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Sonja
„War ein Sonnenuntergang schon schön, bevor das erste Gedicht darüber geschrieben wurde?“
Sonja schnitt ein Stück von ihrem Steak ab und schob es sich in den Mund. Schmatzend betrachtete sie die dürren Kerzen, die in der Tischmitte standen und vom Gewicht der blassen Flammen langsam zerdrückt wurden.
Heinrichs klebrigsüßes Lächeln sackte in sich zusammen, die Fältchen unter seinen Augen wanderten zur Stirn, zogen sein Gesicht in die Länge, ließen es altern, doch dann schoben sich seine Mundwinkel wieder auseinander, brachten das Siruplächeln zurück. Sonja wäre nicht überrascht gewesen, wenn sich Fliegen auf seine Lippen gesetzt hätten.
„Wen interessieren Sonnenuntergänge? Man sollte Gedichte über dich schreiben“, säuselte er, stützte den Ellenbogen auf den Tisch, ließ seinen Kopf gegen die Handfläche kippen und betrachtete die junge Frau mit halbgeschlossenen Augen.
Sonja würgte die breiige Fleischmasse herunter, legte ihr Besteck auf den Teller und stupste mit dem Zeigefinger eine der runzligen Rosenblüten an, die das weiße Tischtuch bedeckten wie Furunkel.
„Neben dir verblasst jeder Sonnenuntergang“, fuhr Heinrich mit einer Stimme fort, die nach den Plüschherzchen klang, die er als Kissen auf der Couchgarnitur verteilt hatte. „Neben dir verblasst eigentlich alles.“
Sonja beobachtete, wie sich auf ihrem Teller fettäugiges Blut mit dunkler Pfeffersoße vermischte und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Heinrichs Sätze waren Romeo und Julia-Zitate, obwohl er vermutlich noch nie Shakespeare gelesen hatte. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
„Noch etwas Wein?“, fragte Heinrich und griff nach der Flasche.
Sonja schüttelte den Kopf. Parfümgeruch wehte ihr entgegen – eine Mischung aus herber Männlichkeit, melancholischer Süße, metrosexueller Fruchtigkeit und Terpentin. Kostüme aus dem Flakon, Identitäten zum Aufsprühen.
Der Mief schwebte träge in der Luft wie der ewige Geist der Liebe, der mit knisternder Stimme einen französischen Chanson vertrug. Die sanften Klänge verfingen sich in den zahllosen Romantikaccessoires, verschmolzen mit der sakralamourösen Atmosphäre des Wohnzimmers, so dass man nicht mehr wusste, was zuerst da gewesen war – das Lied oder der Raum.
„Du bist heute so schweigsam.“ Heinrich knickte das Handgelenk ab und ließ seinen Zeigefinger über den Rand des Weinglases gleiten. In diesem Satz hatte eine Vertrautheit gelegen, die eher zu einem zehnten Hochzeitstag gepasst hätte, als zum ersten Rendezvous.
„Bin ich das?“
Heinrich nickte sanft.
„Hab letzte Nacht schlecht geschlafen.“ Sonja zuckte mit den Schultern. „Bin einfach ein bisschen müde.“
„Wir müssen nicht reden, wenn du nicht willst. Schweigen ist die Sprache der Liebe.“
„Wenn du meinst.“ Über Sonjas Gesicht huschte ein Lächeln, das lediglich der Rückstand eines unterdrückten Lachens war. Früher hatten sie solche Phrasen beeindruckt, doch diese Zeiten waren vorbei.
„Das solltest du öfter machen.“
„Was?“
„Lächeln. Dann öffnet sich dein Gesicht nämlich wie eine Knospe.“
Sonja kippte ihr Stirnrunzeln dem soßenbesudelten Rand ihres Tellers entgegen.
„Du kannst abräumen, wenn du willst“, sagte sie.
„Natürlich.“ Heinrich erhob sich, stellte die Teller übereinander und verschwand mit dem Geschirr in der Küche.
Sonja konnte durch die geöffnete Tür sehen, wie er an der Spüle stand und das Wasser aufdrehte. Sie betrachtete seinen Rücken, die schmalen Schultern, das schwarze Haar, das sich in seinem Nacken kräuselte, die leicht abstehenden Ohren, beobachtete, wie er sich bewegte, wie er, anmutig auf den Ballen balancierend, die Teller mit der für ihn typischen Leichtigkeit in die Spüle stellte, wie ...
