal.

Ich wusste nicht genau, worauf ich mich konzentrieren sollte, auf ihr Schicksal als Jüdin, auf die Gefahren der Flucht, auf die glückliche Fügung,eine Familie gründen zu dürfen oder dem Problem des Analphabetismus in unserer Gesellschaft.


Sollte der Text mir vorgelesen werden, würde ich sehr schnell ermüden und wahrscheinlich in eigene Erinnerungen abdriften.
Das liegt auch an dem durchgängig verwendeten Präteritum. Sosprechen Menschen in Gesprächen selten.
Helfen könnte mMn, wenn Herr Ligull, der empathische Mitbewohner, den Redefluss immer mal wieder unterbrechen würde durch teilnahmsvolle Zwischenfragen. Denn eine Beichte will er ja nicht abnehmen, sondern eher ein "therapeutisches" Gespräch führen. Hat er dazu im Heim einen Auftrag oder hat er sich selbst dazu berufen?

Der Schluss ist mir etwas zu glatt. Zumindest sollte Herr Ligull testen, ob Frau Waller an weiteren Gesprächen interessiert ist. Mir kommt sie am Ende ein ganz klein wenig eingeschüchtert vor.;)

Zum sprachlichen Teil nur wenig.

In der höflichen Rede werden Personalpronomen und Possessivpronomem großgeschrieben.
Beispiel:
"Ich habe Sie öfter gesehen ..."

"Sie haben wohl ein gutes Verhältnis zu Ihren Kindern?"

Da solltest du nochmals drüberschauen, auch auf Kommas.


Herzliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo wieselmaus,

danke für deinen Kommentar. Inhaltich muss ich über deine Vorschläge noch nachdenken, aber zu den "Ungereimtheiten". Es sollten alles abgeschlossenen Geschichten sein, tatsächlich hat aber diese Geschichte zwei Vorgeschichten, Sewa - Kringel - Haken - Kreis (5), in der es um Frau Waller und ihren Analphabetismus geht sowie Sewa - Routine (6), in der es auch darum geht, dass Herr Ligull nahegelegt wird, sich um Frau Waller, die er bis dahin nur als huschende graue Maus erlebt hat, zu kümmern. Ich habe mich auch gefragt, ob das gut geht, wenn man die Geschichten aufeinander bezieht, aber barnhelm hatte vorgeschlagen, über die Bewohner der Altenwohnanlage mehr zu erfahren. Jetzt überlege ich, ob ich diese Verbindungsglieder auch in der neuen Geschichte anbringe, so dass deutlicher wird, worum es geht.

Liebe Grüße

Jobar

 
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Hallo jobär,

ich hätte mich noch zu deiner Geschichte geäußert, war aber im Moment mehr mit 'außerhäusigen' Aktivitäten beschäftigt.

Grundsätzlich finde ich es gut, dass du die einzelnen Menschen, ihre Eigenart und ihr Schicksal stärker in den Fokus rückst.

Jetzt überlege ich, ob ich diese Verbindungsglieder auch in der neuen Geschichte anbringe, so dass deutlicher wird, worum es geht.

Ja, das müsste mMn auf jeden Fall sein. Sonst steht nämlich die Begegnung der beiden ein bisschen im Nirgendwo. Allein schon die Bemerkung

Dann seufzte er: „Ich habe verstanden. Ich gehe ja schon.“

wirkt ja sehr geheimnisvoll und muss enträtselt werden können. Und auch der Ausspruch Ligulls:

Denn sobald ich mit anderen Menschen zusammentreffe, spüre ich, was sie beschäftigt und wie es ihnen geht. Das ist sehr anstrengend, besonders wenn viele Menschen um mich sind.“

ist ja etwas, was du nur ansprichst, was dann den Leser in eine Fragehaltung (Wer ist das eigentlich, der Herr Ligull? Was ist mit ihm los?) bringt, was du ihm aber in diesem Text nicht beantwortest.

Und dann finde ich auch wieselmaus Vorschlag, die Geschichte von Frau Waller dialogartiger zu entwickeln, sehr gut. Da kommt dann mehr Dynamik in das erzählte Geschehen und es wird nicht einfach nur runtererzählt.

Noch eine Anmerkung: Ich habe das Gefühl, dass die Farbe Grau, wenn du sie als Nomen verwendest, auch groß geschrieben werden sollte.
jobär, ich wünsche dir ein sonniges Herbst-Wochenende.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo barnhelm

veieln Dank für deinen Kommentar. Ich habe gaerade die Neufassung des Tetxtes fertig mit den Verbindungen, die jetzt fehlen und einigen kurzen Dialogen und werde sie jetzt einstellen.
Zum Grau habe ich nach dem Duden an einer Stelle Grau geschrieben. Das grau in grau habe ich in beiden Varianten gefunden - klein und groß - ich habe mich da jetzt auch für Großschreibung entschieden.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hallo jobär,

mal wieder Zeit, bei Dir vorbeizuschauen, umsomehr ,als ich derzeit (was heißt derzeit – eigentlich schon seit der Begegnung mit ...ela vor zwo Jahren) mit Flüchtlingen (die säuselnde Willkommens- und Genderkultur meint mit der Präposition „Geflüchtete“ irgendwas zu verbessern) zu tun hab und gerade zur Rezession zu Sinhas „Erschlagt die Armen“ auch andere Flüchtlingsschicksale durchgesehen hab* und jetzt in "Gehen, ging, gegangen" wieder von anderen erfahren werde. Meine Frau Mutter, Hugenottenabkömmling, kam mit der gesamten Familie aus Ostpreußen - aber bereits in den 1920-er Jahen der Arbeit wegen ins Ruhrgebiet. Seltsam, dass es immer noch Ostpreußische Heimatvereine gibt. Heimat als Religionsersatz sozusagen.