Sonja erschrak, als sie ihren Blick bemerkte und riss ihn von Heinrich los. Sie füllte ihr Weinglas nach, leerte es hastig, schloss die Augen und ließ den Inhalt ihres Kopfes in die stumpfrotschimmernde Lidnacht abfließen.
„Wollen wir es uns nicht gemütlicher machen?“ Heinrich war hinter sie getreten, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Sonja öffnete die Augen und sah sich flüchtig um.
Heinrichs Finger glitten von ihrem Pullover. Er pustete die Kerzen aus und deutete zum Sofa, auf dem der warme Schein eines kalten Breitbildkaminfeuers lag.
Sonja hob den Arm und sah auf ihre Uhr, obwohl sie wusste, dass es viel zu früh war.
„Ich muss los“, sagte sie.
„Jetzt schon? Aber ...“ Heinrich ließ seine einladende Geste fallen. Die Enttäuschung verlieh seiner Haltung etwas anrührend kindliches. „Ich dachte, du musst erst um ...“
„Tut mir leid.“ Sie umarmte Heinrich, der ihre Umarmung nicht erwiderte, eilte in den Flur und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus mischten sich Heinrichs verhaltene Schritte kurz unter ihr Stakkatogetrippel, zogen sich dann wieder zurück und verschwanden hinter dem Krachen der Wohnungstür.
Sonja trat auf die Straße hinaus und schob die Ärmel ihres Pullovers zu den Handgelenken. Die Luft hatte sich abgekühlt, roch aber noch nach Sonne. Der Rest des Tages hing als dunkelblauer Streifen über den Häusern und verschwand langsam hinter der vom Stadtlicht entsternten Kuppel der Nacht.
Sonja wartete, bis die Haustür zugefallen war, sprang vom Trittstein und ging den Fußweg entlang, bog ab, näherte sich einer Bushaltestelle. Sie atmete durch den Mund, um den penetranten Odem des Frühlings aus ihrer Nase zu verscheuchen. Es war einer dieser Abende, die die Einsamen mit ihrer süßlichen Schwere erdrückten und die Gemeinsamen aneinander aufquellen ließen, einer dieser Abende, die sie hasste.
Sonja wechselte die Straßenseite, lehnte sich gegen das Haltestellenschild, rieb ihre spröden Strichlippen, auf denen noch immer das Knospenlächeln brannte, und blickte die schweigende Straße hinauf. In der Ferne hob sich die Schornsteinsilhouette eins Kirchturms gegen den dunklen Himmel ab, seine Uhr dröhnte, vertonte den Verfall.
Sonja wusste nicht, wann der nächste Bus kommen würde und verspürte kein Bedürfnis, einen Blick auf den Fahrplan zu werfen. Sie hatte es nicht eilig und mochte diese Momente der Langeweile, in denen sich die Zeit dehnte, bis sie riss und ein fahles, aufgeblähtes Jetzt enthüllte. Trotzdem spürte sie, wie der Abend auf ihrer Einsamkeit zu lasten begann. Sie schüttelte sich, stellte ihre Handtasche zwischen die Füße und passte ihre Haltung dem starren Metallpfosten an.
Ihre Einsamkeit war eine selbst gewählte und notwendige Einsamkeit. Wer wirklich glücklich sein wollte, der durfte keine Zukunft kennen, und keine Zukunft kannten nur die, die alleine waren.
Sie glaubte nicht, dass sie Heinrich wiedersehen würde.
*
Sonja presste ihre Wange auf den sperrholzharten Samtbezug, leckte sich über die Lippen und ließ ihren Slip von ihrem baumelnden Fuß gleiten. Die Drehbühne, auf der sie lag, quietschte müde.
Blicke drangen durch die Plexiglasscheibe, rieben sich an ihr, formten sie langsam. Sie härtete in der Bühnenhitze aus, fühlte ihre Brüste unter den Händen, ihre Nippel, die sich in ihre Haut gruben.
Die verspiegelten Fenster der Einzelkabinen schoben sich in ihr Sichtfeld. Sonjas Blick verschmolz mit dem der unsichtbaren Gaffer, die in den engen Zellen hockten, wurde eins mit ihm und gerann zum Abbild ihres Körpers, das sich auf den Scheiben räkelte. Sie beobachtete, wie ihre Hand über ihren Bauch glitt, sich in ihrem Schritt versenkte, wie ihr Mund sich mechanisch zu einem stummen Stöhnen öffnete, wie sich ihre Schulterblätter vom Samt lösten, sich ihr Oberköper aufrichtete, wie ihre Fingernägel Furchen in ihren Schenkel gruben, durch ihr rotes Haar strichen, dann verschwanden die Einzelkabinen, wichen dem Zuschauerraum. Eine Sirene ertönte und beendete ihren Auftritt.
Die dumpf hämmernde Musik verstummte, die Drehscheibe stoppte. Sonja griff nach ihrem Slip, verteilte lächelnd Kusshände, die am Plexiglas abprallten, verließ die winzige Bühne durch eine Seitentür und betrat die Garderobe.
Chantal, die vor dem Schminkspiegel saß, rückte mit ihrem Stuhl näher an die Wand heran. Sonja zwängte sich zwischen ihr und einem alten Sofa hindurch und griff nach ihren Kleidern, die auf einem Cocktailtischchen lagen.
„Wie ist das Publikum heute?“, nuschelte Chantal, während sie sich knallrote Lippen ins Gesicht malte.
„So wie immer.“
„Gut.“ Chantal saugte ihre Unterlippe ein und spuckte sie schmatzend wieder aus.
Sie arbeitete erst seit einer Woche hier. Sonja kannte ihren richtigen Namen nicht, interessierte sich aber auch nicht sonderlich dafür. Es war unwichtig, wie man jenseits dieser Mauern hieß. Man gab seinen Namen an der Tür ab und bekam eine Typbezeichnung. Chantal war immer blond, immer mittelgroß und immer Anfang dreißig. Und das seit über zwanzig Jahren.
„Was soll eigentlich diese komische Scheibe vor der Bühne?“ Chantal schmiss den Lippenstift in ihr Schminktäschchen, warf einen hektischen Blick auf die Wanduhr und stand auf. „War die schon immer da?“
„Keine Ahnung.“
„Schlecht für das Trinkgeld, was? Müssten die ja drüber werfen.“
Sonja zuckte mit den Schultern, während sie in ihre Jeans schlüpfte. Sie arbeitete hier nicht des Geldes wegen, sondern um gesehen zu werden, weil sie begehrt werden wollte, ohne selber begehren zu müssen.
Eine ehemalige Freundin, die eine der zahllosen Chantals gewesen war, hatte ihr den Job besorgt, und seitdem trat sie hier zwei Mal in der Woche auf.
Die Sirene ertönte, Musik setzte ein. Chantal warf einen letzten Blick in den Spiegel, zupfte an ihren Strapsen herum und eilte mit kleinen, hochhackigen Schritten zur Tür.
„Viel Spaß“, rief Sonja in ihren Pullover.
Als ihr Kopf aus dem Polyestermeer auftauchte, war Chantal bereits verschwunden. Männerstimmen jubelten, grölten, lachten, Glas klirrte. Die Musik, die nur aus Bass zu bestehen schien, klang, als wenn jemand Pappkartons zertreten würde.
Sonja griff nach ihrer Haarbürste und ging vor dem Spiegel in die Hocke. Ihr Gesicht wirkte auf sie fremd und gleichzeitig vertrauter denn je; ein Gemälde, das ein leidenschaftlicher Pinsel geschaffen hatte, ein Portrait, auf dem sie sich durch die Augen des Künstlers sah. Das idealisierte Gesicht auf der Leinwand lächelte.
Sonjas ungekämmter Kopf durchbrach den Plastikrahmen des Spiegels. Sie packte den Tragegurt ihrer Handtasche, ging in den Zuschauerraum und stellte sich an die Theke. Auf ein Handzeichen hin schob ihr der Besitzer des Ladens, ein hagerer, schweigsamer Italiener, der mit seinen Gästen ausschließlich per Kassenbon und Wechselgeld kommunizierte, eine Flasche Bier vor den aufgestützten Ellenbogen.
Sie trank einen Schluck, schlenderte zu der Vitrine mit den Pornofilmen, die im hinteren Teil des Raumes stand und begutachtete das aktuelle Sortiment, während Pfiffe die Bühne stürmten. Schlampen tanken Sperma Vol. I war durch den zweiten Teil ersetzt worden, Dr. Kot und Professor Bondage flirteten mit den Oberschwestern im Schwanzfieber und neben dem Geilen Altersheim der reifen Mösen hatte man eine Natursektfabrik eröffnet.