Da zieht mich ein solcher Titel wie hier förmlich an.

Alles schon gesagt von den Vorgängerinnen, dass ich mich vor allem den Flusen widmen kann.

Und da geht's gleich los:

Er hatte einmal Pfarrer werden wollen, hatte sich aber verheiratet und besonders nach dem Tod seiner Frau in Meditation und Stille zurückgezogen.
Warum das Reflexivpronomen?
Eine unglückliche Formulierung, finde ich „hatte sich verheiratet“ - klingt so, als hätte Herr Ligull auf dem Standesamt den Beamten nebst Bräutigam gegeben und ggfs. in der Kirche das große Wort geführt (immerhin wollte er ja Pfarrer werden, da ist die kirchl. Trauung mehr als wahrscheinlich) und das Jawort gegeben. Zugespitzt gesagt: Herr Ligull schaute in einen Spiegel neben seiner künftigen Frau, als er sowohl in staatlichem wie in kirchlichem Dienst das Jawort einforderte und erhielt.
Besser also ohne Reflexivpronomen „hatte aber geheiratet“.

Hier ist der Punkt nachzutragen

Ihm war jetzt gar nicht wohl bei dem Gedanken, sich mit ihr zu treffen[.] Er zog ...
wie überhaupt einiges an Flüchtigkeit drinsteckt
Kurz vor meine[m] siebten Geburtstag, …

Hier halt ich für eindeutig, dass alt und baufällig gleichrangig sind und damit durch Komma zu trennen, selbst wenn die Architektur heute schon so weit ist, dass auch schon mal ein Neubau zusammenstürzt ...
Schließlich kamen wir zu einem kleinen alten[,] baufälligen Häuschen mitten in einem Brombeerdickicht.
Tote Bäume lagen kreuz und quer, selbst für einen kleinen[,] einsamen Menschen war es nicht einfach, voranzukommen.

„Ich habe erst nach dem Krieg von Bekannten aus meinem Heimatdorf erfahren, dass meine Eltern Juden gewesen waren.
Obwohl ich wörtl. Rede ungern korrigier (schließlich ist sie das, was der Sprechende an eigenem Bewusstsein preisgibt gegenüber dem Anderen, dem Zuhörer, es und sich quasi selbst entfremdet), aber das Kind, die kleine Frau Waller - wieselmaus hat es schon wie nebenbei erwähnt - ist selbst mosaischen Glaubens, weil das Judentum durch die Mutter weitergegeben wird (ein Rest des Matriarchats?). Auch das gedoppelte „sein“ ist entbehrlich, da die Eltern einfach Juden waren.

Dann stolperte aus der Hütte und rannte durch den Wald, solange ich laufen konnte.
Da fehlt das Pronomen "ich" stolperte

Dann, eines Nachts[,] waren die Motorengeräusche nicht mehr hinter mir[,] sondern sie kamen von allen Seiten und …
Dann wusch ich auch mein Zeug mit dem Stückchen Seife[,] so gut es ging.
Als ein Ast knackte[,] war ich sofort hellwach.
„Nie rozumiesz niczego po niemiecku?“[,] fragte sie mich.
Sie hatte mein Problem verstanden und schien es [...] hinzunehmen.
Nur eine magere Kuh war noch da, die sie melken konnte[,] und im Keller lagerte Wintergemüse.
Einmal frag[t]e sie mich, ob Lena taub sei, …

Gern gelesen vom

Friedel,
der noch einen schönen Sonntag wünscht!

* Lesenswert davon auf jeden Fall „Wann hört es auf? Nie.“, wo Peter Härtling und Abbas Khider, der eine vor der Roten Armee, der andere vor Saddam Hussein geflohen ist, in Chrismon 08.2016, S. 24 ff. Das Gespräch ist auch im Internet eingestellt

 

Lieber Friedel,

nachdem ich mich von Geburtstagsfeier, Kuchen mit Sahne, Musik auf alten Instrumenten und vielen Gesprächen wieder erholt hatte, habe ich mich deinem Kommentar zugewandt. Ich freue mich sehr über das aufmerksame Lesen und Korrigieren, auch wenn mir die hohe Zahl der Kommafehler ein wenig peinlich ist. Ich hoffe, ich habe alles berichtigt.

Da der Sonntag nun für eine Woche vorbei ist, wünsche ich dir eine friedvolle Woche in all den Fluchtbewegungen.

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Ist nix Peinliches, kann jedem widerfahren ... Aber Geburtstagsfeier, alte Instrumente ..., Grund genug, noch mal ins Haus Sewa reinzuschauen ...

Bis gleich

Friedel

 

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