„Finden Sie nicht auch, dass Pornos die ehrlichsten Liebesfilme sind?“
Sonja blickte über ihre Schulter. Der Mann, der am Tisch neben der Vitrine saß, den gewaltigen, cordsakkobespannten Rücken gegen die ächzende Lehne seines Stuhls gepresst, sah sie über den Rand eines Buches hinweg an.
„Schon möglich.“
„Liebe ist nichts weiter als ein sublimierter Trieb. Sozialisiertes und beherrschbar gemachtes sexuelles Verlangen.“
Sonja pulte am Etikett ihrer Bierflasche herum. Der Fremde hatte das Buch neben ein aufgeschlagenes Notizheft gelegt und wischte sich eine fettverklebte Haarsträhne aus dem Gesicht, die für einen Augeblick kerzengerade auf seinem Scheitel balancierte und dann langsam nach hinten kippte. Ein Grinsen hing zwischen Essensresten in dem wirren Bartgestrüpp, das sein dickliches Geicht bedeckte.
„Mir hat Ihr Auftritt gefallen“, sagte er. Seine Stimme klang abgewetzt und passte zu der Altkleiderkollektion, die er am Körper trug.
„Danke.“
„Wollen Sie sich nicht setzen?“
Sonja nippte an ihrem Bier. Sie unterhielt sich recht gerne mit Gästen. Insbesondere mit denen, die unattraktiv genug waren, um ihr nicht gefährlich zu werden. Sie vermutete, dass der Mann Schriftsteller war. Oder Dichter. Oder einfach jemand, der die stimulierende Atmosphäre einer Stripbar nutzen wollte, um Lesen und Schreiben zu lernen.
„Meinetwegen“, sagte sie schließlich und rückte den freien Stuhl vom Tisch ab.
„Ich sehe Ihnen gerne zu. Den Anderen natürlich auch. Aber Ihnen besonders.“
„Freut mich.“ Sonja stellte die Bierflasche neben den Aschenbecher. „Sind Sie oft hier?“
Der Fremde schob sich einen Fingernagel zwischen die Zähne und kaute darauf herum.
„Ständig“, sagte er schmatzend.
„Sie sind mir bis jetzt noch nicht aufgefallen.“
Die Hand des Fremden seilte sich an einem Speichelfaden zur Tischplatte ab.
„In den dunklen Ecken von schäbigen Bars nistet sich das wahre Leben ein“, nuschelte er.
„Das wahre Leben?“ Sonja schnaufte. „Das hier ist nur die andere Seite der selben Medaille. Allerdings die heruntergekommene Seite. Man sieht das billige Blech unter dem rissigen Blattgold.“
Der Fremde legte den Kopf schräg und musterte Sonja trübäugig. Eine Fettwulst zwängte sich zwischen Kragen und Schulter hindurch.
„Wie heißen Sie?“
„Monique.“
„Wie heißen sie wirklich?“
„Das ist unwichtig. Ich komme, um Monique zu werden und bleibe es, bis ich den Laden verlassen habe.“
„Ich verstehe.“
Der Fremde stierte auf seine Hand, die fingerbeinig über das Buch krabbelte wie eine Spinne.
„Was lesen Sie da?“
Der Mann sah auf und schob ihr den zerfledderten Einband hin.
„Morgue und andere Gedichte. Interessant“, sagte Sonja desinteressiert.
„Gottfried Benn hat den lyrischen Körper aufgeschnitten und darin keine Seele gefunden, sondern einen Klumpen blutiger Eingeweide.“
Sonja nickte. Eindeutig ein Dichter. Vermutlich einer von den Typen, die sich für Bukowski hielten, die in vollen Aschenbechern nach Wahrheiten suchten, die andere weggeworfen hatten und jammernd an einer selbst erdichteten Realität zerbrachen, zerbrechen wollten. Sonja war diesen Menschen, die wirkten, als hätte sie ein Klischee auf das Hier und Jetzt gedruckt, oft genug begegnet, um sie auf den ersten Blick erkennen zu können.
„Eingeweide werden unterschätzt“, sagte sie und leerte ihre Bierflasche.
„Das hier hab ich grade geschrieben. Es handelt von Ihnen. Ein poetisches Portrait.“ Der Fremde griff nach dem Heft, verdeckte damit sein Gesicht und fing an zu lesen, während Sonja seine gelbschwarzen Fingernägel betrachtete:
„Kontraktionsdurchkämmtes Haar
extensionsforciertes Follikelreißen
Synoviagleiten
Diaphorese
Stratum corneum
drüsenglänzend
Medulla spinalis
impulsbeseelt
inklinationsgekrümmt
Inspirationsgeschwängertes Abdomen
Respirationsfötus
exspirationsabgetrieben
Seneszenzherz
Blutfäden der Klotho
grabgezogen.“
Er ließ das Heft sinken, schnappte keuchend nach Luft und wischte sich den Schweiß von der pockennarbigen Stirn.
„Das ist ...“ Sonja suchte nach einem Euphemismus für furchtbar. „... sehr ungewöhnlich.“
„Verlogen.“
„Nein, ich finde wirklich, dass es ...“
„Ich meine das Gedicht.“ Der Fremde begrub das halbe Heft unter seiner fleischigen Pranke, löste die beschriebene Seite heraus und riss sie langsam in der Mitte durch. Sein feistes Geicht tauchte hinter dem bebenden Papier auf, füllte den wachsenden Spalt.
„Warum machen Sie das?“
„Weil es nicht ausreicht, den lyrischen Körper mit dem lyrischen Skalpell aufzuschneiden. Man muss ihn mit physischer Gewalt zerstören, dann erscheint hinter ihm die Wirklichkeit. Es gibt nur eine Wahrheit, die ein Gedicht verkünden kann.“ Er schob die beiden Seitenhälften übereinander, zerriss sie und ließ die Fetzen auf die Tischplatte rieseln. „Und das die Wahrheit, die in seiner Vernichtung liegt.“
„Sie schreiben Gedichte, um sie dann zu zerreißen?“
„Nicht mehr. Das war mein letztes.“ Der Fremde fegte die Fetzen mit einer schwerfälligen Bewegung vom Tisch. „Ich habe begriffen, dass Kunst, die sich mit dem Körper beschäftigt, immer versucht, vom Körper abzulenken. Der Körper in der Kunst hat nichts mit dem biologischen Körper zu tun. Er ist ein von der Idee des Künstlers beseelter Körper.“ Sein Gesicht wälzte sich nah an das von Sonja heran, schob eine massive Wand aus Schweiß und Mundgeruch vor sich her. Die wulstigen Lippen des Fremden bewegten sich stumm wie Würmer, sein huschender Blickt kündigte Flüstern an. „Wissen Sie, die Kunst ...“
„Ich weiß nur, dass der korrekte Umgang mit Wasser und Seife auch eine Kunst ist“, unterbrach ihn Sonja.
Der augenrollende Kopf des Fremden zog sich zurück.
„Natürlich. Körperpflege ist durchaus mit der Kunst vergleichbar. Sie ist der lächerliche Versuch, den Körper in ein Ideal aufzulösen.“
„Wenigstens stinken Ideale nicht.“
„Und genau das ist ihr Problem.“ Die Nase des Fremden hinterließ schimmernde Schlieren auf seinem schwarzen Sakkoärmel. „Die Kunst überhöht den Körper und damit den Tod. In Wirklichkeit ist das einzig tragische am Tod seine Banalität. Paradoxerweise sind es große Katastrophen, Kriege und Seuchen, die den Keim dieser Erkenntnis sähen. Wenn Millionen sterben, wird der Tod zur Massenware und verliert den bittersüßen Zauber des individuellen Schicksals.“ Der Fremde packte das Buch und schleuderte es in einen Mülleimer, der neben der Pornovitrine stand. „Die Kunst leugnet die Banalität.“
Sonja rutschte auf ihrem Stuhl herum. Das Gespräch wurde ihr von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Die Worte des Fremden, die nach seinem Atem stanken und wie verfaulte Fleischbrocken in ihr Gesicht klatschten, widerten sie an. Sonja beugte sich über ihre verkrampften Fäuste, die sie auf die Tischplatte geknallt hatte.
„Der Tod fasziniert sie, was?“, zischte sie.
„Sie nicht?“
„Nein.“
„Was war die Todesursache?“
„Was? Die Todes... Woher wissen Sie ...“
Der Fremde presste den Zeigefinger auf einen seiner Augenringe und ließ ihn seine Wange hinab gleiten. Sonja imitierte seine Geste und spürte Feuchtigkeit an ihrer Fingerkuppe. Sie wischte mit den Handballen über ihre Augen.
„Mein Beleid.“ Der Fremde lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. Sein Bauch verschlang die Tischkante. „Woran ist er oder sie oder es gestorben?“
„Das geht Sie nichts an.“
Der Fremde deutete ein träges Schulterzucken an.
„Wissen Sie, ich glaube, dass Todesursachen die Totentänze des medizinischen Zeitalters sind. Sie dienen ebenfalls dazu, den Tod greifbar zu machen. Er wird zu einer Krankheit, zu einer Fehlfunktion, die bekämpft werden kann und bekämpft werden muss. Er ...“
Sonja unterbrach ihn, indem sie aufstand und nach der leeren Bierflasche griff.
„Ich muss los“, sagte sie.
Der Fremde nickte und versteckte ein Lächeln in seinem Bart.
„Es tut mir leid, falls ich Sie mit meinem Geschwafel belästigt habe“, murmelte er. Seine Stimme hatte sich vor Sonja in den Staub geworfen. „Würden Sie mir einen Gefallen tun, bevor Sie gehen?“
Sonja seufzte und scharrte mit den Füßen.
„Kommt ganz darauf an.“
„Schließen Sie Ihre Augen.“
„Warum?“
„Schließen Sie Ihre Augen. Bitte.“
Sonja trat zwei Schritte zurück und presste die Lider aufeinander.
„Und jetzt halten Sie den Atem an.“
„Was?“
Sonja öffnete ihre Augen und stieß mit dem Rücken gegen die Vitrine. Der Fremde war aufgestanden und stand schwankend vor dem Tisch.
„Nun machen sie schon“, schnaufte er.
*
Die Nacht klebte wie Teer zwischen Bäumen, von denen ein kondensierter Regentag tropfte, beraubte den Park seiner wirklichen Grenzen und verlängerte ihn in die romantische Utopie hinein. Altersschwache Sterne glimmten am Himmel, Wolkenfetzen trieben auf den Mond zu, auf den blassen Voyeur, der hinter dem Erdschatten hervorlugte und beobachtete, wie Sonja über den feuchten Rasen schlich, die steifen Schritte auf die Ballen verlagert.
Sie wusste nicht, warum sie gekommen war. Ihr Verstand hockte noch immer vor dem Telefon, vor dem auch ihr Körper gesessen hatte, die Absage im Mund wie geschmackloses Kaugummi und Heinrichs Nummer in den Fingern, bis es zu spät gewesen war, dann war sie aufgestanden, hatte sich angezogen und die Wohnung verlassen. Und jetzt schlurfte sie nassfüßig durch einen Park, der unwirklicher und ferner schien, als die Stadt, die hier lediglich ein warmes Brummen hinter dem Rauschen der Blätter war.
Sonja blieb stehen und lehnte sich gegen einen der Bäume, die in unregelmäßigen Abständen gepflanzt waren, Natürlichkeit simulierten. Sie hatte Heinrich entdeckt. Er saß auf einer Bank am Rande des laternengesäumten Kieswegs, der ihn nicht beiläufig zu streifen, sondern gradewegs zu ihm zu führen schien, als wäre er das verdammte Zentrum dieses gottverlassenen Parks.
Sonja riss sich vom Baum los, stakste zur Bank und legte Heinrich ihre Hand auf die Schulter. Er zuckte leicht, sah zu ihr auf und lächelte.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du kommst.“
„Ich auch nicht“, sagte Sonja und setzte sich neben den stiftbeschwerten Schreibblock, den Heinrich auf den Holzbalken gelegt hatte. „So spät noch am Arbeiten?“
„Für das Seminar morgen.“ Heinrich lachte, als er Sonjas Blick sah. „Ich brauch den Druck halt. Nichts ist motivierender, als ein Termin, der hinter deinem Rücken steht und dir ne Knarre ins Genick drückt.“
„Welches Thema?“, fragte Sonja und griff nach dem Block.
„Ruf des Todes. Ne Lithografie von Kollwitz.“
„Kenn ich.“ Sonja senkte ihren Blick auf den Block und las vor: „Eine knochige Menschenhand berührt die abgebildete Frau sanft, fast zärtlich, an der Schulter, penetriert ihre Einsamkeit, reißt sie aus sich selbst heraus. Sie wendet überrascht den Kopf, die Augen noch geschlossen, die Denkerfaust vom Gesicht gelöst. Gleich wird sie die Lider heben, den Anderen ansehen und ihren eigenen Tod in seinen schreckensgeweiteten Augen erkennen.
Hier wird nicht der biologische Tod personifiziert, sondern das Verhältnis zu ihm, das sich durch den Anderen radikal verändert. Der eigene Tod ist kein Bestandteil des Lebens, sondern seine Grenze. Doch durch den Anderen überschreitet man diese Grenze und erblickt jenseits von ihr ein Fegefeuer, das Trauer heißt und zuckende Schatten auf die verketteten Leben wirft.
Durch den Anderen wird der Tod als Zustand denkbar. Nur wer für-andere gewesen ist, kann auch ein Abwesender sein und ist als solcher anwesend.“
Sonja klappte den Block zu und legte ihn zwischen sich und Heinrich auf die Bank.
„Und trotzdem willst du dich mit mir treffen?“, fragte sie.
„Natürlich.“ Heinrich klang verwirrt. „Was hat das denn mit uns zu tun?“
Sonja steckte die Hände in ihre Taschen und rutschte mit dem Hintern der Bankklippe entgegen. Sie hörte schnaufende Joggerschritte hinter sich, die schwerfällig näher kamen, roch Schweiß, sie hörte, wie Heinrich aufschrie, keuchte, sie stemmte die Hände auf die Sitzfläche, wollte aufstehen und ...
*
Warum sollte ich ein Motiv haben? hatte ihr der Fremde geantwortet und war die schmale Treppe heraufgestiegen, um ein schärferes Messer zu holen.
Sonja bewegte ihren Oberkörper, versuchte erfolglos, die Seile, mit denen sie am Stuhl festgebunden war, zu lockern. Ein hölzernes Quietschen verriet ihr, dass Heinrich einen ähnlichen Plan verfolgte, ein resigniertes Stöhnen, dass auch er gescheitert war. Sein Hinterkopf stieß gegen den ihren, verweilte einen rasselnden Atemzug lang, dann löste sich die kurze Berührung in Seufzen auf.
Sonja blickte in den zerkratzten Spiegel, der über einer Werkbank hing und ihre Büsten im Profil zeigte. Heinrich hatte das Kinn gegen die Brust gepresst und die Augen geschlossen. Das Morgenlicht, das durch das schmale Kellerfenster fiel, kalkte seine Haut.
Er sah so schwach aus, wie sie sich fühlte; zu schwach, um zu schreien. Aber da der Fremde es nicht für nötig gehalten hatte, sie zu knebeln, vermutete sie, dass es sowieso sinnlos gewesen wäre.
Sonja ließ ihren Blick aus dem Spiegel fallen und verfolgte die Schleifspuren aus Gummiabrieb, die Schuhsohlen auf dem Linoleum hinterlassen hatten, bis zu ihren Füßen. Sie glaubte nicht, dass der Keller dem Fremden gehörte. Er war zu sauber, zu aufgeräumt. Sie hob den Kopf. In der Ecke unter dem Fenster standen Schaufel, Putzeimer und Wischmopp, aus einem Körbchen hingen schlaffe Seilreste und auf der Werkbank lag die ungeworfene Münze. Sonja hatte sich für Kopf entschieden und Heinrich Zahl aufgedrängt. Einer von beiden würde ...
Sonja hörte die schweren Schritte des Fremden auf den Stufen. Sie drehte ihren schmerzenden Kopf, sah wieder in den Spiegel, in den auch Heinrich blickte. Sie betrachtete ihr blasses Gesicht, das schattenlos in der Morgensonne leuchtete und spürte, dass Heinrich beobachtete, wie sie sich beobachtete, drängte seinen Blick in seine Augen zurück und beobachtete, wie er sich beobachtete.
Sonja tastete nach Heinrichs Hand und schob ihre Finger zwischen seine Finger, obwohl sie wusste, dass die Wärme dieser Berührung Kälte in sich trug. Die Stufen der Kellertreppe ächzten.
„Man sollte ein Gedicht über uns schreiben“, flüsterte Heinrich.
„Oder eine Geschichte.“ Sonja lächelte.
Aus dem Augenwinkel sah sie einen Schatten über den Kellerboden fließen. Der Fremde hatte die letzte Stufe erreicht.